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DREIZEHNTES KAPITEL.

ZWEI BRIEFE EINES KINDES.

»Hier! Ein Brief für dich!« sprach Kathrine in mürrischem Tone, indem sie ihrem Bruder den Brief Hildegardens einhändigte, der während des Försters Abwesenheit im Forsthause abgegeben worden war. Das kurze, barsche Wesen der Schwester fiel diesem auf, denn seit Hildegardens Weggange war sie in ihrer Art umgänglicher gewesen denn je.

»Fehlt dir etwas?« fragte Andreas, den Brief in Empfang nehmend.

»Behüte!« versetzte Kathrine. »Mich ärgert’s blos, daß so ein Mädel bei Leuten, die doch vernünftig sein wollen, Zeit hat, noch lange Briefe zu schmieren! Es ist ein ganzes Buch, und Stunden sind über dem Gekritzel verloren gegangen! Ewig schade, daß das eingebildete Ding nicht unter meinem Commando steht. Ich wollte sie zurecht setzen, daß sie die Engel von früh bis nachts singen hörte!«

Andreas ging kopfschüttelnd von dannen. Kathrine, einmal zum Sprechen gekommen, redete sich gewöhnlich immer tiefer in ihren Aerger hinein, und es war vorauszusehen, daß der Bruder einige derbe Wahrheiten, wie die resolute Schwester sie gern an den Mann brachte, zu hören bekam. Sie ließ ihrer Zunge noch immer freien Lauf, als der Bruder schon die Thür seines Zimmers hinter sich verschlossen hatte. Letzteres brachte sie noch mehr auf.

»Du kannst die Thür sperrangelweit offen stehen lassen,« rief sie ihm nach, »vor mir bist du sicher! Ich danke Gott, daß er mich mit der Pönitenz verschont, dem in sich selbst vergafften Gänschen tagtäglich in ihr hochmüthiges Lärvchen sehen zu müssen. – Es wird doch nichts aus ihr, doch nichts! – Ich weiß es, ich wette drauf, und mit einem Eide will ich’s bekräftigen! – Brief schreibende Mädel sind nun einmal meine Antipathie! –«

Kathrine schleuderte die Holzpantoffeln, in denen sie gewöhnlich im Hause herumklapperte, von den Füßen und huschte die eben gescheuerte und deshalb mit grauen groben Tüchern belegte Treppe in Strümpfen nach dem obern Gestock, wo sich unter hastigem Oeffnen und Zuschlagen verschiedener Thüren das Gezänk der Entrüsteten nach einiger Zeit verlor.

Inzwischen hatte der Förster den Brief seiner Tochter erbrochen. Andreas machte sich Vorwürfe nach Durchlesung der ersten Zeilen, in denen Hildegarde ihr Bedauern über das lange Ausbleiben des Vaters aussprach.

»Das Kind hat Ursache sich zu beklagen,« sagte er seufzend, »und dennoch kann ich es nicht ändern. Thue ich ja doch alles nur für sie! O, wenn es ihr dereinst Glück und Segen bringen möchte!«

Er las weiter und seine Aufmerksamkeit ward von Hildegardens Mittheilungen mehr und mehr in Anspruch genommen. Der Vater freute sich doch über sein kluges Kind, das sich schriftlich so gewandt ausdrücken konnte. Einen solchen Brief, so gut stilisirt, so mannichfach in seinen Wendungen, hätte er selbst wohl kaum zu Stande gebracht. Wie nahmen sich dagegen die Zettel seiner Schwester aus, deren er in frühern Jahren mehrere erhalten hatte! Sie waren meistens auf durchschlagendes Papier geschrieben, ohne Interpunktion und in einer Orthographie, die ihrer Kühnheit wegen Staunen erregen konnte. Und dabei hatte Kathrine nie unterlassen, die Bemerkung einzuschalten, daß sie eigentlich gar keine Zeit habe, so lange die Feder zu handhaben. Aber das komme von den vielen Fragen der Mannsleute her, die sich niemals selber zu rathen und zu helfen wüßten!

