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DREIZEHNTES KAPITEL.

SCHULD UND REUE.

Seit dem ersten unerwarteten Zusammentreffen mit Joseph am Ort war eine Leidenschaftlichkeit über Hildegarde gekommen, die sie innerlich verzehrte. Zwar besaß sie genug Verstellungskunst, um ihre Gefühle den Augen ihrer nächsten Umgebung geheim zu halten, Ruhe aber und jene Festigkeit, die allein zu glücklichen Entschlüssen befähigt, suchte sie vergeblich wiederzugewinnen.

Die Wünsche Joseph’s kannte sie. Schon im Schlosse der Dub hatte er sie ihr zu erkennen gegeben. Hildegarde zweifelte nicht, daß der Inspector die redlichsten Absichten habe, aber der bloße Gedanke, diesem Mann dereinst ganz und für die Dauer dieses Lebens angehören zu sollen, flößte ihr Grauen ein. Sie mußte bald hell auflachen, bald brach sie in heftiges Weinen aus, wenn sie an die Möglichkeit einer förmlichen Werbung von seiten Joseph’s am Ort dachte. Was sie von diesem so zurückstieß, darüber hatte Hildegarde selbst keine klare Ansicht. Sie war ihm verpflichtet, es war Schuldigkeit für sie, ihm dankbar zu sein, und dieses moralische Muß lastete erdrückend auf ihr wie ein Alp. Nur um einer förmlichen Ansprache, die in jedem sie berührenden Blicke Joseph’s lag, zu entgehen, hatte sie frühzeitig zur List ihre Zuflucht genommen. Mit der Ankunft der Baronin war sie ihrem Lebensretter entrückt, das wußte sie, und schon aus diesem Grunde würde sie jeden Vorschlag ihrer mütterlichen Freundin gutgeheißen haben.

Nach ihrer Abreise mit der Baronin von Kaltenstein dachte sie höchst selten noch an Joseph am Ort. Der Mann war für sie todt; flogen aber ihre Gedanken doch momentan zufällig zurück ins alte Schloß der Dub, wo man sie so liebevoll pflegte, so mußte sie gewöhnlich über den Streich lachen, den sie in ihrem schalkhaften Uebermuth dem verliebten Inspector gespielt hatte. Daß sie diesem redlichen, bürgerlich so soliden und opferbereiten Manne noch einmal im Leben begegnen werde, hielt sie für völlig unmöglich. Die Hammerburg lag ja weit ab von der Heimat und noch weiter von dem Aufenthalte und dem Wirkungskreise Joseph’s am Ort. Auch schien es ihr mehr als wahrscheinlich, daß die Gräfin von Serbillon sie am liebsten für immer um sich behalten werde, da die vornehme Frau ja selbst keine Kinder hatte und sie es ihr täglich merken ließ, wie angenehm es ihr sei, mit einer Persönlichkeit zu verkehren, die sie verstehe und die nichts eifriger wünsche, als sich der liebenswürdigen Gräfin unentbehrlich zu machen.

Nächst Diana, in deren Gunst Hildegarde rasch stieg, fesselte sie entschieden der Abbé. Zu ihm fühlte sie sich hingezogen, ohne sich über die magische Gewalt, die sie an den Priester kettete, recht klar zu werden. Halb war es Mitleid mit einem Manne, der offenbar heimliches Leid mit edler Würde trug, halb Neugierde, einem Geheimniß auf die Spur zukommen, aus welchem dieses Leid seine Nahrung sog.

Seit der Begegnung vor dem Porträt im Ahnensaale mischte sich beiden Gefühlen eine leise Neigung bei, welche Hildegarde sorgfältig hegte. Sie glaubte nichts Unrechtes damit zu thun, denn was sie für den Abbé empfand, war nicht Liebe. Ihr Herz klopfte nicht heiter, wenn sie dem blassen Manne mit dem melancholisch interessanten Gesicht gegenüberstand; sie ward weder verlegen noch entzückt, wenn Abbé Kasimir sich mit ihr unterhielt oder sie belehrte.

