Felix Dahn
Julian der Abtrünnige
Felix Dahn

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Siebzehntes Kapitel

Der Nordgau der Bataver stellte ungefähr elfhundert Speere; außer diesen hatte sich eine Gefolgschaft von achtzig Helmen um den jungen Königssohn geschart, der sie beritten gemacht und auch vielen seiner Heerbannleute Rosse geschenkt hatte. So verfügte er über beinahe dreihundert Reiter, neben etwa neunhundert Fußkämpfern. Sofort nach seinem Abschied von den Königen, noch in der Nacht, zog er mit seiner kleinen Schar aus dem laut lärmenden Lager gen Nordwesten.

Es war die letzte Nacht des Vollmonds; am nächsten Tage trat der Neumond ein. Der Jüngling atmete auf, sowie er aus dem tosenden Lager und dessen ungleichen Beleuchtungen – bald rotes Reisigfeuer, unter weißem Qualme grell vorbrechend, daneben die dunklen Schatten der Zweighütten – herausgeritten war in die feierlich schweigende Stille des weiten Blachfeldes, gleichmäßig übergossen von dem bleichen geisterhaften Licht des Mondes.

Weit voraus ritt der Königssohn die Legionenstraße gegen Zabern zu. Er war in tiefes Sinnen verloren. »Wie viele hab ich schon ihre Weisheit auskramen hören über jenes bleiche Gestirn! Unsere weisen Frauen, keltische Druidinnen, die Priester der Selene, christliche Kirchengelehrte, chaldäische, ägyptische Sternkundige! Wie viele Lehrsätze oder Märchen! Jeder glaubt an seinen Lieblingswahn. Und noch wohl ihm, glaubt er an einen solchen!

Wahrheit aber? ›Was ist Wahrheit?‹ fragte jener vielgescholtene Pilatus. Und doch: Ich weiß noch heute keine klügere Frage. Wahrheit ist aber, daß ich hier reite, mein gut Rößlein unter mir, den raschen Rappen, mein gut Schwert an der Seite. Wahrheit ist, daß ich es heiß liebe, dies törichte, verblendete, undankbare Volk der Franken. Wahrheit ist, daß uns der Römer ans Leben will. Und Wahrheit endlich, daß sich darüber alles in mir aufbäumt: Liebe und Haß und Stolz und Trotz. Und daß mein ganzer Mensch dagegen schreit: ›Nein, Römer, du sollst nicht – solang ich atme!‹ Das ist Wahrheit. Und das ist mir genug. Hui drauf!« Und er gab dem Gaul den Sporn und trabte schärfer an.

Nach Mitternacht, gegen Sonnenaufgang, schien der Westwind das Gewölk zusammenballen zu wollen; aber der von der lechzenden Erde erwartete Regen blieb aus. Wohl zuckte es unaufhörlich in der Ferne, im Nordwesten, dort, wo Zabern lag; aber nur ein einziger roter Blitz ward, kurz vor Tagesanbruch, begleitet von einem mächtigen, weit durch die Himmel hinrollenden Donner, der sich des grollenden Mahnens nicht ersättigen zu können schien, so lang war er zu hören.

»Habt ihr's gehört?« sprachen die Reiter des Königssohns untereinander. »Das bedeutet was, nicht, o Herr?« fragte ihn der Jüngste des Gefolges, näher an den Führer heranreitend. »Es bedeutet was, wenn Vater Donar redet. Nicht?« Merowech zuckte die Achseln. »Leider redet er so undeutlich. Hast du verstanden, was er sagen wollte?«

»Nein. Aber etwas muß es doch bedeuten, wenn es donnert?« – »Gewiß. Daß es geblitzt hat. – Halt, siehst du! Bald wär dein Pferd gestolpert über diese Wegwurzel, fiel ich ihm nicht in den Zügel und riß es auf. Siehst du, jung Friedibert, das kommt davon! Achte auf deinen Weg auf Erden, nicht auf das, was hoch über dir am Himmel umher lärmt.«

 

Alsbald ging sie in glühenden Morgenwolken hinter ihm auf, die Sonne des siebzehnten August, blutigrote Strahlen werfend auf das Lager der Alemannen da unten in der Niederung gegen den Rhein.