Die Ueberzeugung, Bildung sei doch auch etwas werth, drängte sich beim Lesen des Briefes seiner Tochter dem Förster dergestalt auf, daß er sich fast glücklich fühlte in dem Gedanken, sein Kind sei doch ganz anders geartet als ihre unbequeme und so äußerst unliebenswürdige Tante. Nur daß er selbst so wenig diese Bildung der Tochter genießen, sie bisweilen nicht einmal richtig zu würdigen vermöge, beängstigte ihn wieder. Er hatte eigentlich kein Recht, Hildegarden etwas zu untersagen; denn er wußte selten genau, ob er sich dabei nicht eine Blöße geben könne. Nichts aber ist peinlicher für einen Vater, als wenn er sich von den eigenen Kindern im Wissen wie im Urtheilen überflügelt sieht. Und dies war eigentlich der Hauptgrund, weshalb Andreas Frei, nun er die Tochter gut aufgehoben wußte, die Dechanei nicht mehr besuchte.

Hildegarde schrieb sehr heiter, und es freute den Förster, daß sie mit soviel Sinnigkeit eine nur leichthin geworfene Aeußerung des Domdechanten ergriff, um dem würdigen Herrn eine frohe Ueberraschung zu bereiten. Andreas war sogleich entschlossen, die nöthigen Einleitungen zu treffen, damit der Baron ja nicht versäume, den Prälaten einzuladen. Am Schlusse ihres sehr ausführlichen Schreibens, das noch mancherlei Abschweifungen enthielt, bat Hildegarde um Uebersendung einiger Bücher und um die Mappe, in welcher Cornelie ihre Federzeichnungen und Skizzen aufbewahrte. Der Domdechant interessire sich dafür, fügte sie hinzu, und sie habe ihm versprochen, sich diese lieben Andenken an die verstorbene Mutter schicken zu lassen.

Der Förster wollte diesem Gesuche ungesäumt willfahren. Er hörte zwar, daß Kathrine mit Tellern klapperte und ihr Schlüsselbund heftig schüttelte, was immer ein Zeichen großer Ungeduld war, für ihn aber auch zugleich eine Einladung zu Tische bedeuten sollte.

»Laß sie brummen!« dachte Andreas. »Verdrießlich ist sie doch einmal und kann ich ihr so wie so nichts zu Danke machen. Erst also die Mappe hervorgesucht und dann dem Tischrufe genügt!«

Heiterer als gewöhnlich betrat der Förster das frühere Wohnzimmer seiner verstorbenen Frau. Es ward seit Hildegardens Abreise immer verschlossen gehalten und höchstens alle vierzehn Tage einmal von Kathrine, dann jedoch stets auf Socken, nie mit profanen Schuhen, betreten, damit der wenige Staub, der sich auf Mobilien, Fenstern und Spiegeln ansetzte, mittels eines dazu bestimmten feinen seidenen Tuchs entfernt werde. Der Förster hatte kein Bedürfniß, dies Zimmer zu besuchen; nur den Schlüssel dazu behielt er sich, um nicht die Schwester darum angehen zu müssen, die nie einen Schlüssel aus der Hand gab, ohne vorher ein wahres Kreuzverhör mit dem, der ihn forderte, anzustellen.

Die Ordnung in diesem Zimmer, dem schönsten und wohnlichsten im alten Forsthause, war eine ganz andere geworden. Kathrine wollte das Andenken der beiden Individuen, die ihr stets ein Dorn im Auge gewesen waren, auch in Aeußerlichkeiten verwischen, und darum hatte sie nicht nur die Mobilien umgestellt, sondern auch alles das, was Cornelie bei Lebzeiten und später ihrer Tochter vorzugsweise am Herzen lag, ganz aus dem Zimmer entfernt. Es gab jetzt kein Reißbret mehr darin, keinen Bücherbord, keine Staffelei. Nur der große Secretär, welcher die Zeichnungen, feinen Stickereien und sonstige Sachen der Verstorbenen barg, stand noch an derselben Stelle.

