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DRITTES KAPITEL.

DIE ERSTE NACHT IM FORSTHAUSE.

Es dunkelte schon, als die Gäste des Försters dessen Wohnung verließen. Die Gräfin hatte zuvor noch ein längeres Zwiegespräch mit Hildegarde, die ihre Wohlthäterin ungern scheiden sah. Sie schwamm in Thränen, als der Wagen in den dunkelnden, kalten Abend hineinrollte und der Vater, mit dem sie bereits unterwegs durch Diana’s und des Abbé Vermittelung ihren Frieden gemacht hatte, sie wieder ins Haus führte. Mit Kathrine hatte Hildegarde in dieser ganzen Zeit noch kein Wort gewechselt. Sie würde die Tante wohl angeredet haben, wenn sich nur ein Anknüpfungspunkt zu einem Gespräch in Gegenwart der Fremden, denen sie allen tief verpflichtet war, hätte finden lassen. Dies war aber schon deshalb unmöglich, weil Kathrine mit Absicht jeder Gelegenheit dazu auswich. Sie war, solange die Gräfin und ihre Begleiter im Forsthause weilten, nur sorgsame Hausfrau. Für irgend etwas anderes zeigte sie entschieden keinen Sinn, und so oft die Gräfin oder der Abbé den Versuch machten, sie in ein Gespräch zu ziehen, kreuzte Kathrine mit der stehenden Redensart: »Bitte um Entschuldigung, die Pflicht ruft mich!« die leicht erkennbare Absicht, und verließ eiligst die Tafel.

Im ganzen Forsthause gab es zu einem schicklichen Aufenthalte für Hildegarde kein anderes Zimmer als das, wo Cornelie gestorben war, und welches Kathrine nach dem Tode ihrer Schwägerin zum Putz- und Staatszimmer eingerichtet hatte. Hier sollte denn auch die Tochter des Hauses nach ihren Irrfahrten einziehen, der Ort selbst konnte für gut gewählt gelten; denn in diesem Zimmer sprach die Vergangenheit zu dem empfänglichen Herzen des jungen Mädchens mit gar wunderbaren Stimmen. Seit Hildegarde Abschied genommen vom Vaterhause, war alles ganz anders geworden. Die größte Veränderung war durch die Erfahrungen, in deren schmerzhafte Umarmungen sich das ungestüm handelnde Kind kopfüber stürzte, mit ihr selbst vorgegangen, und es ließ sich voraussehen, daß nach der hinter ihr liegenden Vergangenheit Hildegarde von wesentlich andern Empfindungen und Gedanken bewegt werden würde, als die waren, denen sie sich früher leichtsinnig hingab.

In dieses Gemach, wo auch das Himmelbett Corneliens, nur mit andern Gardinen umzogen, stand, sonst aber fast alles in seiner frühern Verfassung geblieben war, geleitete der Förster unmittelbar nach der Abreise seiner Gäste die Tochter.

Andreas Frei war zu bewegt, um sich noch einmal mit Hildegarde in eine längere Unterredung einzulassen.

Diese betrat das Sterbezimmer ihrer Mutter bewegt und schüchtern. Sie dankte im stillen dem ernsten, alt gewordenen Vater, daß er sie so schone. Dieses Dankgefühl gab sie ihm durch eine stürmische Umarmung zu erkennen, die sie jedoch nur ein paar Secunden lang am Halse des Vaters festhielt.

»Sobald du dich eingewöhnt hast, mein Kind, und wenn ich gerade geschäftsfrei bin,« sprach Andreas, »magst du mir hier erzählen. Du findest alles, was du früher gern suchtest: hier Bücher, da Musikalien und dort im Bureau Papier zum Zeichnen nebst Bleistiften und schwarzer Kreide. Ein Reißbret habe ich dir auch machen lassen. Es steht dort zwischen dem Ofen und der Bettstelle. Und nun, liebe Tochter, ruhe dich aus und verdringe die erste Nacht im Forsthause nach so langer und banger Abwesenheit in sanftem Schlafe!«

Andreas ging, seine Tochter sich selbst überlassend.

Hildegarde mochte gern allein sein, dennoch aber floh sie die Ruhe. Zwischen dem heutigen Tage und der Vergangenheit, welche sich in diesem Zimmer vor ihrem Geiste spiegelte, gähnte ein furchtbarer Abgrund, aus dem ein Knäuel wirrer Gestalten auftauchte, von denen kaum eine ihr Vertrauen einflößte.

