Felix Dahn
Julian der Abtrünnige
Felix Dahn

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Viertes Kapitel

An den Iden des Mai des Jahres dreihunderteinundsechzig überschritt Julian in der Tat mit seiner Hauptmacht bei Basel den Rhein, zog, von den eingeschüchterten Alemannen nicht belästigt, durch den Schwarzwald nach Rottweil (Arae Flaviae), dann auf dem nördlichen Ufer der Donau hinab auf Passau und Wien. Er flog in Eilmärschen dahin, als gehe es sofort dem Feind entgegen!

Als oberhalb Wiens eine Stelle erreicht war, wo der Strom sicher zu befahren schien, schiffte er sich auf hier vorgefundenen Kähnen mit Serapion und dreitausend Mann ein, während er etwa zwanzigtausend unter Jovian auf der Heerstraße nach Sirmium (heute Sirmisch oder Mitrowitz) folgen ließ.

Er ward auf der Fahrt wenig bemerkt, da er, gewähltere Speise nicht verlangend, mit der Kost seiner Krieger zufrieden, die Städte und Kastelle am Ufer nicht aufsuchte, sondern, weit ausbeugend, nach Kräften vermied. Die finstre Nacht, der abnehmende Mond begünstigten die Heimlichkeit. »So schoß er mit Blitzesschnelle wie ein feuriger Pfeil seinem Schicksalsziele zu«, schrieb bald darauf der wackere Ammianus Marcellinus.

Schon am Abend des elften Tages erreichte er Bononia (jetzt Bonostar), nur sieben Stunden oberhalb von Sirmium. Seinem Sterne vertrauend, beschloß er einen Handstreich auf diese starke Feste, obwohl seine Hauptmacht weit zurück war. Noch in derselben Nacht sandte er eine rasche Schar germanischer Reiter unter Sigiboto dem Friesen voraus, die verwegen in die Stadt eindrangen, den Feldherrn des Constantius, den trotzigen Lucilianus, in seinem Bett zum Gefangenen machten und Julian zuführten.

Mit Staunen entdeckte der Überraschte die geringe Zahl der Angreifer. Da ihm Julian gestattete, nach römischer Sitte seinen Purpur zu küssen, fühlte er sich seines Lebens sicher und sprach hochfahrend: »Allzuverwegen, Unvorsichtiger, wagst du dich mit so schwachen Kräften in solche Gefahren.«

»Spare deine Warnung für Constantius«, erwiderte Julian. »Überließ ich dir den Saum meines Purpurs, wollte ich dir dadurch nur die Angst nehmen, nicht, dich zu meinem Ratgeber ernennen. Und du siehst sie eben nicht, die ungezählten Helfer, die über meinem Haupt in den Lüften schweben. Auf, allzumal, zu Pferd! Aurora findet uns bereits in Sirmium.«

Und wirklich gelang der tollkühne Streich! Sowie sich die kleine Schar der weitgestreckten Vorstadt näherte, öffneten sich die Tore der Festung. Besatzung und Bürgerschaft zogen entgegen mit Fackeln, Kränzen und Blumengewinden und begrüßten Julian als Augustus. »Noch ist kein Tropfen Blutes geflossen«, jubelte der, »und schon ist die Hauptstadt von Pannonien mein.«

Und dies unerhörte Glück blieb ihm treu. Nun zeigte sich, wie bitter verhaßt die Regierung des Constantius und seiner Eunuchen gewesen war: Überall empfing man Julian »wie ein glückbringend Gestirn«.

Auf die bloße Nachricht von seiner Annäherung flohen die beiden Konsuln dieses Jahres, der Präfectus Prätorio Taurus und der Präfekt von Gallien, jener Florentius, den freilich das böse Gewissen scheuchen mochte, ohne an Widerstand zu denken, mit stets gewechselten Postpferden Hals über Kopf über die Julischen Alpen auf und davon nach Italien. Aber auch aus Italien, aus Rom, flüchteten diese zur Verteidigung Berufenen, sobald die erste Heerschar Julians den Po überschritten hatte. Rom und ganz Italien, sogar Sizilien, fiel widerstandslos dem kühnen Angreifer zu; eine Wiedererhebung in seinem Rücken, in Aquileja, ward bald unterdrückt.