So wußte sich denn die Tochter des Försters vor jeder Gefahr, die ihrem Herzen drohen konnte, völlig sicher, und gerade dieses Gefühl der Sicherheit machte ihr die Hammerburg zu einem höchst angenehmen Aufenthaltsorte.

Die Ankunft des ritterlichen Bulabicki trug nur dazu bei, Hildegardens Wohlbefinden noch zu erhöhen.

Der junge polnische Fürst unterhielt sie vortrefflich. Sie verkehrte gern, ja am liebsten mit dem pikanten Sarmaten, und die kleinen Huldigungen, durch die er sie auszeichnete, schmeichelten ihrer weiblichen Eitelkeit. Daß sie anmuthig, ja schön sei, sagte Hildegarde täglich der Spiegel, daß sie unter Hunderten ihrer Schwestern den Preis der Schönheit und Liebenswürdigkeit gewinnen könne, gab ihr der Fürst wiederholt zu verstehen.

Es gibt nicht viele junge Mädchen, die es ungern hören, wenn man ihre Vorzüge erkennt und gelegentlich auch preist. Hildegarde war glücklich über die Huldigungen des Fürsten, aber sie ließ sich doch nicht davon berauschen. Ein Fürst – das sagte ihr die Klugheit – konnte nie ernstliche Absichten auf das mittellose bürgerliche Mädchen haben, das als eine Flüchtige bei mitleidigen Fremden eigentlich nur der Gnade lebte. Darum wahrte sie ihr Herz, und wenn sie auch die Schmeicheleien des galanten Polen dankend hinnahm, berücken, verführen ließ sie sich doch nicht davon. Die glänzend gefaßten Worte waren für das kluge Mädchen Gegenstände des Schmucks, die ihrer Jugend und Anmuth noch mehr Relief verliehen.

Ohne Zweifel würde dies heitere Dasein, welches Hildegarde unter solchen Verhältnissen auf Hammerburg führte, durch nichts getrübt worden sein, wäre Joseph am Ort nicht plötzlich wie ein mahnender Geist vor sie hingetreten.

Das Wiedersehen dieses Mannes, den sie mit grobem Undank belohnt hatte, vergiftete ihr die Luft, die sie einathmete. Nur die größte Selbstbeherrschung bewahrte Hildegarde vor einem plötzlichen Zusammenbrechen in Gegenwart derer, die um keinen Preis erfahren sollten, daß sie den fremden Inspector kannte. Die Anwesenheit des Fürsten und das Verhältniß zwischen beiden, das fast ein geschwisterliches zu nennen war, rettete die zum Tode Erschrockene. Zum Glück konnte sie eine schickliche Veranlassung der Schwäche, von der sie befallen zu werden schien, simuliren, da der Dunst in der Schleiferei ein zartes Nervensystem wohl angreifen mußte.

Um später nicht durch zu sehr verändertes Wesen, durch plötzliches Versinken in Gedanken und andere verrätherische Symptome eines geängstigten Herzens ihrer Umgebung aufzufallen, fingirte Hildegarde eine Heiterkeit, die jeder Uneingeweihte für das Ergebniß eines herzlichen Einverständnisses mit dem Fürsten, der sich noch mehr als bisher um das schöne Mädchen zu schaffen machte, halten mußte. Sie war auf eine Frage der Gräfin, die sie erwartete, vollkommen vorbereitet, und präparirte sich sehr gut auf das Examen, das ihr höchst wahrscheinlich bevorstand. Nur die abermalige Begegnung mit Joseph am Ort, den sie nicht wiedersehen wollte, hatte die kluge Rechnerin in ihrem Calcul vergessen.