Die letzten Monate hatten Hildegarde sehr verändert. Sie war nicht mehr so voll wie früher, dafür aber ungleich zarter. Der Zauber verschämter Jungfräulichkeit verband sich in ihren glänzend großen Augen mit einem bänglichen Gefühl von Schuld, und beides zusammen stimmte sie ernst, ohne doch den anmuthigen Zug ungeborener jugendlicher Heiterkeit in ihrem lieblichem Gesicht zu verwischen. So ähnelte sie einem gefallenen, im Falle aber geretteten und wieder zu Gnaden angenommenen Engel.

Eine Zeit lang blieb Hildegarde regungslos, mit schlaff herabhängenden Armen mitten im Zimmer stehen und starrte in die Flamme des Lichts, das zwischen aufgeschlagenen Büchern und einigen Zeichnungen, die sie noch bei Lebzeiten der Mutter vollendet hatte, leicht flackernd brannte. Dann ging sie gesenkten Hauptes zum Bett, ließ sich auf ihre Knie nieder und betete leise. In die weich gelispelten Worte ihres Gebets fielen heiße Thränen, die dem Andenken ihrer verstorbenen Mutter galten. Der Kopf sank Hildegarde müde auf das Bett, ohne daß ein Hang zum Schlafe sie beschlich. Sie betete, weinte und dachte wahrscheinlich lange; denn zuletzt schmerzten sie die Knie. Es war dunkel geworden, da der verlängerte Docht die Flamme des Lichts stark verdüsterte. Mit einem leichten Anfluge von Furcht richtete sich Hildegarde wieder auf, indem sie aber ihr Gesicht von dem Bette abwandte, wäre sie beinahe mit lautem Aufschrei zusammengebrochen. Zum Glück erfaßte sie eine Säule des Himmelbettes, an der sie sich aufrecht hielt. Darauf ließ sie sich, von den wallenden Gardinen halb verschleiert, in die weichen Kissen des Bettes niedergleiten.

Ihr gegenüber, ganz wie in jener schrecklichen Nacht, welche ihr die Mutter geraubt hatte, trat jetzt die Tante ins Zimmer, dieselbe Messinglampe und den Hausschlüssel tragend. Selbst die Kleidung Kathrinens war die nämliche, ihr von den Pocken zerfetztes Gesicht aber war viel hagerer und härter geworden, und ihre Augen, die sie durchbohrend auf die Nichte geheftet hielt, mußte Hildegarde mit Eis verschleierten Sternen vergleichen.

Das Herz sagte der Heimgekehrten, daß die Tante in keiner guten Absicht zu ihr komme. Gewiß hatte sie gewartet, bis ihr Vater sich in sein Zimmer verschloß. Nun war sie alleinige Gebieterin im Hause und niemand konnte ihr wehren, zu thun und zu lassen, was sie wollte.

Hildegarde machte sich selbst Vorwürfe, daß sie in ihrer schmerzlichen Zerstreuung die Thür abzuschließen vergessen hatte. Jetzt war sie machtlos und was die harte Tante ihr Hartes, vielleicht grausam ihr Herz Zerfleischendes zu sagen entschlossen war, mußte sie ruhig über sich ergehen lassen.

Da Kathrine ihre Nichte nicht sogleich gewahrte, blieb sie unschlüssig an der Thür stehen. Dann lenkten sich ihre Augen unwillkürlich nach dem Bett, dessen leichtbewegte Gardinen das bleiche Antlitz Hildegardens wie ein weicher Rahmen umgaben.

Sie hob die Lampe höher, legte den Hausschlüssel auf den Tisch und klopfte dann einigemal mit ihrem knöchernen Finger gegen das Holz.

»Komm her, Hildegarde!« sprach sie gebieterisch. »Es wird Zeit, daß du mir endlich vernehmlich guten Tag oder gute Nacht sagst. Jetzt brauchst du dich vor den fremden, vornehmen Leuten nicht mehr zu schämen, denn wir sind und bleiben allein.«

Rückwärts greifend, drehte Kathrine den Schlüssel um. Hildegarde blickte die Tante unverwandt an.

