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ZEHNTES KAPITEL.

DIE EREIGNISSE IN DERALLERHEILIGENNACHT.

Der Heilige Abend war still und hell. Es hatte stark gefroren, Schnee aber war nur so viel gefallen, daß er wie ein durchsichtiger, weißer Schleier die Fluren bedeckte.

Von hundert Glocken wurde die Christnacht eingeläutet; ihre metallenen Stimmen hörte man allerwärts aus Thälern und von Berghöhen herab die Freudenbotschaft von der Geburt des Herrn verkündigen. Die Gläubigen wallfahrteten oft Stunden Wegs nach den Kirchen, um der Christmette beizuwohnen, und der Anblick des Landes mit den vielen hellerleuchteten Kirchen, den zahllosen wandelnden Lichtern, die man über Ebenen schweben, aus Waldesdickicht hervorblitzen, von Hügeln und Bergen herabsteigen sah, hatte etwas eigenthümlich Bezauberndes.

In der Felsenkapelle des Bürgstein ward ebenfalls die Christnacht kirchlich gefeiert. Der enge Raum war mit Menschen überfüllt, der Duft des Weihrauchs, der auf dem Rauchfaß verbrannte, durchzog als bläuliche Rauchwolke das hohe Felsengemäuer.

Joseph am Ort wie fast alle in der großen Spiegelfabrik Beschäftigten wohnte ebenfalls der feierlichen Christmette in der Felsenkirche bei. Die sehr frommen Besitzer des Etablissements, zugleich Eigenthümer des Grund und Bodens, wünschten dies und sahen es ungern, wenn die von ihnen Beschäftigten Gleichgültigkeit gegen die Kirche an den Tag legten

Am Schlusse der Ceremonie, die nicht viel über eine Stunde dauerte, fühlte sich Joseph am Ort beim Herausgehen aus der Kapelle wiederholt von einer Hand berührt. Es war Doctor Armhalter, der neben ihm stand.

»Ich habe Ihnen eine gute Botschaft zu bringen, Herr Factor,« sprach der Doctor, als Joseph am Ort ihn gewahrte. »Sie werden heute erwartet und Sie dürfen endlich auch Hoffnung schöpfen.«

»In der That, Doctor?« erwiderte der Factor. »Wenn Sie diesmal recht hätten, wenn nicht abermals ein Rückfall meine Wünsche kreuzt, ach, Sie glauben gar nicht, wie glücklich Sie mich da machten!«

»Verlassen Sie sich auf mein Wort,« erwiderte der Arzt. »Die junge Dame brachte bei meinem heutigen Besuche aus freiem Antriebe das Gespräch auf die Entstehung ihrer schweren Krankheit und hat theilnehmend nach Ihnen gefragt.«

»Sie haßt mich also nicht?«

»Bester Herr am Ort, wie mögen Sie nur so hartnäckig sich festklammern an diesen Gedanken! Wenn Sie sich desselben nicht bald entschlagen, bin ich ja genöthigt, Sie selbst in Behandlung zu nehmen, und zwar einer fixen Idee wegen. Das unglückliche Geschöpf – denn dafür muß ich die Dame noch immer halten – lag ja fast ununterbrochen im Fieber. Sie phantasirte, und wenn aus ihren Phantasien hervorging, daß ihr viel Trübes begegnet sein müsse, und daß namentlich zwei männliche Individuen ihr Schrecken, wo nicht Entsetzen einflößten; so hingen, das läßt sich wenigstens mit vieler Wahrscheinlichkeit annehmen, diese Phantasien mit Vorgängen zusammen, welche Ursache zu ihrem Unglück gewesen zu sein scheinen. Ich halte die Zeit noch nicht gekommen, um sie mit directen Fragen zu beunruhigen. Später findet sich wohl eher Gelegenheit dazu. Vielleicht wird sie auch selbst vertrauensvoller und fühlt das Bedürfniß, sich auszusprechen.«

»Sie begleiten mich doch eine Strecke Wegs,« sagte der Factor.

»Bis zur Fabrik,« versetzte Doctor Armhalter.

»Könnten Sie später mein Gast im Schlosse sein? Der alte Ritter wird uns gern Gesellschaft leisten.«

»Es thut mir leid, daß ich Ihre freundliche Einladung nicht annehmen kann. Die Pflicht ruft mich noch in den Wald. Der Bote, der mich führen soll, wartet in meiner Wohnung.«

»Ich befinde mich in einer höchst seltsamen, ja ich möchte fast sagen, in einer ganz verzweifelten Lage,« sprach Joseph am Ort, einen wenig betretenen Seitenpfad einschlagend, der zwischen zerstreut liegenden Häusern des Ortes in gerader Richtung nach der Fabrik führte. »Der Zufall hat mich in Verhältnisse verstrickt, die sich wie ein unzerreißbares Netz um mich legen, meinen Willen und meine ganze Thatkraft lähmen.«

»Sie haben diese Aeußerung schon so oft gethan, Herr am Ort, daß ich Ihnen glauben muß,« versetzte Doctor Armhalter, »nur sehe ich nicht ein, weshalb Sie gegen mich dann fortwährend so zurückhaltend sind? Ein Arzt, das wissen Sie ja doch, muß schweigen können wie ein Priester!«