Julian selbst eilte unaufhaltsam weiter. Von Sirmium aus, wo er das Eintreffen seiner Hauptmacht erwartete, zog er gen Süden, bemächtigte sich durch den weit nach Osten vorausgeschickten kühnen Franken Nevitta der wichtigen Pässe von Succi an der Grenze Niedermösiens und Thrakiens (jetzt Serbiens und Rumeliens, zwischen Sofia und Philippopel) zwischen Hämus (Balkan) und Rhodopegebirge (heute Despotodag), von wo er einerseits Dakien, andererseits Thrakien überschaute. Die Bewachung dieser wichtigen Stellung vertraute er jenem Franken, dem hierbei eine hübsche Kriegslist glückte. Den einzigen Weg zu der schwer zugänglichen Paßhöhe von Succi sperrte vollständig das Castellum des Mars Defensor; der Befehlshaber schickte eine Kohorte der Besatzung – isaurische Söldner in deren eigenartiger Waffentracht: Spitzhelme, Langschilde, Beile statt der Speere – auf Kundschaft gegen die andringenden Vorscharen aus. Nevitta überraschte diese unvorsichtigen Späher in ihrem Nachtlager so völlig, daß sie sich ohne Widerstand ergaben. Er steckte nun sich und zweihundert seiner Germanen in die isaurischen Waffen, zog, im noch halbdunkeln Morgendämmern, vor die Tore des Kastells, Einlaß verlangend und sichere Nachricht von dem Feind verheißend. Er ward ohne Bedenken eingelassen, und das Kastell und der wichtige Paß waren ohne Blutvergießen gewonnen. Von da flog Julian vorwärts, südlich nach Naissus (Nissaz in Serbien). Erst hier machte er Halt, um, vor weiterem Vordringen nach Thrakien in den Osten hinein, Erkundigungen über den Gegner einzuziehen, von dem man nur wirre, widerstreitende Gerüchte vernommen hatte.

Eines Abends lud hier der Imperator die beiden Freunde, Jovian, den er zum Magister Militum ernannt, und Serapio, der jedes römische Amt abgelehnt hatte, in sein Gemach. Sie fanden ihn in freudigster Stimmung.

»Hast du schon wieder, ohne das Schwert zu ziehen, eine Feste gewonnen?« fragte Serapio. »Zwei!« lachte Julianus. »Ich habe zwei Briefe geschrieben, die mehr wert sind als zwei Siege.« – »Was für Briefe?« fragte Serapio. »Zwei Rechtfertigungsschreiben . . .« – »Das war allerdings schwer«, sprach Jovian ernsthaft. »Nach seinen bisherigen Erfolgen«, lächelte Serapio, »ist es schon erheblich leichter geworden. Und ist erst Constantius vernichtet, dann wird es so leicht sein, daß es gar nicht mehr nötig ist.« – »Spötter! Ich sage dir: Dieser Brief da an die Bürger meiner geliebten Stadt Athen wird noch bewundert werden, wenn mancher meiner Siege vergessen ist. Da, lest. Oder nein, ich werde euch vorlesen. Das bringt die Feinheiten besser zur Geltung.« Als er zu Ende war, sprachen beide Hörer ihren Beifall aus.

»Das ist gut«, meinte Jovianus bedächtig, »ohne Schonung der Gegner, aber auch ohne Schmähung – wahrheitsgetreu.« – »Ruhig und maßvoll«, schloß Serapio. Ungeduldig warf Julian den Papyrus fort. »Ach, ihr Toren! Nicht um den Inhalt handelt es sich mir. Zumeist doch um die Form. Und die ist . . . nun, ein Meisterstück.«

Jovian sprach: »Mir ist es um den Inhalt, um deine Rechtfertigung.« Heftig entgegnete der Briefschreiber: »Unleidlich! Du siehst ja doch jeden Tag an meinen Erfolgen, daß die Götter mir beistehen! Wie könnte ich im Unrecht sein?«

Serapio erwiderte kopfschüttelnd: »Wie gefährlich ist doch auch dein Aberglaube! Nicht minder als der der Christen. Hast du bei Straßburg gesiegt, weil du im Rechte warst? Nein, durch deine klug gesparten Verstärkungen und durch des guten Chnodomar Verranntheit und blindes Vertrauen auf seinen Aberglauben.«

»Freund«, meinte Julian, »über all diese Fragen müssen wir einmal grunderschöpfend verhandeln. Jetzt hört meinen zweiten Erlaß, den an den Senat zu Rom.« Und er begann vorzulesen; im Verlauf ward er immer rascher, hastiger, heftiger, leidenschaftlicher. Seine Augen funkelten, seine Nasenflügel zuckten, seine Worte überstürzten sich; am Schluß außer Atem sprang er auf und rief: »Nun, ist das nicht herrlich? Hab ich's ihnen nicht beiden tüchtig gegeben, Constantius und auch dem großen Constantin?« – »Schicke das nicht nach Rom, ich bitte dich«, sprach Jovian. »Und warum nicht?« fragte der Verletzte gereizt. »Es sind Wendungen darin, deren sich Libanius selbst berühmen dürfte!« – »Es ist eine Wendung darin, die sehr mißfällt. Denn du wendest dich darin ab vom Recht und ins Unrecht. Statt dich zu rechtfertigen . . .«

Julian biß die Zähne zusammen.