»Bist du taub oder schläfst du?« fuhr diese fort, da die Erschrockene noch keine Silbe erwidert hatte. »Verstellung dulde ich nicht, und wenn deine Füße zu schwach sind, dich zu tragen, so kommt’s mir nicht drauf an, dir noch ein paar Schritte weiter entgegenzugehen.«

Hildegarde stand jäh auf, näherte sich aber der verhaßten Tante nicht.

»Sei sanft und lieb, Tante!« sprach sie leise, mehr klagend als bittend.

»Gerecht will und werde ich sein,« lautete Kathrinens Antwort, die ihrer Nichte bereits gegenüberstand, »vorher aber demüthige dich und leiste Abbitte!«

»Ich entsinne mich nicht, dich mit Willen beleidigt zu haben; weshalb soll ich Abbitte thun?«

»So – so! – die Mamsell also erinnert sich nicht? ... Sieh, sieh! ... Da muß mein altes, aber gutes Gedächtniß deinem jungen, aber schlechten wohl zu Hülfe kommen! ... Nun zu verwundern ist’s freilich nicht. Wer Haut und Haare mehr pflegt als Kopf und Herz, dem geht’s Licht im Gehirn beizeiten aus! ... Ist schon recht: lange Haare, kurze Gedanken! – Konnte mir nie passiren!«

Spott und Hohn verzerrten die zerrissenen Züge Kathrinens bis zur abschreckenden Häßlichkeit. Hildegarde lauschte lange mit halboffenem Munde den Expectorationen der Tante.

»Deinem Vater hast du namenlosen Kummer gemacht durch deine schlechte Aufführung,« fuhr Kathrine fort, »und mich hast du blamirt und in böses Gerede gebracht bei allen gemeinen Leuten durch deine verruchte Flucht aus dem Hause eines hochachtbaren Mannes. Wer ein glattes Gesicht, das aussieht wie Milch und Blut, lieber hat als ein kummerdurchfurchtes, der rief mir heimlich Schimpfworte nach, und schalt mich einen Hausteufel – Jawohl, die Narren! Sitte und Ehrbarkeit ist allen schlechten Menschen ein Dorn im Auge, und wenn das erfahrene Alter ein junges dummes Ding tüchtig zurecht setzt, wie sich’s gehört, und sich an Heulen und Greinen nicht kehrt, wird es von allem Lumpenpack, dem Sitte und Ehrbarkeit stets ein Scheuel und Greuel bleiben, vermaledeit! ... Sag’ an: hab’ ich recht oder bediene ich dich mit Lügen? Antwort verlange ich, und zwar genügende, sonst geige ich an der Baßsaite weiter!«

Hildegarde streckte der Schmollenden ihre zarte, tadellos geformte Hand entgegen.

»Laß uns das Vergangene vergessen,« sprach sie bewegt, »es ist nicht gut, alte Geschichten immer von neuem wiederzuerzählen, und wenn ich dich beleidigt habe, so vergib mir! Ich war jung und handelte unüberlegt, böse meinte ich es nicht.«

Kathrine berührte die dargebotene Hand ihrer schönen Nichte mit keinem Finger. Wäre diese Hand weniger zart, weiß und ebenmäßig geformt gewesen, dann würde sie es wahrscheinlich gethan haben.

»Ich fürchte diese zuckergebackenen Faulheitsfingerchen zu hart anzupacken, wenn ich sie mit meiner an Arbeit gewöhnten schwieligen Hand umfasse,« versetzte sie mit widerlichem Grinsen. »Darum verschone mich mit dieser Zumuthung. Auf die Knie, widerspenstige, verlaufene Dirne, die von Rechts wegen den Staubbesen verdient hätte, den nur leider Gottes unsere weichherzige, verdorbene Zeit abgeschafft hat, damit sich alle Sünden breiter machen können, auf die Knie, sag’ ich, und Abbitte gethan, sonst will ich nichts von dir wissen, und werde dich nie zu Gnaden annehmen!«

Kathrine sah entsetzlich aus. Wer sie und ihre Art und Weise nicht kannte, würde versucht worden sein, sie für eine ihren Wärterinnen entsprungene Wahnsinnige zu halten. Die großen, tiefliegenden Augen rollten in unheimlichem Feuer; unter dem bunten Tuche, mit dem sie das hagere Haupt und die runzelvolle Stirn umwunden hatte, hingen ungekämmte Büschel ihres kurzen, grauen Haars, und die festgeballte Faust schwebte drohend über dem schönen Kopfe der etwas gebeugt vor ihr stehenden Nichte.