Diesen Secretär öffnete jetzt der Förster und entnahm demselben die Mappe. Da er den lärmenden Schlüsselbund der Schwester schon wieder hörte und nicht wünschte, daß sie ihm begegne – er hatte nämlich in der Eile die Jagdstiefeln anbehalten, die nicht ganz sauber waren – so schlich er behutsam auf den Zehen wieder aus dem gewissermaßen verbotenen Raume, schloß ebenso behutsam die Thür zu und trug die Mappe nach seinem Zimmer, wo er sie in dem Gewehrschranke verwahrte. Da war sie sicher, das wußte Andreas; denn bei aller Entschlossenheit hatte Kathrine doch große Angst vor Gewehren, mochten sie geladen sein oder nicht, weshalb sie denn auch den Bruder selten in seinem Zimmer störte. Dem Gewehrschranke aber kam sie nie auf mehr als zwei Schritte nahe.

Ueber Tische war die Unterhaltung der Geschwister sehr abrupt. Der Förster blieb merkwürdig ruhig und antwortete kaum auf directe Fragen der Schwester. Kathrine ihrerseits hätte den Inhalt des Briefes ihrer Nichte gern kennen gelernt, aber Andreas ließ sich nicht darüber aus. Mit den Worten: »Es sind Angelegenheiten, die mich ganz allein betreffen,« wies er die Schwester zur Ruhe. Dies veranlaßte Kathrine, das Feld noch vor Beendigung der Mahlzeit zu räumen, was sie nur that, um den Bruder zu ärgern, der es nicht leiden konnte, daß jemand früher, als üblich und schicklich war, vom Tische ging. Aber auch diesen Trotz belächelte heute der Förster, ohne ein Wort darüber zu verlieren.

Bei Lebzeiten seiner Frau hatte Andreas nur selten einmal einen Blick auf Corneliens Arbeiten geworfen. Es war dies Nichtbeachten derselben keine Abneigung gegen diese, sondern bloßer Mangel an Verständniß. Cornelie konnte sein Urtheil über ihre Leistungen zu hören wünschen, und er war nicht im Stande, ein solches abzugeben. So kam es, daß Andreas nicht wußte, was die Verstorbene während ihres Lebens geschaffen, was sie ihm oder Hildegarde an künstlerischen Versuchen hinterlassen hatte.

Jetzt, wo ihn niemand sah, niemand ihn fragen konnte, wagte der Förster, die Mappe zu öffnen. Ein Gefühl der Sehnsucht und Wehmuth überfiel ihn, als er die saubern, feinen Blätter einzeln betrachtete. Er begegnete manchem bekannten Gegenstande, den er auf den ersten Blick erkannte. Da standen die drei alten Buchen, unter deren grünem Schatten er im ersten Jahre seiner Ehe, wo er sich namenlos glücklich fühlte, oft mit Cornelie geruht hatte. Hier das umgesunkene, von Gräsern fast ganz überwucherte Kreuz am Waldwege, der über die Grenze führte, erkannte er ebenfalls. Noch heute pflegte er sich bisweilen darauf niederzulassen und seine Büchse zu laden, ehe er in das Dickicht trat. Denn diese Strecke Wegs war unheimlich und galt für unsicher. Man hatte wohl schon vor einem Jahrhundert das Steinkreuz dem Andenken eines Fremden gewidmet, den man hier von räuberischen Händen erschlagen fand. Und wie treu, wie natürlich hob sich auf diesem Blatte der malerische Hieronymusfels aus dem Gebüsch! Der Förster betrachtete es länger als die übrigen Zeichnungen, und blätterte dann weiter. Da fiel ihm ein beschriebenes Blatt in die Hände. An den Schriftzügen sah Andreas, daß es von Hildegarde herrühre. Wie aber hatte dies Blatt sich unter die Zeichnungen seiner verstorbenen Frau verirrt?

Er nahm es auf und las in der Schrift. Dann wandte er das Blatt um, und erkannte staunend, daß es ein Brief der Tochter an die Baronin von Kaltenstein war. Das darauf bemerkte Datum sagte ihm gleichzeitig, daß Hildegarde diesen Brief nach dem Tode ihrer Mutter an die Baronin geschrieben hatte. Dem Vater war es doch wohl gestattet, die Mittheilungen einzusehen, welche die unmündige Tochter ohne sein Wissen einer Dame machte, über deren Charakter sein Urtheil feststand, wenn er es auch niemals offen gegen irgendjemand aussprach. Der Förster las also den Brief.