»Ich weiß es, bester Doctor, und ich habe auch volles Vertrauen zu Ihnen,« antwortete der Factor, »dennoch kann ich mich doch auf nichts Weiteres einlassen. Sie können den Kummer, der mich drückt, nicht ahnen, und wüßten Sie ihn, so würden Sie höchstens der Theilnehmer eines Geheimnisses, das sofort auch Ihnen nur ruhelose Nächte machen würde.«

»Sie sprechen fortwährend in Räthseln!«

»Nur die einzige Hoffnung hält mich aufrecht,« fuhr der Factor fort, »daß diese schreckliche Ungewißheit nicht mehr lange dauern kann. Eine einzige Nachricht, ein paar Worte, die ich in der Zeitung finde, kann mich aller Sorge mit einem mal entledigen. Dann darf ich auch sprechen, und Sie, bester Doctor, sind gewiß der erste, dem ich in diesem glücklichen Falle mein Herz ausschütte.«

»Ich wünsche aufrichtig, daß Sie recht bald dazu Gelegenheit finden,« sagte Doctor Armhalter. »Hier scheiden sich unsere Wege. Leben Sie wohl und verleben Sie die Festtage so glücklich und heiter wie Sie können! Erst nach dem Feste besuche ich die Kranke wieder, der Sie sich so ritterlich angenommen haben.«

Der Factor erwiderte den Wunsch des Arztes und ging nach dem alten Schlosse. Die Fenster im östlichen Erker waren wieder matt erleuchtet. Joseph am Ort überschritt die schadhafte Zugbrücke, obwohl es noch nicht spät war, öffnete die schmale Pforte, aus der wir den gnomenartigen alten Ritter treten sahen, verschloß sie wieder hinter sich, und erstieg die vom Corridor aufsteigende Wendeltreppe zur Rechten. Er mußte durch lange, finstere Gänge wandern, bald einige Stufen hinab, bald andere wieder hinaufsteigen. Endlich kam er in einen größern Raum, auf den sich zwei aus gewaltigen Eichenbohlen zusammengefügte, mit vielem schönen Schnitzwerk verzierte Thüren öffneten. An eine dieser Thüren klopfte der Factor. Bald erschien eine sehr einfach gekleidete Frau von wohlwollendem Aussehen. Sie begrüßte den jungen Mann freundlich und reichte ihm theilnehmend die Hand.

»Heute weise ich Sie nicht ab, Herr am Ort,« sagte Ursula, »meine Pflegebefohlene erwartet Sie mit einiger Ungeduld. Sie werden aber schon erlauben müssen, daß ich Ihrer Unterredung mit dem Fräulein beiwohne. Denn der Herr Doctor hat mir scharfen Befehl gegeben, die nunmehr schnell Genesende vor jeder heftigen Aufregung zu hüten.«

Der Factor nahm sich keine Zeit zu einer Erwiderung. Er begnügte sich, seine Beistimmung stillschweigend zu geben, und folgte der voranschreitenden Wärterin. Ein Wohnraum, ganz so eingerichtet wie das Zimmer, in welches Ritter von der Dub den Factor geführt hatte, mit großem Kamin, in dem ein stilles Kohlenfeuer glühte, einem weiten Himmelbette und einem modern geformten Sofa nahm den jungen Mann auf. Dies Zimmer war von einer Lampe, deren Licht durch doppelte Schirme gemildert ward, nur unvollkommen erleuchtet, hinderte aber nicht, ihn ein junges Mädchen von schönen, durch große Blässe noch interessanter gewordenen Zügen auf dem Sofa sitzend erkennen zu lassen. Das Mädchen war ganz schwarz gekleidet, ihr schönes, reiches, dunkelbraunes Haar leicht gescheitelt, nicht aber in Flechten geordnet. Es hing lockig um das feine leidende Gesicht, und war nur am Hinterkopfe in einen starken Knoten lose zusammengenommen.

Wir erkennen in der Bewohnerin dieses Zimmer auf den ersten Blick Hildegarde Frei.

»Herr Joseph am Ort, Fräulein,« sagte Ursula, den ihr auf dem Fuße folgenden jungen Mann ihrer Pflegebefohlenen anmeldend.

Hildegardens Blicke ruhten fest aus dem Factor, der ihr mit einiger Befangenheit entgegentrat. Ein fast spöttisches Lächeln spielte um ihren Mund, indem sie ohne alle Schüchternheit die Worte an den jungen Mann richtete:

»Diese gute Frau, die ich nach schweren und finstern Träumen, wie es mir schien, zuerst erblickte, hat mir so viel von den Verdiensten vorerzählt, die Sie sich, Herr am Ort, um mich erworben haben sollen, daß es Pflicht für mich ist, jetzt, wo der Doctor mir Erlaubniß dazu ertheilt, Ihnen für solche Aufopferung persönlich Dank zu sagen. Ich bin Ihnen gewiß recht beschwerlich gefallen, Herr am Ort?«

Der Factor hatte einen andern Empfang erwartet, obwohl er zu etwas mehr gar nicht berechtigt war. Hildegarde Frei sah ihn heute zum ersten mal, wenigstens mußte er dies annehmen, denn daß sie in ihren Fieberanfällen, wo sie allerdings sehr viel sprach, nur meistentheils tolles, völlig unverständliches Zeug, auch die Namen von Männern genannt hatte und einige derselben um sich zu haben glaubte, gab ihm doch kein Recht, sich selbst mit einem derselben zu identificiren. Dennoch wünschte, was man ihm zugute halten muß, Joseph am Ort den Empfang von seiten Hildegardens doch etwas wärmer.

