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FÜNFZEHNTES KAPITEL.

AM ALLERHEILIGENTAGE.

Auf dem geräumigen Platze vor der Dechanei versammelte sich schon früh am Morgen des Allerheiligentags eine bedeutende Menge Menschen. Es waren dies großentheils Zuwanderer aus den nächsten nach Mariendorf eingepfarrten Ortschaften, welche der kirchlichen Feierlichkeit beiwohnen wollten. Gewöhnlich hielt an diesem Tage der Domdechant in eigener Person das Hochamt. Es gab außerdem eine große Musikaufführung und durch die düstern Hallen des alten Kreuzgangs bewegte sich eine lange Procession nach dem wunderthätigen Marienbilde, das man vor langen Jahren an diesem Tage aufgefunden hatte. Dieses ungewohnte Schauspiel lockte auch viele Nichtkatholiken zu dem kirchlichen Feste, und da man die milde Leutseligkeit des Domdechanten weit und breit kannte, der es gern sah, wenn auch Andersgläubige Einsicht gewönnen in die ergreifenden Ceremonien des katholischen Ritus, so wehrte man keinem, der Procession sich anzuschließen.

Leider war das Wetter überaus schlecht geworden. Es stürmte heftig und über den Bergwall, durch Waldthäler und felsige Schluchten rollten Schnee- und Regenwolken nach den breitern Thalsohlen, in denen die großen, betriebsamen Ortschaften an Bächen und Weihern lagerten. Diese unfreundliche Witterung hielt manche entfernter Wohnende zurück.

Auch Förster Frei blieb aus, obwohl er für den Fall, daß kein Hinderniß dazwischenkomme, der Festlichkeit beizuwohnen versprochen hatte.

Hildegarde war neugierig aufgeregt. Der Domdechant schien diese Verwandlung seiner Pflegebefohlenen nicht zu bemerken; vielleicht auch erblickte er darin nur das Ergriffensein eines weichen, für ungewöhnliche Eindrücke leicht empfänglichen weiblichen Herzens.

Das junge Mädchen kleidete sich heute mit großer Sorgfalt. Da sie noch um die Mutter trauerte, vermied sie alles Auffallende in Tracht und Schmuck. Allein diese Einfachheit gerade mußte sie unter den vielen festlich Geschmückten recht kenntlich machen. Hildegarde beabsichtigte dies jedenfalls; denn sie zog den Spiegel zu Rathe, ehe sie ganz mit sich zufrieden war. Zuletzt machte sich die eitle Schöne selbst eine Verbeugung vor demselben und sagte:

»So denk’ ich, werd’ ich der Frau Baronin gefallen!«

Vom Thurm herab hallte jetzt das Geläut der Glocken, deren harmonische Klänge der Wind weit forttrug über das Wiesenthal. In den angrenzenden Waldungen und selbst auf den freigelegenen Höhen desselben war es deutlich zu hören.

Alles drängte nun nach der Kirche, deren neun Altäre geschmückt und mit hellbrennenden Kerzen besetzt waren. Hildegarde betrat, von einigen Stiftsdamen begleitet, unter den ersten mit die weihrauchduftigen Räume. Sie that dies nicht gern, weil sie lieber die Ankunft der Baronin erwartet hätte, an die sie fest glaubte. Da es aber sehr wahrscheinlich war, daß sich diese etwas verzögerte, konnte sich die Pflegebefohlene des Domdechanten ihren Begleiterinnen doch nicht entziehen.

Die Kirche füllte sich schnell mit Andächtigen und bald mußten später Kommende darauf verzichten, innerhalb der geweihten Räume dem Hochamt beizuwohnen.

Diese Spätlinge zogen es daher vor, schon jetzt die offen stehenden Gewölbe des Kreuzgangs aufzusuchen, um hier wenigstens Zeuge der spätern Procession sein zu können, bei welcher der Domdechant den ganzen Pomp der Kirche sinnig und ergreifend zu entfalten liebte.

Wahrscheinlich mußte auch die Baronin von Kaltenstein sich mit dieser Zuflucht begnügen, falls die verwöhnte und gern bequem lebende Dame es nicht vorzog, das Ende der kirchlichen Feier ruhig in der Dechanei abzuwarten.