Er brauchte geraume Zeit zu dieser Lectüre, denn es schwirrte ihm dabei vor den Augen. Das Blut stieg dem Weidmann, der sich als Mensch nicht überhob und mit seinen Tugenden sich gegen niemand brüstete, dergestalt zu Kopfe, daß er wirklich nicht gut sehen konnte. War denn das eine und dieselbe Person, welche diesen Brief und den andern, den er noch bei sich trug und eben mit einigen herzlichen Zeilen beantworten wollte, geschrieben hatte?

So traurig, so niedergeschlagen, so in tiefster Seele unglücklich war Förster Frei noch niemals gewesen. Der Tod Corneliens erschütterte den starken Mann, dieser Brief seiner Tochter warf ihn zu Boden. Da stand es ja mit klaren Worten geschrieben, daß Hildegarden das Vaterhaus ein Aufenthalt sei, wo sie sich grenzenlos langweile, wo ihr nichts gefalle, wo alles sie anwidere!

»Mit wem soll ich armes Kind mich unterhalten!« schrieb die herzlose Tochter an die fremde Frau, deren Vergangenheit nur wenigen bekannt war. »Mit Tante Kathrine, die mich mit Katzenaugen ansieht und mir am liebsten vergiftete Spinnen in den Nacken setzte? Oder mit meinem Vater, der mich ebenso wenig begreift, wie er die gute Mutter begriffen hat? – Nein, beste, süßeste Freundin, ich kann und will hier nicht bleiben! Ich würde den Verstand verlieren oder Hand an mich legen – oder in schlechten Gedanken zu Grunde gehen, wenn Sie sich meiner nicht erbarmen! Ja, in schlechten Gedanken, ich wiederhole es! Schon fühle ich, daß sie Besitz von mir nehmen und den Himmel meiner Seele mit dunkelm Gewölk überziehen!«

Auf diese Herzensergießung folgte eine Schilderung des Lebens im Forsthause, deren Richtigkeit der unglückliche Vater leider nicht bestreiten konnte, und daran schloß sich die Versicherung Hildegardens, sie wolle der gnädigen Frau Ehre machen, und immer freundlich blicken und sprechen, um den Vater nicht durch Widerspruch zu reizen. Endlich machte sie der Baronin den Vorschlag, sie möge, sobald dieses Schreiben in ihre Hände gelangt sei, irgendeinen Plan ersinnen, der sie in die Nähe des Forsthauses führe, und ihr die Zeit, wann dies geschehen werde, durch einen zuverlässigen Boten – vielleicht durch den jungen Herrn Baron – hatte Hildegarde in Parenthese beigefügt, wissen lassen. Dann werde sie ihrerseits nicht lässig sein, sondern sich zu ihr flüchten. Einmal im Schutze der Baronin, besitze ihr Vater weder Macht noch Mittel, sich wirksam dem Geschehenen zu widersetzen, und selbst, wenn er dieselben besäße, würde er sie schwerlich anwenden.

Andreas war wie vom Schlage getroffen. Das ungeheuerste Unglück hätte ihn nicht mit solchem Schmerz wie diese Entdeckung erfüllen können. Sein von Natur argloses Herz schrak zusammen vor dieser kaum zu ergründenden Kinderseele, die er freilich persönlich nie gepflegt, die er zu verstehen, vor trübenden Einflüssen zu bewahren, sich nie die geringste Mühe gegeben hatte.

Während ihm Thränen des Kummers über die Entartung seines einzigen Kindes in die Augen stürzten, folterten ihn die schrecklichsten Gewissensbisse. Auf ihn ganz allein fiel ja doch die Schuld der traurigen Verwahrlosung Hildegardens zurück, weil er nicht achtend es geschehen ließ, daß das begabte, für jeden Eindruck empfängliche Mädchen von frühester Jugend auf Ansichten einsaugen durfte, die ihrem Charakter eine schiefe Richtung geben mußten. Konnte er es vor dem Richterstuhle Gottes verantworten, wenn dieser am Tage der Prüfung und Vergeltung Rechenschaft von ihm verlangte über eine Seele, deren Heranbildung ihm die Vorsehung anvertraut hatte, und die infolge sündhafter Nachlässigkeit des Vaters vielleicht der Welt und dem Himmel zugleich verloren ging?