Ihre Knie beugte Hildegarde zwar nicht, aber sie sagte mit mehr Ergebenheit, als selbst Kathrine erwartet hatte:

»Nimm es für geschehen an, Tante. Wenn du glaubst, du könnest mich so schwerer Dinge beschuldigen, will ich dir nicht widersprechen, denn ich weiß, daß ich oft unrecht gethan habe. Nur das Knien erlasse mir. Ich demüthige mich nicht vor fehlerhaften Menschen.«

Die Blicke Hildegardens, welche bei den letzten Worten ihr Haupt erhob, begegneten denen der Tante. Beide sahen einander unverwandt an. Einige Augenblicke war das Gesicht Kathrinens regungslos, hart, unversöhnlich, bald aber ward es etwas milder.

»Bereust du deine Schlechtigkeiten?« rief sie der Nichte zu.

»Ich bereue aufrichtig meine Verirrungen, Tante.«

»Wenn Gott seine Hand nicht über deinen Vater gehalten hätte, wäre er zum Verbrecher geworden!«

»Gott wolle ihn ferner schützen und leiten, den unglücklichen Vater! Ihn führte die Angst irre wie mich!«

Hildegarde faltete die Hände und sah die Tante mild und versöhnlich an.

»Wie dich?« wiederholte Kathrine. »Dumme, närrische Einbildungen! ... Vor was konntest du Angst haben!«

»Vor dir und deiner mir angedrohten Erziehung, Tante!« versetzte Hildegarde, die Hände noch zusammengefaltet Kathrine entgegen streckend; »vor des armen Vaters kalter Schweigsamkeit, vor der Einsamkeit in der Dechanei! ... O, ich sehe es jetzt ja ein, daß ich verblendet war, daß ich dem Vater, dir und noch vielen andern braven Menschen sehr weh gethan habe, aber schlimm meinte ich es doch nicht! ... Ich war gereizt, eingebildet, betrogen! ... «

»Du gereizt?« erwiderte Kathrine. »Von wem? Wodurch?«

Hildegardens Auge ruhte fest auf dem Antlitz der Tante.

»Von dir,« sprach sie mit ruhiger Stimme. »Durch das Böse, das du meiner seligen Mutter viele Jahre lang mit Willen und Wissen zugefügt hast! ... Ich will nicht mit dir rechten, Tante, dich nicht jetzt verklagen, aber wenn ich dir Abbitte thun soll, weil ich oft deine Wünsche nicht berücksichtigte, weil ich dir eigensinnig widerstrebte, so mußt du zuvor meine selige Mutter um Verzeihung bitten, weil du schuld bist an ihrem Tode!«

Eine solche Wendung des Gesprächs, nach dem sie seit Wochen schmachtete, hatte Kathrine nicht erwartet. Der Erinnerung an Cornelie suchte sie gern zu entfliehen, namentlich seit sie sich nicht mehr so stark fühlte, daß sie alle Eindrücke durch ihre Willenskraft überwältigen konnte. Der Einwurf, die Beschuldigung Hildegardens traf sie mit furchtbarer Wucht, und zwar um so gewaltiger, als sie sich ja selbst nicht völlig freisprechen konnte von der Schuld, deren sie die jetzt direct von ihr gereizte Nichte gerade zu beschuldigte. Der feste Blick, die im ganzen bescheidene Haltung Hildegardens und die schreckliche Wahrheit, welche in den Worten derselben lag, entwaffneten Kathrine. Sie ward so bestürzt, daß sie vergebens nach Fassung rang, und als sie hinter Hildegarde die Bettvorhänge sich bewegen sah, gaukelte auch das Bild der Verstorbenen vor ihren entsetzten Augen. Die Lampe entglitt ihrer bebenden Hand, daß das Licht im überströmenden Oel erlosch. Beide Hände gegen die nicht weniger erschrockene Nichte ausstreckend, flüsterte sie dieser zu:

»Geh’ zur Ruhe! ... Ich will für dich beten! ... «

Dann erfaßte sie die Lehne des nächsten für sie erreichbaren Stuhls und ließ sich, matt aufathmend, darauf nieder.