Obwohl Hildegarde vielfach gefesselt ward von der zwingenden Gewalt, die ein feierliches Hochamt auf phantasiebegabte Menschen jederzeit ausübt, weilten ihre Gedanken doch in ganz andern Regionen. Das junge Geschöpf hatte wohl Sinn für Glanz, nicht aber für die Symbolik von Glanz umhüllter Ceremonien. Ihr Herz war kalt und blieb von dem Weihrauchduft, der um die Altäre wirbelte, von dem betenden Geiste, der gleichsam die ganze Kirche erfüllte, völlig unberührt. All ihr Denken war nur auf Profanes gerichtet, und während ihre betenden Nachbarinnen sich den beseligenden Empfindungen hingaben, die ihre Seelen erfüllten, vertiefte sich Hildegarde in Träume von einem schwelgerischen Leben, das sie sich unter Anleitung ihrer Freundin zu schaffen gedachte.

Sie war recht froh, als die Ceremonien innerhalb der Kirche zu Ende gingen, denn eigentlich hatte sie sich während der ganzen Zeit ihrer Dauer gelangweilt. Indeß gewährte es ihr wieder Zerstreuung, daß zwei junge Männer sie bemerkt und häufig ihre Augen auf sie gerichtet hatten. Hildegarde kannte diese Fremden nicht, aber sie schienen vornehm und gebildet zu sein. Dies genügte ihrem eiteln Herzen, weshalb sie denn auch nicht unterließ, durch geeignete Bewegungen sich ihnen noch mehr bemerklich zu machen. In die Nähe der Fremden hoffte sie zu kommen, wenn die Menge ungestüm der weiten zum Kreuzgange führenden Thür zu drängen würde, die man erst kurz vor der Procession öffnete. Diese Erwartung ging indeß nicht in Erfüllung. Die Fremden verließen die Kirche schon früher, und Hildegarde ward ihrer auch später nicht mehr ansichtig.

Unter lauterm Herzklopfen verfügte sich jetzt das Mädchen mit ihren Begleiterinnen durch die Sakristei in den Kreuzgang. Hier stand schon der Domdechant in seinem glänzenden Ornat, von Priestern, Kaplanen und Chorknaben umgeben, um wenige Minuten später die Procession zu eröffnen. Der ehrwürdige geistliche Herr erwiderte würdevoll herablassend den tiefen Gruß der vorüberschreitenden Mädchen, wobei sein Auge mit ungewöhnlichem Ernst auf Hildegarde ruhte.

»Was will der Herr wohl von mir?« fragte sich die Försterstochter. »Er sah mich ja ordentlich bös an? Bin ich ihm nicht heilig genug gewesen in meiner Unkenntniß der kirchlichen Gebräuche?«

Mit diesem Gedanken betrat sie den zugigen Kreuzgang, der zu beiden Seiten dicht mit Menschen besetzt war. Sie blieb mit ihren Begleiterinnen vor der Sakristeithür stehen, um sich der Procession anzuschließen.

Nun fiel die Orgel wieder ein, die Chöre stimmten einen jener monotonen, dabei aber eigenthümlich ergreifenden Gesänge an, an denen die katholische Kirche so reich ist, und der Domdechant mit seinem geistlichen Gefolge, voran ein Kaplan mit dem Kreuz, trat in den Kreuzgang. So oft Orgel und Chor schwiegen, hörte man deutlich die in singendem Tone gesprochenen lateinischen Gebete der langsam fortwandelnden Priester. Das Publikum, auch das nichtkatholische, neigte sich tief vor den Betenden, einzelne knieten wohl auch nieder, beugten ihr Haupt und bekreuzten sich.

Hildegarde ging hoch aufgerichtet zwischen ihren ernsten Begleiterinnen. Ihre Augen flogen suchend umher und musterten die Reihen der vielen Menschen, an denen sie langsam vorüberging. Wie sie aber auch spähte, die Baronin von Kaltenstein war unter den Anwesenden ebenso wenig zu entdecken wie der Förster.

Ihr Blut begann zu wallen und übergoß ihr Antlitz mit fliegendem Roth. Hatte der Domdechant sein Versprechen nicht gehalten? Wollte er es überhaupt nicht halten? Sie traute ihm eine absichtliche Täuschung zu, da sie ja selbst so gewandt sich aufs Täuschen zu legen verstand. Die heftigste Unruhe bemächtigte sich ihrer bei diesem Gedanken und sie glaubte bereits den auffallenden Blick des Domdechanten zu verstehen. Die Annahme, der geistliche Herr habe sie hintergangen, erbitterte Hildegarde, und sie beschloß auf der Stelle, sich dafür zu rächen.