In der ersten Bestürzung tastete der beklagenswerthe Mann wie ein Blinder im unbegrenzten Raume der Gedankenwelt umher, ob er nicht irgendwo einen Halt für sein Handeln finden könne. Sollte er zürnend vor sein Kind hintreten und mit strafenden Worten der Tochter vorhalten, wie schwer sie sich gegen ihn, gegen ihre selige Mutter, gegen Gott selbst vergangen habe? Oder sollte er schweigen, beobachten und so, Liebe und Zärtlichkeit heuchelnd, Hildegardens verborgenste Gedanken zu erforschen suchen? Der letzte Weg schien dem Förster, wenn nicht der bessere, doch der sicherere zu Erlangung eines bestimmten Resultats zu sein; denn war Hildegarde überhaupt zu bessern, woran man bei der großen Jugend des Mädchens doch nicht zweifeln durfte, so konnte nur gewinnendes Vertrauen ihr Herz erschließen. Vorwürfe und Drohungen würden sie ganz verstockt gemacht und zur vollendeten Heuchlerin ausgebildet haben.

Auch bemächtigte sich ein Gedanke schlimmsten Argwohns des gequälten Vaters. Der eben erhaltene Brief Hildegardens konnte einen geheimen Zweck haben, den er nicht zu errathen vermochte. Gerade der schmeichelnde Ton des ganzen Schreibens deutete daraufhin. Es war alles Heuchelei, alles erkünstelte Liebe!

Was aber wünschte Hildegarde zu erreichen?

Der Förster konnte trotz langen Nachdenkens doch nur Vermuthungen aufstellen.

Noch blieb ihm übrig, den Brief gar nicht zu beantworten, seinen Inhalt nicht zu beachten. Vielleicht wäre dies am rathsamsten gewesen. Fragte dann Hildegarde nach ein paar Tagen wieder an, so ließ Kathrine sich als Unterschlägerin des eingegangenen Schreibens vorschieben. Die Tante war zu einer solchen Willkürhandlung ganz angethan, denn sie haßte die gelehrte Nichte und war jedenfalls mit deren Schreiben nicht einverstanden.

Des Försters angeborene Geradheit brachte ihn jedoch bald wieder zurück von diesem Gedanken. Er beschloß, der eigenen Tochter gegenüber ein ehrliches Verfahren einzuhalten, um die Schuld, von der er gedrückt ward, nicht noch zu vergrößern. Er brauchte sich ja nur an den empfangenen Brief zu halten, den früher geschriebenen und ganz zufällig entdeckten zu ignoriren. That er dies, so mußte seine Antwort freundlich und zusagend lauten.

Andreas hielt nach längerm Nachsinnen diesen Weg für den zweckmäßigsten. Aber er nahm sich vor, bei dem nächsten Zusammentreffen mit dem Domdechanten diesen über Hildegardens Verhalten auszuforschen und ihm sodann, gleichviel wie des geistlichen Herrn Antwort immer lauten möge, die beiden so entsetzlich verschiedenen Briefe seiner Tochter vorzulegen. Von der meisterhaften Verstellungskunst des jungen Mädchens mußte nothwendig der Mann in Kenntniß gesetzt werden, in dessen Hause und unter dessen geistiger Aufsicht und Leitung das im Aelternhause bei der ersten Erziehung Versäumte nachgeholt werden sollte. Die bekannte Milde des Domdechanten entdeckte dann wohl einen Ausweg, um Hildegarde zur Einsicht ihrer Fehler und zur Erkenntniß ihres schweren Unrechts zu bringen.

Mit blutendem Herzen beantwortete Andreas in diesem Sinne den Brief seiner Tochter. Der Angstschweiß brach ihm während dieser für ihn qualvollen Arbeit aus. Glücklich damit zu Stande gekommen, rief er den Burschen, übergab ihm Brief und Mappe, und sendete ihn mit den freundlichsten Grüßen nach der Dechanei.

Kathrine erfuhr nichts von der traurigen Entdeckung ihres Bruders.


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