Hildegarde fühlte Mitleid mit ihrer Verwandten. Der eigenen Schmerzen gedenkend, die sie noch lange nicht überwunden hatte, vermochte sie die Schwäche Kathrinens nicht egoistisch für sich allein auszubeuten. Nur eine Regung freudiger Genugthuung versuchte sie nicht zu unterdrücken. Es lag ein Trost für Hildegarde in der Erkenntniß, daß ihre Tante trotz der zur Schau getragenen Reinheit ihrer Seele doch auch von Gewissensscrupeln beunruhigt werde. Dieses Wissen gab ihr eine Waffe in die Hand, mit der sie sich leicht und mit Erfolg gegen alle fernern Angriffe vertheidigen konnte, welche Kathrine etwa noch auf sie zu machen geneigt sein möchte. Vor einer Person, die sich ihrer Fehler und Sünden bewußt war, wenn sie dies auch vor andern verheimlichte, brauchte sich die reuige Hildegarde nicht mehr zu fürchten.

Die Stärke dieses Bewußtseins gab ihr Muth. Entschlossen erfaßte sie die Hand der noch immer Erschöpften, unter der gegen sie geschleuderten schweren Beschuldigung Seufzenden, und ehe Kathrine es ahnte, lag ihre Nichte vor ihr auf den Knien.

»Vergib mir, Tante,« sprach Hildegarde, »ich habe dir schon vergeben! Der Geist meiner Mutter, der auf uns herabblickt, wird uns beide segnen und die Bekümmernisse von uns nehmen, unter denen wir leiden!. . . Stoße mich nicht von dir, Tante! ... Ich kann nicht mit dir unter einem Dache leben, wenn du mir nach dieser Bitte nicht Verzeihung gewährst, sondern mir, wie früher, deine Liebe entziehst! ... Bedenke, was du thust, Tante! ... In die wilde, böse Welt, der mich die milde Hand der Liebe entrissen hat, stößt du mich wieder hinaus, und wahrlich, auch ein Bote Gottes, ein Sendling des Himmels würde mich nicht zum zweiten mal bewegen, in dieses Unglückshaus zurückzukehren!«

Es lag eine Leidenschaftlichkeit und Entschlossenheit in Hildegardens ganzem Wesen, daß die wieder ruhig gewordene Kathrine kaum zweifeln konnte, die Nichte werde ihre Drohung wahr machen. Dennoch wollte sie sich nicht zu einer übereilten Verpflichtung, die sie später vielleicht bereuen konnte, fortreißen lassen. Ein Mädchen von Hildegardens Energie, das ahnte die Tante, konnte ihr dereinst gefährlich werden. Sich wieder aufrichtend, sagte sie einlenkend:

»Geh zur Ruhe, Kind! ... Wir bedürfen ihrer beide ... Morgen mehr davon.«

Ein schneller Griff brachte Hildegarde in den Besitz des Hausschlüssels.

»Zur Ruhe will ich gehen,« gab sie in noch viel entschlossenerm Tone zur Antwort, »nicht aber hier, sondern

– im Kloster! ... Zurück, Tante! Du hältst mich nicht, es sei denn, du folgest dem Beispiele, das ich dir gegeben habe!«

Hildegarde hatte sich den Hausschlüssel angeeignet und das hellfunkelnde Auge, die halboffenen Lippen, die glühenden Wangen, die wogende Brust überzeugten Kathrine von dem festen Willen ihrer Nichte. Sie abzuhalten von ihrem Vorhaben, blieb der Tante nur ein Act der Gewalt, der jedenfalls eine heftige Scene herbeigeführt und wahrscheinlich ihr den gerechten Zorn ihres Bruders zugezogen hätte, oder kluges Nachgeben übrig. Kathrine entschloß sich zu letzterm. Indern sie Hildegarde ihre Hand reichte, sprach sie:

»Laß ab, Kind, und schenke mir von heut’ an deine Liebe! Ich vergebe dir, was du mir früher Uebels gethan hast!«

Sie breitete ihre Arme aus und schloß Hildegarde an ihre Brust. Das schöne Mädchen bebte zusammen unter dem Kuß der Tante, es widersetzte sich aber weder Kuß noch Umarmung.

Einige Minuten später ging Kathrine, den wiedereroberten Hausschlüssel fester denn je umklammernd, in ihre Kammer. Auf ihren farblosen Zügen war aber weder Liebe noch Versöhnung zu lesen.


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