Walther von der Vogelweide
Gedichte
Walther von der Vogelweide

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Sittenverfall

L. 90. Ane liep sô manic leit

   Ohne Lust so manches Leid,
Wer ertrüge das wohl länger noch?
Wärs nicht Unbescheidenheit,
Rief ich: »Holla, Glück – komm näher doch!«
         Ach, Frau Fortuna bleibt mir fern,
         Und keinen Menschen sucht sie gern,
         Der Treue hält:
         Ists so, was wird sodann aus mir in aller Welt?

   Weh, welch dürftiger Gewinn
Täglich meinem Blick vorüberfährt?
Daß ich so verachtet bin
Doch in Sitten, und mirs keiner wehrt!
         Ja, mit den guten alten Sitten
         Ist man allorts jetzt schlecht gelitten,
         Denn Ehr und Gut
         Hat heute leider nur, wer Böses liebt und tut!

  An der Männer Unrecht sind
Frauen schuld – das ist nun leider so!
Als ihr Herz noch hochgesinnt,
War die Welt um ihretwillen froh.
         Wie gut von ihnen sprach man da,
         Als man sie wohlgesittet sah –
         Nun kann man schauen,
         Daß Unrecht Liebe nur erwirbt bei allen Frauen.

   Komm ich zu den Frauen hin,
Hab ich über nichts so große Klage,
Als: daß ich je züchtger bin,
Ich mir desto minder Gunst erjage.
         Sie lästern alle guten Brauch,
         Doch gibts verständge Frauen auch:
         Die mein ich nicht –
         Die schämen sich, wenn man von schlechten Frauen spricht!

   Reines Weib und guter Mann,
Alle solche sollen selig sein!
Wo ich denen dienen kann.
Tu ichs gern, daß sie gedenken mein.
         Doch dieses sag ich unbeirrt,
         Sofern die Welt nicht besser wird,
         So will ich leben
         So gut ich kann und mich des Singens ganz begeben!


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