Unwillkürlich kamen bei dem Anblick des leuchtend auftauchenden Sonnenballs dem germanischen Schüler der griechischen Poesie ein paar griechische Verse aus einem jüngeren mystischen Dichter:

»O Helios« (sprach er vor sich hin), »du unbesiegter Sonnengott,
So rein, so fleckenlos gehst heut du wieder auf!
Was magst du alles schauen müssen heute noch?
Was mag dein letzter Strahl erspäh'n, wann du sinkst?
Vielleicht auch mich, o unbesiegter Sonnengott,
Siehst du mit dir hinunter zu den Schatten gehn.«

»Horch«, flüsterte einer der nächsten Reiter Friedibert zu. »Der Herr singt Zauberlieder – gewiß Siegessprüche – der Sonne entgegen.« – »Mag sein. Er hat daheim in der Halle Rollen mit krausen Runen; daraus liest er zuweilen. Das klingt dann ähnlich. Aber sonst hält er nicht viel auf Zauber. Ich hab ihn auch noch nie opfern sehn.«

 

Das vollreife Getreide wogte, die schweren Ähren senkend, im Morgenwind, auf den Feldern zu beiden Seiten der breiten Legionenstraße. Leichte gerippte Morgenwolken zogen von West nach Ost, zartrosa überhaucht; aus einzelnen fernen Gehöften stieg kräuselnd der Rauch. Und die Lerche hob sich trillernd aus dem taufeuchten Korn. Sie war so feierlich, die Landschaft im Morgenlicht!

Merowech befahl nun seinen Reitern, ihm in scharfem Trab zu folgen, und dem Fußvolk, so rasch als tunlich nachzurücken. Einen seltsamen Gegensatz zu der friedlichen Stimmung des Gefildes und der Stunde bildete die waffenblitzende Reiterschar, die da rasselnd, klappernd und klirrend dahinsprengte, die Gefolgschaft, lauter erlesene Leute, in bester Ausrüstung dicht hinter dem Gefolgsherrn. Der gleißte nicht in glänzender Waffenpracht, seine eherne dunkle Sturmhaube zierte kein Helmschmuck. Zwei mächtige Rabenflügel, die ihm der Vater beim Abschied daraufgesteckt, hatte er gleich nach dem Abreiten abgelegt. »Ich bin mir mein eigner Wodan«, sprach er dabei. Das lang wallende dunkelblonde Königshaar der Merowinger rollte ihm auf die jugendlichen Schultern. Die glanzlose, vortrefflich gearbeitete Brünne von spanischem Erz war ein Beutestück aus dem Lager Barbatios. Darunter hervor reichte das blaue Wollwams bis an die Knie; der leichte runde Reiterschild wies auf dem Buckel die merowingische Hausmarke, die Rune M über dem aus dem Meer sich hebenden Drachen.

Den Speer trug er über den Rücken geschnallt an einem Lederriemen, denn er brauchte jetzt die Rechte; er las, sobald sie bei steigendem Weg aus dem Trab in Schritt übergingen. Er forschte in einer halbverbrannten römischen Straßenkarte, die er in der Asche Straßburgs gefunden.

»Kein Zweifel«, sagte er zu sich selbst. »Hier muß er kommen. Ohne Straße, querfeldein, durch Korn und Gestrüpp und Sumpf zieht kein Römerheer. Wenn es nicht muß. Zwei Legionenstraßen hat er zur Verfügung. Die längere, fast siebenundzwanzig römische Meilen, etwa elf Stunden, über Brumat in weitem Ausholen nach Ost. Dann diese kürzere, einundzwanzig römische Meilen, nur wenig mehr als acht Stunden, geradewegs von Nordwest nach Südost. Er muß diese hier wählen. Auf jener würde er Gefahr laufen, von uns in der Flanke gefaßt, von seinem einzigen Rückhalt – Zabern – abgeschnitten zu werden. Also hier ihm entgegen! Und dem Gelände abgewonnen, was sich von Vorteilen noch etwa gewinnen läßt. Ich erinnere mich einer Stelle, dort, hinter der Wasserleitung nach Straßburg . . .«

Er pfiff hell; da folgte ihm lustig, wie er wieder antrabte, die ganze Schar. Bald war der Musaubach erreicht, den die Legionenstraße in einem Hochbau überschritt. Hier ließ er halten, schickte Boten seinem Fußvolk entgegen und andere bis in das Lager zurück, die dringend zum eilenden Anmarsch treiben sollten. Er selbst flog mit wenigen Begleitern die Höhe hinan, die heute Hürtigheim trägt.

Von hier war die Straße nach Zabern, zuerst in ihrer Senkung, dann in ihrem Anstieg bis Küttolsheim, etwa eine Meile weit deutlich zu überschauen. Nichts konnte von Zabern her hier unbemerkt herankommen. Nach längerer Umschau befahl er Friedibert und vier anderen seiner Bestberittenen, hier zu halten, scharf auszuspähen und das erste Auftauchen des Feindes eiligst zu melden. »Ich selbst«, sprach er zu den Spähern, »ich jage zurück zu dem Herzog, ihm zu raten, wie er da unten, hinter uns, die Scharen verteilen möge. Denn da unten, in jenem Gelände« – er deutete weit mit dem Speere – »wird die Schlacht gewonnen oder verloren.«

 


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