»Ich werde mich glücklich fühlen, Fräulein Frei,« versetzte er, »wenn es mir gelingen sollte, Ihnen auf irgendeine Weise auch jetzt, wo Sie, gottlob! von schwerer Krankheit genesen sind, bessere Dienste als bisher leisten zu können.«

Hildegarde erröthete und ihr sehr lebhaftes Auge flammte unruhig auf.

»Kennen Sie mich denn?« fragte sie, offenbar erschrocken.

»Ich muß annehmen, Fräulein, daß ein Förster, Namens Frei, Ihr Vater ist,« versetzte Joseph am Ort. »Sie haben während Ihrer Krankheit diesen Namen oft genannt und ihn immer mit Ihrem Vater in Verbindung gebracht.«

Hildegarde seufzte und legte sinnend ihre kleine, etwas abgemagerte Hand an die Stirn.

»Es thut nichts,« sagte sie dann, schnell entschlossen. »Haben Sie weitere Erkundigungen eingezogen? Ich kann mir denken – setzte sie erzwungen lächelnd hin zu

– daß ich nicht den besten Eindruck auf Sie gemacht habe, vorausgesetzt, daß ich Sie für jenen ritterlichen Mann halten muß – hier verbeugte sich Hildegarde –, den mir der sehr aufmerksame Doctor so oft als meinen Erretter genannt hat. Ein Priester, der sich im Walde verirrt und den zuletzt die Schrecken der Nacht um sein Bewußtsein bringen, darf kaum eine rücksichtsvolle Beurtheilung beanspruchen, wenn sich ergibt, daß das heilige Gewand nur einer Unheiligen Schutz verleihen sollte.«

»Das Unglück hat stets Anspruch auf unsere Achtung,« versetzte Joseph am Ort.

»Lassen wir das, ritterlicher Herr,« fiel Hildegarde wieder ein. »Es kommt wohl eine Zeit, wo ich mich werde rechtfertigen können. Vorerst möchte ich nur wissen, ob mein Vater, der Förster Frei, unterrichtet ist.«

»Wünschten Sie es, mein Fräulein?«

»Als ich jenes Gewand anlegte, in dem ich mich, vor jedem Unfall gesichert glaubte, hatte ich die Absicht, den Weg, welchen ich einschlagen wollte, vorläufig allen meinen Verwandten völlig geheim zu halten. Ich wollte sie nicht fliehen, mein Herr,« fuhr sie lebhafter fort, »ich wollte mich nur sichern. Es gab Menschen, die mich verfolgten, und zu diesen gehörte –«

»Doch gewiß nicht Ihr Vater?« warf Joseph am Ort ein.

»Mein Vater?« wiederholte Hildegarde und strich sich langsam über die eigensinnig gewölbte Stirn. »Gott im

Himmel ... mein Vater!«

Ursula flüsterte Hildegarde einige Worte leise zu.

»Ich habe strengste Ordre,« sagte sie dann laut.

»Heftigen Erschütterungen sind Sie noch nicht gewachsen.«

Hildegarde ermannte sich. Ihr Antlitz war mild und ein Lächeln spielte um den feingeschnittenen Mund.

»Es ist thöricht, an wüste Fieberträume sich zu erinnern,« sprach sie. »Ich will mir Mühe geben, sie alle zu vergessen und sie für das zu halten, was sie eigentlich sind, für körperlose Dünste, die über dem Chaos krankhafter Gedanken gespenstisch hin und wieder schweben. Wenn der Arzt es erlaubt, werde ich an meinen Vater schreiben.«

»Das erlaubt Doctor Armhalter gewiß nicht,« fiel der Factor eifrig ein. »Er weiß nicht einmal, daß Förster Frei Ihr Vater ist!«

»Thut dies etwas zur Sache?«

»Nicht doch, Fräulein ... indeß ... Doctor Armhalter ist wirklich nicht unterrichtet.«

»Ursula hat mir doch gesagt, daß der Arzt Ihr Freund sei. Daß Sie ihn gerufen, daß ich ihm diese ungestörte Wohnung zu verdanken habe.«

»Ursula hat Ihnen die Wahrheit gesagt, dennoch kennt Doctor Armhalter nicht mehr als Ihren Namen.«

»Aber wie kommt das, mein ritterlicher Freund?«

»Der Zufall hat dies so gefügt.«

»Das läßt sich freilich hören. Verdanke ich doch auch nur dem Zufall mein Hiersein.«

An den funkelnden Blicken Hildegardens erkannte Joseph am Ort, daß in der Seele des jungen Mädchens abermals gedankenschwangere Wetterwolken aufstiegen.

»Bisweilen,« setzte sie nach kurzem Schweigen hinzu, »bisweilen nimmt der Zufall furchtbare Gestalten an! ... Wenn ich doch sprechen dürfte! ... Aber ich weiß ja nicht, wo die Wirklichkeit aufhört und der Traum, der Wahn, der Wahnwitz des Fiebers beginnt ... Ich sah ja meinen Vater ... wie jener Schuß fiel. Wissen Sie gar nichts, Herr am Ort?«

Hildegardens Auge war klar und fest. Es drückte nur Nachdenken, keine krankhafte Gereiztheit, am wenigsten Ueberreizung aus. Es dünkte dem Factor, die nur noch in körperlicher Schwäche bestehende Nachwirkung des Nervenfiebers, an welchem Hildegarde gelitten hatte, könne sich durch besonnene Enthüllung unklar ihrem Gedächtniß vorschwebender Begebenheiten eher verlieren als vermehren. Er faßte deshalb den Entschluß, die verloren gegangenen Gedankenspuren des jungen Mädchens mit aufsuchen zu helfen.