Hildegarde würde aber trotz dieses unvorhergesehenen Zwischenfalls vielleicht Herr ihrer Gefühle geblieben sein, hätte nicht die zuletzt gehabte Unterredung mit dem Abbé ihr Herz fieberhaft ergriffen. In dieser Unterredung verrieth Kasimir, ohne es zu wollen, seine Neigung zu der schönen Schülerin, und eine süße Ahnung unerreichbaren Glückes nahm Besitz von ihrer Seele. Aus dem Studirzimmer des Priesters, der sein Auge so theilnehmend, so bannend, so sehnsuchtsvoll und doch so verzweifelt auf sie heftete, als wolle er die Seele des Mädchens trinken, das er ja nie besitzen konnte, flatterten ihre Gedanken zurück in die waldumrauschte Heimat. Dort auf der moosigen Grotte des Irrgartens, der Schloß Kaltenstein auf der Südseite umgab, trat ihr lächelnd eine andere, jugendlichere und elastischere Gestalt entgegen, hob drohend den Finger gegen sie und berührte ihr zitterndes Herz.

Hildegarde erschrak, daß alle Gegenstände vor ihren Augen schwankten und durcheinander liefen. Sie entsetzte sich vor der Doppelliebe, die qualvoll zwei Keime auf einmal in ihrem Herzen trieb. Es hätte nicht noch der beziehungsreichen Worte bedurft, mit denen der Abbé sich selbst strafte, um die sündhaften Regungen seines Innern zu ertödten, um sie völlig zu verwirren. Nur um diesem qualvollen Zustande zu entrinnen, ergriff sie den vor ihr liegenden Quartband, in welchem der Abbé die Abstammung und die Verwandtschaften der Ludomirsky studirt hatte, und er bat sich die Erlaubniß, sich ebenfalls mit diesen Geschlechtstafeln der slawischen Adelsfamilien bekannt machen zu dürfen.

Abbé Kasimir bewilligte seiner Schülerin das Buch ungern, aber das reizende Mädchen beherrschte seinen Willen schon so sehr, daß er ihr eine Bitte nicht mehr abschlagen konnte. Mit einem Blicke seiner weichen melancholischen Augen, der Hildegarde erbeben machte und in noch größere Verwirrung brachte, reichte er ihr selbst das begehrte Werk, mit dem die Bestürzte so eilig sich entfernte, als drohe ihr bei längerm Verweilen ein Unheil.

Das Entgegentreten Joseph’s am Ort, die Flucht Hildegardens, die in ihrer Aufregung allen moralischen Halt verlor, war das Werk weniger Augenblicke. Ohne sich umzusehen, lief die Verscheuchte über die nächsten Corridore. Von Angst und Schreck beherrscht, achtete sie nicht auf die Thüren, verfehlte die rechte und stürzte athemlos in das Zimmer der Gräfin, vor der sie schluchzend in die Knie sank.

Es verging einige Zeit, ehe es Diana von Serbillon gelang, die Aufgeregte so weit zu besänftigen, daß sie wieder zu Worte kam. Die Gräfin wollte, da sie die Verstörung ihrer Pflegebefohlenen gewahrte, einer dienenden Person schellen, damit sie die Leidende unterstütze und ihr eine Handreichung thue. Hildegarde aber klammerte sich krampfhaft an die schon erhobene Hand Diana’s und stieß mit matter Stimme die Worte heraus:

»Gnädigste Gräfin ... Niemand rufen! ... Ich bin elend ... verworfen! ... O, möchte ich sterben! ... «

Die nicht wenig erschrockene Gräfin sah wohl ein, daß diese von Schluchzen halberstickten Schmerzenslaute einer schwer geängstigten Seele entquollen, nur konnte sie die Quelle dieser dem Entsetzen nahe verwandten Stimmung nicht entdecken. Ahnungsvoll aber drängte sich der theilnehmenden, mitleidigen Dame ein schmerzlicher Gedanke auf.

»Hat Fürst Bulabicki dich beleidigt?« fragte sie sanft die noch immer Zitternde.

Hildegarde strich die Locken aus der Stirn und blickte Diana kopfschüttelnd an.

»Der fremde Mann!« stotterte sie. »Ich kann ihn nicht wiedersehen! ... «

»Welcher Fremde?« erwiderte verwundert die Gräfin.