Die Procession ging zu Ende, ohne daß die so sehnlichst Erwartete dem Blicke Hildegardens sich zeigte. Im Hofe der Dechanei, wo mehrere Wagen hielten, fehlte der ihr wohlbekannte der Baronin von Kaltenstein. Kein Zweifel, die Dame, mit der sie so unendlich gern gesprochen hätte, auf deren Rath und Hülfe sie ihre ganze Hoffnung setzte, war nicht erschienen, und daran konnte nur der Domdechant schuld sein.

Aeußerlich ruhig, aber innerlich verstört, betrat Hildegarde die Dechanei. Warnkauf weilte noch in der Kirche, nur Sabine und eine Magd, die beide der Procession nicht beigewohnt hatten, rührten schon thätig die Hände, um das Mittagsmahl herzurichten, das heute besonders reich ausgestattet war, da der Domdechant mehrere Gäste erwartete.

»Du kannst die Tafel decken, mein Kind,« sprach Sabine zu Hildegarde. »Die Serviettenschiffchen sind schon gebrochen, du hast sie nur auszulegen.«

In der Eile gab die Geschäftige der jungen Pflegebefohlenen noch die Ordnung der Gäste an, die sie namentlich nannte. Die Baronin von Kaltenstein befand sich nicht darunter; ihr eigener Vater fehlte ebenfalls unter den Genannten.

Hildegarde wußte jetzt, daß wenigstens die Baronin nicht erwartet worden war. Sollte sie vielleicht abgesagt haben?

Unwillig vollzog die Zürnende den erhaltenen Auftrag, und während die Hände geschäftig sich regten, brütete ihr Geist über unheimlichen Planen. Es war die allerhöchste Zeit für sie, mit der Baronin wieder in Berührung zu kommen. Eine noch längere Vernachlässigung der ehrgeizigen, empfindlichen Frau konnte für Hildegarde die nachtheiligsten Folgen haben.

Um aber dies zu verhindern, wäre das entschlossene, unternehmende Mädchen im Stande gewesen, schlimmstenfalls selbst ein Verbrechen zu begehen.

Um Ausflüchte und Einfälle nie verlegen, war Hildegarde bald mit sich einig. Im Verkehr mit Sabine, der sie nach Kräften beistand, blieb sie heiter, fast scherzhaft.

»Ich habe Hochwürden eine rechte Ueberraschung zugedacht,« flüsterte sie dessen behäbiger Schwester zu, als sie den Tritt des Heimkehrenden vernahm. »Er wird große Augen machen!«

»Darf ich’s nicht wissen, lustiger Schelm?«

»Nein, fromme Tante. Sie sollen die Ueberraschung mit Hochwürden theilen.«

Hildegarde eilte fort. Sie erschien bei Tafel erst, als der Domdechant sich anschickte, das Gebet zu sprechen. Derselbe ernste Blick, welcher des Mädchens Auge schon einmal in der Sakristei getroffen hatte, fiel auch jetzt wieder auf sie. Hildegarde ertrug ihn mit lächelnder Miene. Sie wußte jetzt, es war Absicht des Domdechanten, sie mit der Baronin nicht zusammentreffen zu lassen.

Da die Pflegebefohlene über Tafel mit aufwartete, fand sie bald Gelegenheit, dem Domdechanten eine Schüssel mit Wild zu präsentiren.

»Du hast wohl gar dreierlei zu offeriren?« sagte Warnkauf, die leckern Stücke betrachtend.

»Hochwürden haben stets einen scharfen Blick, obwohl Sie kurzsichtig zu sein vorgeben,« versetzte Hildegarde. »Es bleibt Ihnen die Auswahl zwischen Rebhuhn, wilder Ente und wilder Gans. Ich würde letztere empfehlen.«

»Weshalb, Schelm?«

»Weil ich sie gespickt habe. Hochwürden lieben ja meiner Hände Arbeit.«

Der Domdechant sah das lächelnd zu ihm gebeugte

Mädchen mit dem rosigen Gesichte freundlich an.

»Dann will ich dir zu Gefallen leben.«

»Wirklich? Thun es Hochwürden auch gern?«

»Kannst du daran zweifeln?«

»Fast habe ich dazu ein Recht.«

»Du?«

»Gewiß, Hochwürden! Sie vernachlässigen meine Freunde, die ich Ihrem priesterlichen Schutze doch so warm empfehle. Wenn nun die gute Baronin in Eitelkeit zu Grunde geht, werden Hochwürden vor Gewissensbissen nicht mehr ruhig schlafen können.«