»Sprechen Sie von der stürmischen Nacht des Allerheiligentages?« fragte der Factor, seinen Blick fest auf Hildegarde richtend.«

Sie konnte ein leises Zittern nicht verbergen.

»Ganz recht,« sprach sie, »am Allerheiligentage trug sich das Gräßliche zu!«

Sie faltete die Hände und ihre Blicke wendeten sich fragend himmelwärts.

»Der Widerhall eines Schusses ließ mich Ihnen zu Hülfe kommen, mein Fräulein,« sagte Joseph am Ort. »Es war ein verbrecherischer Schuß, den man in jener Nacht abfeuerte.«

»Ein verbrecherischer Schuß!« rief Hildegarde. »O, ich glaub’s, ich glaub’s! Und wem, wem mochte er gelten! ... Ob jemand durch ihn verwundet worden sein mag?«

»Man fand am andern Morgen einen Todten im Grenzwalde.«

Hildegarde stand ungeachtet der ihr noch innewohnenden Schwäche auf und ergriff den Arm des Factors.

»Verhehlen Sie mir nichts, Herr am Ort,« sprach sie mit großer Lebhaftigkeit und mit unheimlich blitzenden Augen. »Sie nennen sich meinen Retter und ich will Sie dafür anerkennen; Sie geben mir aber den Tod oder stürzen mich zurück in die Qualen des Fieberwahnsinns, wenn Sie mir die Wahrheit verheimlichen! ... Jener Todte ... es war ... mein Vater?«

Hildegarde faßte den Factor mit beiden Händen, und Mund und Auge schienen jeden seinen Lippen entgleitenden Laut verschlingen zu wollen.

»Ihr Vater lebt,« sagte Joseph am Ort, »in dem Todten erkannte man einen berüchtigten Wilderer, mit dem Beinamen Kreuz-Matthes. Sie haben gewiß schon früher von diesem Menschen gehört.«

»Gott sei Dank! Gott sei Dank!« rief Hildegarde inbrünstig und sank tief aufathmend zurück in das Sofa. »Dann bin ich doch nicht mit der Schuld des Vatermordes belastet!«

Obwohl Joseph am Ort nicht begreifen konnte, wie es kam, daß das junge Mädchen einer so entsetzlichen Einbildung sich hingeben mochte, ward ihm durch diese Aeußerung doch manches in den Phantasien klar, die sie während ihrer Krankheit ängstigten und die oft auch den sorgsamen Arzt beunruhigten, der vergebens der wahren Ursache dieser leidenschaftlichen Ausbrüche eines in so jungen Jahren schon schwerbeladenen Herzens nachspürte. Oberflächlich bekannt mit dem noch unentschiedenen Schicksale des Försters Frei, den der Tod des Wilderers hinter die Mauern des Criminalgefängnisses gebracht hatte, konnte Joseph am Ort einen Zusammenhang zwischen der Tödtung des Kreuz-Matthes und der Annahme Hildegardens, der mörderische Schuß habe ihrem Vater gegolten, nicht entdecken. Die einmal hingeworfene Aeußerung des jungen Mädchens erschien ihm aber so wichtig, daß er im eigenen Interesse der Familie desselben das Gespräch unmöglich jetzt abbrechen mochte. Selbst auf die Gefahr hin, eine Fortsetzung desselben könne vielleicht nachtheilige Folgen für die Reconvalescentin nach sich ziehen, beschloß er, den zufällig betretenen Weg vorsichtigen Forschens weiter zu verfolgen. War er doch selbst seit einigen Tagen mit an der Sache betheiligt.

»Sie werden alsbald die Freude genießen, Ihren Vater wiederzusehen, mein Fräulein,« sagte der Factor, als Hildegarde ruhiger geworden war, »und nach diesem Wiedersehen werden sich die Mishelligkeiten, auf die Sie anspielten, gewiß ebenfalls sehr bald beseitigen lassen. Ich fühle mich beglückt, Sie durch ein paar Worte beruhigt zu haben über ein Ereigniß, das wohl vorzugsweise Schuld an Ihrer schweren Erkrankung trägt. Die Annahme, einen geliebten Vater durch Meuchelmord zu verlieren, kann – ich fühle es – unsere Gedanken bis zum Wahnsinn verwirren! Das Entsetzen raubte Ihnen die Besinnung! ... Sie sanken bewußtlos zu Boden ... die durch kältende Luft, der eisige Regen, Angst, Aufregung, geistige und körperliche Ueberanstrengung ... welche Natur möchte der Macht so gewaltsamer Stürme widerstehen!«

Hildegarde winkte die Wärterin heran. An dem Glanz ihrer Augen gewahrte Joseph am Ort, daß sie einen unabänderlichen Entschluß gefaßt haben müsse.