Hildegarde kniete wieder vor ihrer gnädigen Beschützerin und barg leise weinend ihr geröthetes Antlitz in deren Schos. Diana mußte ihre Frage einigemal wiederholen, ehe sie die Tochter des Försters zum Sprechen bewegen konnte.

»Vergebung, Vergebung, gnädigste Gräfin!« rief sie endlich aus, die Hand Diana’s mit Küssen bedeckend. »Ich hätte nicht schweigen sollen! ... Aber die Frau Baronin verlangte es! ... «

Erneutes Schluchzen verhinderte Hildegarde an weiterm Sprechen. Die Gräfin drang nicht in sie, sondern ließ ihr Zeit, damit sie etwas ruhiger werde und sich fasse. Als sie scheu durch Thränen wieder zu ihr aufblickte, sagte Diana von Serbillon in mütterlich zutraulichem Tone.

»Verlangte die Frau Baronin, daß du mir ein wichtiges Ereigniß, einen Punkt in deinem Leben, der, wie es jetzt den Anschein hat, für dich verderblich werden kann, vor mir geheim halten solltest? ... Ich bin mir bewußt, liebes Kind, nur dein Bestes gewollt zu haben, und Vertrauen, nicht Mistrauen durfte ich von dir erwarten.«

Hildegarde antwortete nur durch Küsse, die sie auf die Hand der Gräfin hauchte.

»Außer dem Fürsten Bulabicki und dem Obersten Malachowsky lebt kein Fremder auf Hammerburg,« fuhr die Gräfin Diana fort; »den Abbé Kasimir zähle ich mit zu unserer Familie.«

Hildegardens ganzer Körper erbebte, als sie den Namen des Abbé vernahm. Sie hob das verweinte, heiß glühende Gesicht, faltete die Hände auf dem Schose der Gräfin und sprach:

»Wenn ich beten könnte ... mit ihm beten!«

»Armes Kind!« rief Diana. »Hast du nie gebetet?«

»Am Sterbebett der Mutter!« schluchzte Hildegarde. »Seitdem ... dachte ich ... nicht mehr ans Beten! ... «

»Wer Gott vergißt und die Sprache, die er uns ins Herz gelegt hat, damit wir uns ihrer bedienen, um ihm unsere Wünsche, unsere Gedanken, unsere Schmerzen zu offenbaren, fällt gar leicht in Versuchung und Stricke,« erwiderte in mild warnendem Tone die Gräfin. Dann setzte sie forschend hinzu:

»Mit wem, mein Kind, möchtest du beten? ... Mit dem Fremden, dessen Namen ich noch immer nicht kenne?«

Das Zittern, welches schon einmal den Körper Hildegardens durchrieselt hatte, machte sich auch jetzt wieder bemerkbar, und als scheue sie vor etwas Furchtbarem zurück, sagte sie, die Hände auf ihre Augen pressend:

»Gnädigste, gnädigste Gräfin, verlassen Sie mich nicht in meiner Noth! ... Gestatten Sie, daß ich bei Ihnen bleiben darf, bis das Licht des Tags erlischt! ... Dann will ich sprechen, dann will ich meine Schuld bekennen! ... «

Die Gräfin beugte sich über die Kniende und sprach zwar sanft, aber doch bestimmt:

»Laß mich dein Auge schauen, Hildegarde! Herz und Seele verstehen sich besser, wenn sie in den unauslöschbaren Quell des Lichts blicken, der der Pupille des Menschen entsprudelt!«

Hildegarde ließ auf diese Aufforderung wirklich die Hände sinken und blickte die Gräfin an, aber sie ertrug die Begegnung des Blickes nicht, welcher den ihrigen berührte. Das Bewußtsein einer geheimen Schuld machte sie scheu und unsicher.