»Du bist vorlaut, kleine Sibylle,« versetzte der Domdechant, »deiner Jugend wegen aber soll dir verziehen werden. Uebrigens kannst du dich meinethalb beruhigen. Die lebensfrohe Baronin hat ihren Drachentödter schon letzthin empfangen, und die Erklärung habe ich der gewandten Frau mündlich gegeben, da ich das Vergnügen hatte, bei Tafel neben ihr zu sitzen. Ihr Kommen war also heute, wie du einsehen wirst, entbehrlich.«

»Wie gut das der liebe Gott doch eingerichtet hat!« rief Hildegarde ausgelassen heiter. »Er öffnet die Schleusen des Himmels und schickt die Boten des Windes aus, damit Säumige auch Grund haben zu glaubwürdigen Entschuldigungen.«

Hildegarde ging weiter; der Domdechant sah ihr argwöhnisch nach, konnte aber in ihrem fernern Benehmen nichts Beunruhigendes bemerken. Daß die versteckte, schlaue Pflegebefohlene sich zu einem hartnäckigen Kampfe mit ihm rüsten werde, ahnte er mehr, als daß er davon überzeugt war; er glaubte aber den Beginn eines solchen möglichen Kampfes noch in ziemlich weiter Ferne.

Die Tafel nahm inzwischen ihren gewöhnlichen Verlauf. Sie war heiter und belebt, und als der Domdechant sie aufhob, dunkelte es bereits sehr stark. Das Wetter hatte sich in den letzten Stunden bedeutend verschlechtert. Es regnete und schneite ununterbrochen, und das Brausen des Windes glich fern rollendem Donner.

Die Gäste des Domdechanten blieben bis gegen 8 Uhr in der Dechanei. Als sich auch der letzte entfernt hatte, und die gewohnte Ruhe im Hause des geistlichen Herrn wieder eingetreten war, setzte sich Warnkauf mit seinem ersten Kaplan zum Damenspiel, worin er für einen Meister gelten konnte.

»Nun will ich Hochwürden eine Ueberraschung bereiten,« sagte mit neckischem Lachen Hildegarde, Sabine gleichzeitig einen Wink gebend, als sei diese mit ihr einverstanden und wisse um ihr Geheimniß.

»Thue das, mein Kind, und richte deine Ueberraschung recht spannend ein,« versetzte der Domdechant dem Mädchen die Hand entgegenstreckend. Hildegarde ergriff sie und verabschiedete sich mit einem Kuß darauf.

Sabine hatte das Zimmer schon verlassen. Draußen fragte sie die ihr Folgende, was sie eigentlich vorhabe?

»Nur einen kleinen Scherz. Ich will mich verkleiden. Lassen Sie mir eine Stunde Zeit, dann kommen Sie, mich abzuholen. Was ich Ihnen dann auftrage, das müssen Sie zu thun versprechen. Nicht wahr, fromme Tante?«

Sabine versprach dem Mädchen, ihren Willen zu thun. Hildegarde huschte fort und verriegelte die Thür ihres zu ebener Erde gelegenen Zimmers. Eine Viertelstunde später schlich eine schlanke Gestalt vorsichtig unter den Bäumen des zur Dechanei gehörigen, mit einer hohen Mauer umgebenen Gartens fort. Es war ein Mann in Priesterkleidung. Er sah sich oft um und lauschte. Rundum war alles still; nur der Wind rauschte in den Bäumen, und nasser Schnee fiel, vermischt mit Regen, in großen Flocken zur Erde. An der Pforte des Gartens angekommen, öffnete der junge Kaplan diese behutsam und geräuschlos, glitt hinaus, verschloß sie wieder, schleuderte den Schlüssel in einen nahen Tümpel, und eilte dann quer über das freie Feld dem dunkeln Waldsaume zu, der sich in der tiefen Finsterniß der stürmischen, rauhen Novembernacht kaum erkennen ließ.

Sabine wartete gewissenhaft eine volle Stunde; dann klopfte sie an Hildegardens Thür. Sie erhielt keine Antwort; auch als sie das Mädchen mit Namen rief, blieb es still. Nun erlaubte sich Sabine zu öffnen. Die Thür wich dem Drucke ihrer Hand, durch den Spalt aber wehte ein scharfer Luftzug das Licht der frommen Tante aus. Sie erhob ein lautes Geschrei, das den Domdechanten aus der Ruhe seines Spieles aufschreckte. Der geistliche Herr fand ein leeres Zimmer, Die Trauerkleidung Hildegardens lag in ein Bündel gewickelt am Boden, von ihr selbst war nirgends eine Spur zu entdecken. Sie hatte ihr Versprechen gehalten und dem Domdechanten eine Ueberraschung bereitet, die ihn in Angst und Spannung versetzte


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