»Ursula,« sprach sie so bestimmt, daß die gutherzige Person über den Klang dieser Stimme schon erschrak, »den Befehl des Arztes beobachte ich von diesem Augenblicke an nicht mehr. Für die Folgen stehe ich ein, du bist frei von aller Schuld. Herr am Ort ist mein Zeuge. Zu gebieterisch verlangen es die Umstände, daß ich mich ohne die geringste noch längere Verzögerung jetzt offen ausspreche gegen den Mann, der als mein Lebensretter vor andern Anspruch auf solche Offenheit hat. Findest du es unverträglich mit deiner Gewissenhaftigkeit, mich sprechen zu hören, so ziehe dich zurück ins Nebenzimmer. Geh’ aber sogleich oder verhalte dich still, ganz still!«

Die Wärterin versuchte noch einmal durch einen bittenden Blick die ihrer Pflege Anbefohlene von diesem gewagten Vorhaben abzubringen, Hildegarde jedoch achtete nicht weiter auf Ursula. Sie wandte sich mit Lebhaftigkeit dem jungen Manne zu und richtete die auffällig scheinende Frage an ihn:

»Sind Sie Katholik, Herr am Ort?«

»Meinem religiösen Bekenntnisse nach gehöre ich der alleinseligmachenden Kirche an,« versetzte dieser.

Hildegarde senkte die Augen, als sie weiter fragte.

»Ich glaube Sie schon früher einmal gesehen zu haben, Sie wohnten der kirchlichen Feier in Mariendorf am Allerheiligentag bei.«

»Es war Zufall, mein Fräulein, der mich an jenem Tage nach Mariendorf führte.«

»Ein Freund begleitete Sie.«

»Ein sehr oberflächlicher Bekannter. Wir hatten uns erst unterwegs kennen gelernt und trennten uns auch, wahrscheinlich, um uns nie wiederzusehen, unmittelbar nach der Feier des Hochamtes. Geschäfte hielten mich fest bis an den späten Abend. Unter Sturm und Regen brach ich auf mit meinem Fuhrwerk, um einen Richtweg durch den Wald einzuschlagen, der mir seiner bedeutenden Kürze wegen empfohlen worden war. Ich verließ mich auf mein Glück und den Instinct meines klugen, zuverlässigen Pferdes. Dennoch verfehlte ich in der undurchdringlichen Finsterniß den rechten Weg, gerieth immer tiefer in das Dickicht der Tannenwaldung und kam bald so in die Irre, daß ich mich durchaus nicht mehr orientiren konnte. Da begegnete ich einem einsamen Manne. Er saß auf einem in die Erde halb eingesunkenen Kreuze, hinter ihm, von dunkelm Tannengeäst halb verdeckt, ragte auf hohem Bildstock ein aus Blech geformtes Christusbild in die Luft. Der im Feuer vergoldete Reif, welcher den Heiligenschein um das Haupt des Weltheilandes bedeuten soll, ließ es mich erkennen. Der Mann blickte auf, als ich meinen Wagen anhielt. Jetzt erst sah ich, daß er ein Gewehr trug und einen Jägerhut. Er sprang vor mit wildem Satz, daß mein Pferd bäumte, und ich fürchtete schon, einem Räuber in die Hände gefallen zu sein. Schnell jedoch trat er, als habe er sich plötzlich anders besonnen, wieder beiseite und ging zurück nach seinem Standorte. Jetzt rief ich den unbekannten Menschen und erkundigte mich nach dem Wege. Er gab mürrisch Antwort und ich bog rechts ab in den Wald, um seiner Anweisung nach bis zur nächsten Lichtung zu fahren. Da kreuzen sich die Wege, meinte er, und der, welcher dem Winde entgegenläuft, ist für Sie der rechte.«

»Es war mein Vater!« sagte Hildegarde.

»Förster Frei war es nicht,« fuhr Joseph am Ort fort, »wer es aber gewesen sein mag, weiß ich nicht. Ich überließ meinem Pferde die Zügel, und nach etwa einer Viertelstunde ward der Wald lichter. Da schien es mir, als eile in großer Schnelligkeit eine dunkle Gestalt zwischen den Bäumen fort. Gleichzeitig vernahm ich lautes Gezänk eifernder Männer, ohne die Worte verstehen zu können. Ich lauschte und faßte die Zügel meines Pferdes, das sich schnaubend bäumte, kürzer. Da krachte ein Schuß und beim Aufblitzen des Pulvers sah ich drei Männer, gewahrte ich auf dem links abbiegenden Wege in raschem Trabe einen Planwagen aus dem Walde fahren, vernahm rechts von mir den jammernden Klageruf einer entsetzten Frauenstimme und das Brechen von Aesten. Dann hörte ich nichts mehr als das Sausen des Weststurmes in den hohen Wipfeln der Tannen.«

Hildegarde hatte mit angehaltenem Athem dem Factor zugehört.

»Es war kein Traum,« sagte sie jetzt fröstelnd zusammenschaudernd. »Den Vater sah ich über den Kreuzweg schreiten und das verzerrte Gesicht des bösen Wilderers neben ihm ... Die Furcht vor Räubern trieb mich sinnlos immer vorwärts, denn ich glaubte mich verfolgt ... Schon lange hörte ich sprechen und die Angst ließ mich unter den Streitenden die Stimme meines Vaters erkennen! ... O, ich war grenzenlos unglücklich in jenen Augenblicken und bereute tief mein unüberlegtes Handeln. Aber lieber wollte ich umkommen oder schlechten Menschen in die Hände fallen, als dem Vater allein ... in Priesterkleidung ... im Walde begegnen! ... Und was hielt den Vater solange fest; im Grenzforste! Ich hatte ihn sehnsuchtsvoll erwartet den ganzen Tag, mit lieben Freunden erwartet! ... Er kam nicht, auch die Freunde blieben aus, ich hielt mich vom eigenen Vater verlassen! Da ward ich das Opfer einer unseligen Verblendung! ... «

»Sie vernahmen den Schuß, Fräulein Frei?« warf der Factor ein.