»Du hast gefehlt, mein Kind,« fuhr die Gräfin fort, ohne Lieblosigkeit oder strafende Härte in ihre Stimme zu legen, »weil du aber im Begriffe stehst, deine Fehler aus freiem Antriebe zu gestehen, will ich deinem Wunsche entgegenkommen. Wenn das Licht der Sonne dein schuldumschleiertes Auge nicht mehr blendet, sollst du mir mittheilen, was dich so heftig erschüttert. Jetzt bemühe dich, ruhig zu werden und dich zu sammeln. Und damit du eine würdige Vorbereitung hast für den dämmernden Abend, der hoffentlich Angst und Kummer von deinem noch so jungen Herzen nehmen wird, magst du mir vorlesen. Du hast ja eine schöne klangvolle Stimme, und Gott hat dir einen scharfen Verstand gegeben, mit welchem du das Rechte vom Unrechten, das Gute vom Bösen leicht unterscheiden kannst, wenn du nur den festen Willen dazu hast.«

Liebevoll wie die gewissenhafteste Mutter hob die Gräfin die noch immer auf dem Teppich kniende Hildegarde auf, drückte sie an sich, streifte die klare Stirn der Geängstigten mit feuchter Lippe, legte dann ihren Arm um die Taille des Mädchens, und ging so mit ihr zum Bücherschrank an der gegenüberliegenden Wand. Sie entnahm demselben einen Band der Stunden der Andacht, schlug ihn auf und bezeichnete Hildegarde den Abschnitt, den sie vorlesen sollte. Diese trocknete sich die Thränen ab und folgte der Aufforderung ihrer Beschützerin.

Anfangs las Hildegarde sehr leise und mit unsicherer Stimme, bald aber fesselte und ergriff sie der Inhalt des Buchs. Der Geist, der ihr stärkend aus demselben entgegenwehte, überwältigte die Traurigkeit ihrer Seele, und da der Abschnitt, welchen die Gräfin ausgewählt hatte, auf den Zustand Hildegardens paßte, so löste sich das heftige Weh, das sie peinigte, nach und nach in ein schmerzdurchhauchtes Nachdenken darüber auf, das ihr Linderung gewährte.

So kam der Abend, endlich die tiefe Dämmerung heran.

Die Gräfin entnahm ihrer Pflegebefohlenen das Buch, als diese die Buchstaben nicht mehr deutlich erkennen konnte.

»Die Sonne hat sich verhüllt, das Auge Gottes blendet dich nicht mehr,« sprach sie ernst, »jetzt beichte, und denke dabei, daß es der Geist deiner verstorbenen Mutter ist, mit dem du dich unterhältst!«

Hildegarde ließ sich vor der Gräfin nieder, legte ihre vollen Arme auf deren Knie, verschlang die Hände, wie zum Gebet, und erzählte eine volle Stunde lang von ihrer Mutter, von dem Leben im Hause des Vaters, von der Baronin, von Adolar und Kathrine. Weder das kniende, nur halblaut sprechende Mädchen, noch die still und aufmerksam diesem Gespräch lauschende Gräfin sahen einander in der tiefen Dunkelheit des Zimmers.

Als Hildegarde ihre Erzählung endigte, kannte die Gräfin die Herzensgeschichte einer reichbegabten, aber früh verirrten Mädchenseele.

Sie hob die Kniende auf und legte sie an ihre Brust.

»Für deine Geständnisse danke ich dir, armes Kind, das man früh dem Irren überließ,« sagte Diana. »Vertraue jetzt mir; ich werde, will der Himmel mir gnädig sein, dich retten und dich dem mit Recht zürnenden Vater wieder versöhnen!«