»Spielst du nicht nur den Ankläger – nein, auch gleich den Richter deines Feindes. Laß doch das Urteil über euch beide dem Senat, der Mitwelt, der Nachwelt!« – »Und du, Serapio, du schweigst. Was denkst du?« fragte der Verstimmte. »Ich denke, wie ungerecht dein Vorwurf gegen Constantius ist.« – »Wie? Der, daß er massenhaft Barbaren, zumal auch Germanen, in alle höchsten Ämter des Staates für Krieg und Verwaltung eingeschoben hat?« – »O Julian, und was tust du? Gallien hast du Dagalaif dem Salier und Gomo dem Uferfranken anvertraut, hier den Paß von Succi – deine wichtigste Stellung – dem Chamaven Nevitta als Magister Equitum, der Alemanne Agilo und Immo der Juthunge haben dir Aquileja wieder erobert, der Markomanne Garizo, Sigiboto der Friese, Ekkard der Quade sind ganz wie Hippokrenikos zu Tribuni deiner Leibwächter befördert, und daß ich nicht auch Magister Equitum bin, ist nicht dein Verdienst. Constantin hat uns sowenig freiwillig gerufen wie du. Wir sind euch schon längst unentbehrlich in Krieg und Frieden. Darüber würde ich nachdenken, wäre ich Imperator dieses Reiches, nicht darüber, ob Helios im siebenten oder im neunten Himmel wohnt. Solange ihr stark genug wart, unsere Kräfte für euch zu verbrauchen, ohne den Staat auf uns zu bauen, solange ihr uns verrömern konntet, war es ein ganz schlaues Geschäft; tausend Germanen, die ihr an der Grenze aufnahmt in euren Dienst, waren tausend Feinde weniger und tausend Schirmer mehr. Aber seid ihr dazu noch stark genug?«

»Jawohl! Und werden's ewig bleiben.«

»Dieser Hochmut wenigstens, diese Verblendung – mögen sie euch bleiben! Aber freilich, auch wenn ihr die Gefahr erkennen würdet, ihr könnt gar nicht mehr anders handeln. Nur deshalb deck ich sie dir auf.« Unwillig fuhr Julian auf: »Also glaubst du wirklich, das Römerreich wird jemals euch Germanen unterliegen?« Der Gefragte zuckte die Achseln: »Das, o Freund, würden nur die Götter wissen, wenn es welche gäbe. Verdient hättet ihr's wirklich schon lang. Aber – und damit stehen wir wieder am Anfang dieses Gesprächs – nicht Recht und Tugend entscheiden den Ausgang solcher Kämpfe.« – »Sondern was . . .?« forschte Jovian. – »Sondern eine von uns unübersehbare Vielheit von weit zurückliegenden großen und kleinen Ursachen, die wir alle zusammenfassen in dem abkürzenden Ausdruck: die Notwendigkeit.« – »Das ist trostlos«, meinte Jovian. »Gottlos ist es!« schalt Julianus.

»Wenigstens götterlos. Aber lassen wir's für heute. Eure Ausrufe zeigen, ihr seid noch immer nicht hart genug gehämmert durch das Leben und nicht furchtlos genug gegenüber der unerbittlichen Wahrheit, um meine Sätze zu ertragen. Kommt, es ist schwül in dem engen Gemach. Und Freund Julians Schläfen glühen, teils vor Vaterfreuden an seinen Briefen, teils vor Unwillen gegen mich. Komm noch hinaus in die kühle Nachtluft. Es wird dir guttun!«

»Ja«, sprach Julian, sich erhebend, »gehen wir! Wandeln wir durch die Gassen des Lagers vor der Stadt, wieder einmal unerkannt die Gespräche der Leute am Wachfeuer zu belauschen.«

»Er weiß, sie loben ihn meist«, meinte Jovian, sich ebenfalls verhüllend. »Nur deshalb tut er's ja«, lächelte Serapio, beiden folgend. Da wandte sich Julian rasch um und reichte ihm die Hand: »Nun ja, es ist wahr, ich höre mich gern loben. Aber sprich, kann ich nicht auch herbe Wahrheit ertragen?« – »Ja, Freund Julian, denn du bist nicht kleinen Geistes. Sonst wär ich nicht hier«, antwortete der Germane, fest die gebotene Rechte drückend.

 


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