»Ich sah den Vater mit erhobener Büchse in das Tannicht springen,« stammelte Hildegarde.

»Der Schreck warf Sie zu Boden?«

»Das Entsetzen über das Aussehen meines Vaters!«

»Erkannten Sie den andern Mann mit der Büchse, aus dessen Rohr die verhängnißvolle Kugel flog?«

»Er kehrte mir den Rücken zu.«

»Es war der Jäger am Kreuz!«

»Von ihm ward der Schuß abgefeuert?«

»Vor Gott und Menschen möcht’ ich es beschwören!«

Hildegarde saß mit gefalteten Händen im Sofa.

»Nach jenem Schusse und nachdem ich die Gestalt meines Vaters, dessen Antlitz entstellt war und mehr dem Antlitz eines bösen Geistes als eines harmlosen Menschen glich, wie von Furien gepeitscht in das Dickicht stürzen sah, sank ich bewußtlos zu Boden,« sagte Hildegarde. »Was später mit mir vorgegangen ist, ich weiß es nicht. Als ich aus qualvollen Träumen endlich wieder erwachte, sah ich Ursula über mich gebeugt. Obwohl ich die Person früher nie gesehen hatte, faßte ich doch Vertrauen zu ihrem wohlwollenden Gesicht. Ich glaubte auf Schloß Kaltenstein zu sein und verlangte die Freundin meiner Mutter, die Baronin Clotilde von Kaltenstein zu sprechen. Ursula aber gebot mir Ruhe, sagte mir, daß ich sehr krank und schon volle acht Tage ohne Bewußtsein, aber unablässig phantasirend ihrer Pflege anvertraut sei. Zugleich versprach sie mir, die Baronin von meinem Befinden in Kenntniß zu setzen. Ich ließ mich hinhalten, bis der Doctor mir den Ort nannte, in dem ich lebte, und den Namen des edeldenkenden Mannes, dem ich meine Rettung zu danken habe. Durch Ihren Edelmuth, Herr am Ort, bin ich Ihre Schuldnerin geworden.«

Hildegarde reichte dem Factor die Hand, welche dieser unter sanftem Druck an seine Lippen führte.

»Ich werde es immer für eine glückliche Fügung des Himmels halten,« sprach Joseph am Ort, »daß ich bestimmt war, Ihnen in jener traurigen Nacht beizustehen. Ihr verzweifelnder Schmerzensruf ließ mich ein Unglück vermuthen. Was jener Schuß, was der Streit und die Flucht der Männer, von denen mir nur Ihr Vater bekannt war, zu bedeuten haben mochte, war mir in jenen Augenblicken gleichgültig. Auch will ich nicht leugnen, daß zum Theil mein Handeln aus selbstsüchtigen Zwecken entsprang. Ich war des Umherirrens müde, durchkältet von Wind und Regen, und mußte mich ernsthaften Vorwürfen aussetzen, wenn ich am nächsten Morgen nicht in die Stellung wieder eintrat, zu der mich das Vertrauen der Compagnie, in deren Dienst ich seit Jahren wirke, berufen hatte. Der rechte Weg lag jetzt vor mir und so trieb ich denn mein Pferd von neuem an. Die scharfen Augen des treuen Thieres unterstützten mein eigenes Forschen. Niedergesunken neben einem großen Tannenbaume gewahrte ich Sie. Es gelang mir, Sie in den Wagen zu heben. Das priesterliche Gewand konnte mich nicht täuschen. Aber mir blieb keine Zeit zu langem Nachdenken. Nur darauf bedacht, sobald wie möglich Bürgstein zu erreichen, trieb ich mein Pferd zu raschem Laufe an. Ihr Zustand beunruhigte mich, denn Sie sprachen offenbar im Fieber. Schon während dieser qualvollen Fahrt verriethen Sie mir Ihren Namen, und eine dunkle Erinnerung tauchte in mir auf. Ich ward nämlich eines Tages beauftragt, einen kostbaren Trumeau auf dem Forsthause zu Kaltenstein abzuliefern. Damals unterhielt ich mich längere Zeit mit Ihrem Vater, während meine Leute mit Aufstellung des Spiegels beschäftigt waren. Flüchtig sah ich Sie in Gesellschaft einer schwarzgekleideten Dame, die ich für Ihre Mutter hielt, über den Hofraum in den Garten gehen. Ihr Bild, Fräulein Frei, prägte sich meinem Gedächtniß tief ein, und als ich Sie inmitten der festlich gekleideten jungen Mädchen während des Hochamtes wieder erblickte, gedachte ich mit Vergnügen jener ersten Begegnung. – Während Sie, gegen Wind und Wetter geschützt, im Fond meines Reisewagens ruhten, ging ich mit mir zu Rathe, auf welche Weise ich Ihnen nützlich werden könne. Vorsicht war nöthig, das sah ich ein, und darum mußte Ihre Ankunft, die ja leicht falsch hätte gedeutet werden können, verheimlicht werden. In dieser Verlegenheit dachte ich an Doctor Armhalter, auf dessen Verschwiegenheit ich rechnen konnte. Noch war es Nacht, als ich vor dem Hause des mir befreundeten Arztes hielt. Offen theilte ich diesem das mir selbst noch nicht verständliche Erlebniß mit. Doctor Armhalter, der auf der Stelle die Gefahr der Krankheit erkannte, von welcher Sie befallen worden waren, und dessen humane Gesinnung in jedem Leidenden einen der Hülfe Bedürftigen erblickt, traf sofort Anstalten, um Ihnen in dem alten Schlosse der Dub ein Unterkommen zu verschaffen. Dies geschah mit Bewilligung des Bevollmächtigten der Compagnie, welcher persönlich zugegen war, als Sie hier der Pflege treuer Hände übergeben wurden. Oft, mein Fräulein, habe ich in der letzten Woche, bald nur in Ursula’s Gegenwart, bald von Doctor Armhalter begleitet, an Ihrem Lager gesessen, ohne daß Sie unsere Anwesenheit ahnten. Ich mußte, um nicht Späheraugen auf mich zu ziehen, vorsichtig sein, und erkundigte mich deshalb meistentheils nur des Nachts nach Ihrem Befinden. Bisweilen weilte ich halbe Nächte im Vorzimmer, um mich auch zu vergewissern, daß die Krankheit gebrochen, die Gefahr, die Ihnen drohte, beseitigt sei. So genasen Sie langsam, und nun gebe ich mich der Hoffnung hin, daß die Zeit nicht mehr fern ist, wo Sie mir erlauben werden unter glücklichern Aussichten Sie Ihrer Familie wieder zuzuführen.«

Hildegarde hatte während dieser in ruhigem Tone vorgetragenen Erzählung des jungen Factors keine Spur von Aufregung gezeigt. Konnte sie auch nicht wissen, ob er die ganze Wahrheit sagte, ob er nichts verschwieg, so hatte sie doch noch weniger Veranlassung, geradezu Mistrauen in ihn zu setzen. Joseph am Ort schien jener großen Menge von Männern anzugehören, die sich von den Verhältnissen beherrschen lassen, mögen sich diese nun gut oder schlecht gestalten. Einmal in Abenteuer verstrickt, von Gefahren umringt, halten derartige passive Naturen mit einer gewissen tapfern Zähigkeit darin aus, ohne leidenschaftlich zu werden. Hildegarde hielt daher den Factor für einen in ganz gewöhnlichem Sinne des Wortes wackern und ehrenhaften Mann, mit dem sich, wenn es eben sein müsse, ein ganzes Leben in reizloser Eintönigkeit, aber doch leidlich zufrieden verbringen lasse.

Wäre Hildegarde Herrin ihres Willens und schon wieder im Vollbesitz ihrer Jugendkraft gewesen, so würde sie schwerlich Anstand genommen haben, den guten Factor durch spitzige Bemerkungen zu reizen und ihn unbarmherzig aufzuziehen. Sie wußte längst, daß Joseph am Ort sie verehrte. Das aber kam ihr selbst jetzt, wo doch ein Schwarm von Sorgen wie trübes Nachtgevögel ihr Haupt umkreiste, geradezu komisch vor, und es fiel ihr gar nicht ein, seine vielleicht wahre und tiefe Neigung auch nur durch ein Wort oder einen freundlichen Blick zu erwidern. Die angeborene Klugheit aber sagte ihr, daß es ihr Vortheil bringen könne, wenn sie den Factor sich zum Freunde mache. Das durfte sie nicht allein, es war sogar nach den gemeinen Regeln der Höflichkeit für sie Pflicht, dem jungen Manne freundlich zu begegnen. Zuvor jedoch schien es Hildegarde, in deren Kopfe schon eine Menge kecker, abenteuerlicher Plane sich ganz von selbst auszubauen begann, nothwendig, über die Stellung ins Klare zu kommen, welche Joseph am Ort zu ihrem Vater, vielleicht auch zu dem Domdechanten Warnkauf einnehme. Waren diese von ihrem Verbleiben unterrichtet, so konnte sie sich einer Rückkehr in das Haus ihres Vaters oder in die Dechanei vorläufig nicht widersetzen, und was sie, geschah dies, an beiden Orten zu gewärtigen habe, darüber machte sie sich keine Illusionen.

»Ist mein Vater unterrichtet?« fragte sie mit verschämter Schüchternheit.

»Noch konnte dies zu meinem größten Leidwesen nicht geschehen,« versetzte der Factor nicht weniger schüchtern. Hildegarde belebte diese Antwort, weil sie jetzt annehmen durfte, daß auch mit dem Domdechanten bis jetzt ihretwegen noch keine Verbindungen angeknüpft worden seien.

»Ich habe meinem Vater großen Kummer gemacht,« fuhr sie betrübt und mit Thränen in den Augen fort. »Sein gerechter Zorn über mein unverantwortlich thörichtes Handeln wird mich zu Boden schmettern!«

»Es leben Ihnen Freunde, Fräulein Frei,« versetzte Joseph am Ort, »die sich gern für Sie verwenden und den Sturm beschwichtigen werden, noch ehe er zum Ausbruche kommt.«

»Die Frau Baronin von Kaltenstein ist Ihnen wohl nicht persönlich bekannt?« fragte Hildegarde, einen berechnenden, fast zärtlichen Blick an den Factor verschwendend.

»Im Fall diese Dame ein Fürwort für Sie einlegen kann, wird Doctor Armhalter Ihnen von morgen an wahrscheinlich das Schreiben erlauben.«

Hildegarde senkte sinnend ihre durchsichtigen, schön bewimperten Augenlider, sodaß sie das Aussehen einer sanft Träumenden erhielt, und baute behend an einem der vielen in ihrem schöpferischen Gehirn immer gleich halb fertig bereit liegenden Plane.

»Wenn ich mich brieflich zugleich an die Baronin und meinen Vater wende, dann, glaub’ ich, erreiche ich schneller das gewünschte Ziel,« sagte sie zuversichtlich. »Es wäre dabei nur eine Bedingung.«

»Zum Beispiel?« sagte Joseph am Ort.

»Beide Briefe müßten durch einen zuverlässigen, mir durchaus ergebenen und namentlich meinem Vater völlig fern stehenden Mann überbracht werden.«

Der Factor lächelte.

»Meinen Sie, daß eine solche Persönlichkeit hier schwer zu finden sein wird?«

Hildegarde zuckte die Achseln.

»Ich bin den Bewohnern des Orts, wo ich seit Wochen lebe und den ich mit Augen noch nicht erblickt habe, wie Sie ja selbst zugeben, ein lebendiges Geheimniß. Ich muß es auch bleiben, das seh’ ich ein, sonst knüpft sich an meinen verborgenen Aufenthalt in diesem Schlosse wieder ein thörichtes Geschwätz, das Ihnen vielleicht mehr schaden könnte als mir. Die Aussichten für meine heißesten Wünsche sind demnach nicht vielversprechend.«

»In der Feiertagswoche, Fräulein Frei,« erwiderte Joseph am Ort, »arbeitet die Fabrik nicht. Alle in derselben Beschäftigten sind dann weder an Zeit noch Ort gebunden. Könnten Sie also Vertrauen zu mir haben, so dürfen Sie über mich verfügen. Die Einwilligung des Doctors will ich, auch wenn er Schwierigkeiten machen sollte, schon erwirken.«

»Sie sind unendlich gütig, Herr am Ort,« sagte Hildegarde mit schmeichelnder Stimme, in der ein Anklang von Rührung nachzitterte, indem sie einen zweiten Zauberblick auf den jungen Mann heftete und ihm gutmüthig ihre Hand zu abermaligem Drucke überließ, den sie sogar ganz leise erwiderte. »Ein solcher Freundschaftsdienst würde mich Ihnen zu ewiger Dankbarkeit verpflichten und ihrem uneigennützigen Samariterwerke erst die Krone aussetzen. Die gute Baronin! ... Was mag sie um mich gelitten haben! ... Und mein Vater! ... Wie glücklich würde ich sein, wenn er mir nur gestatten wollte, als Büßende seine Knie zu umfassen und in tausend Thränen den Kummer zu ertödten, den ich in sträflichem Leichtsinn über ihn gebracht habe!«

»Ein liebevoller Vater nimmt ein reumüthiges Kind frohlockend an seine Brust,« sagte der Factor zuversichtlich. »Morgen schon, theueres Fräulein, erhalten Sie Schreibmaterialien, und am Tage nach den Feiertagen breche ich auf, wenn Sie Ihren Entschluß nicht abändern sollten.«

»Ich bin wohl zuweilen leichtsinnig,« versetzte Hildegarde, »nicht aber wankelmüthig, und deshalb pflege ich auch einmal gefaßte Entschlüsse nicht wieder aufzugeben. Ist also Herr Doctor Armhalter ebenso nachsichtig wie mein verehrter edler ritterlicher Freund, so werde ich Ihnen nach drei oder vier Tagen zwei Briefe einer tiefgebeugten Büßerin überreichen. Den an die gnädige Frau Baronin von Kaltenstein gerichteten besorgen Sie aus Rücksicht für meinen armen Vater wohl zuerst. Es wäre mir sogar lieb und verriethe, glaube ich, mehr Zartheit und Schonung, wenn mein Vater erst in dem Augenblicke mein Schreiben empfängt, wo er durch die Vermittelung der Frau Baronin die Kunde erhalten hat, daß sein verirrtes Kind Verzeihung von ihm zu erflehen bereit ist. Eine solche Vermittelung vorsichtig und wirksam anzubahnen, versteht niemand besser als die edle Freundin meiner verstorbenen Mutter.«

»Ich werde nichts versäumen, mein theueres Fräulein,« sagte Joseph am Ort mit Feuer, »und wenn ich das Glück haben sollte, woran ich kaum noch zweifle, als Vermittler Ihnen dienen zu können, so würde ich selbst die Unthat segnen, die mich Sie, mein Fräulein, kennen lehrte.«

Ursula war längst wieder bei ihrer Pflegebefohlenen. Sie trieb jetzt ernstlich zum Aufbruche Joseph’s am Ort, denn die Unterredung hatte weit über die Zeit gedauert, welche Doctor Armhalter ursprünglich für ein erstes Zusammentreffen mit der schönen Reconvalescentin festzusetzen für nöthig erachtete.

Am nächsten Tage schon nach einer längern Besprechung Hildegardens mit dem Arzte gab dieser Erlaubniß zur Abfassung der beiden entscheidenden Briefe, und am Tage nach dem Feste bestieg der Factor in freudiger Stimmung seinen Wagen, um Hildegardens Aufträge nach bestem Wissen und Gewissen zu besorgen.

»Im Walde habe ich neulich auch eine wichtige Entdeckung gemacht,« sprach Doctor Armhalter, als er dem befreundeten Factor die Hand zum Abschiede reichte. »Sie werden davon hören, wenn Sie den Vater unserer liebenswürdigen Genesenden sprechen. Mit Ihnen zugleich hält hoffentlich die Freude einen jubelnden Einzug in das Forsthaus.«


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