Joseph am Ort war abgereist. Zweimal noch verkehrte er vorher auf Hammerburg, doch traf er mit Hildegarde nicht wieder zusammen. Er führte längere Gespräche mit dem Grafen und der Gräfin, aus denen sich ein Verständniß und ein Abkommen für die Zukunft ergab. Diana nahm dem Abreisenden das Versprechen ab, vorläufig über alles, was ihm auf Hammerburg bekannt geworden, zu schweigen. Abbé Kasimir sprach Joseph am Ort ebenfalls noch einmal unter vier Augen. Der Priester legte ihm das Vermächtniß seines Vaters vor, dem der Wohlthäter Hildegardens Aufschlüsse zu verdanken hatte, die ihn sehr nachdenklich stimmten. Leider waren die Bilder seiner ersten Jugend in seiner Erinnerung so verblichen, daß sie ihm nicht als Leitsterne dienen konnten. Seine Mutter hatte Joseph nicht gekannt, selbst ihr Name war dem Kinde frühzeitig entfallen, da sein Vater, ein schweigsamer, verschlossener Mann, sie immer nur ›Mutter‹, nannte, wenn von der Verstorbenen die Rede war. Seiner Verwandten gedachte er äußerst selten, geschah es aber doch, so schnitt er jede weitere Nachfrage des Sohnes mit den barschen Worten ab: »die ganze Familie ist todt – für uns!«

Joseph am Ort war dadurch in frühester Jugend an den Gedanken gewöhnt worden, sich für einen völlig allein stehenden Menschen zu halten und nur in sich selbst den Schwerpunkt seines Lebens zu suchen. Im ganzen durfte er zufrieden sein mit seinem Lebensgange. Er hatte Freunde gefunden, die sich seiner annahmen, er hatte Kenntnisse eingesammelt, die Welt gesehen und sich in einer Stellung festgesetzt, die ehrenvoll war und ihm seine Existenz vollkommen sicherte.

Nur sein Herz war verwaist geblieben, bis die anmuthvolle Gestalt der verführerischen Hildegarde während des Hochamts in der Kirche zu Mariendorf einen tiefen Eindruck auf ihn machte. Daß er in der darauffolgenden Nacht die Verirrte vom Tode rettete, hielt er für ein günstiges Zeichen des Himmels, daß Hildegarde, deren Verhältnisse er noch gar nicht kannte, ihm bestimmt sei.

In der frohen Hoffnung, es werde ihm gelingen, das Herz des jungen Mädchens zu gewinnen, da sein Band der Dankbarkeit schon fester an ihn kettete, hatte er später freudig die Aufträge Hildegardens vollzogen, ohne zu ahnen, daß diese sein bereitwilliges Entgegenkommen nur dazu benutzen wolle, sich selbst mit offenen Armen der Baronin von Kaltenstein zu überliefern.

Jetzt zeigte sich Joseph am Ort die Welt in einem andern, vielfach gebrochenen Lichte. Abbé Kasimir’s Eröffnungen ließen ihn in ein finsteres Chaos labyrinthischer Lebensverwickelungen blicken, und er konnte kaum annehmen, daß er selbst diesen Verwickelungen ganz fern stehe. Sogar der alte Ritter von der Dub, den er bis dahin immer nur für einen unschädlichen Irrsinnigen gehalten hatte, ward nach den Mittheilungen des Abbé für ihn eine ebenso wichtige Person wie für den nachweisbar legitimen noch lebenden Sproß der Ludomirsky. Hatte der blinde Ritter die verschollene Tante des Abbé wirklich gekannt? War Berenice, die Oberst Stanislaus der Mutter entführte, dieselbe Person, welche Ritter von der Dub in seiner Jugend kennen gelernt, der er sich feierlich verlobt hatte und die ihm auf eine bis jetzt noch nicht aufgeklärte Weise während seiner Abwesenheit vom Schloß seiner Väter geraubt worden war? Dies zu ermitteln, mußte von Stund’ an die gemeinsame Aufgabe Joseph’s wie des Abbé sein.

Der Inspector gelobte dem Priester, nichts zu unterlassen, was zur Aufklärung dieser Lebenswirren dienen könne, und der Graf, der den lebhaftesten Antheil an den, wie es jetzt schien, einander so nahe verwandten Männern nahm, in deren Zügen sich allerdings gar keine Familienähnlichkeit entdecken ließ, versprach, ihre Bestrebungen auf alle Weise kräftigst zu fördern.

Hildegarde lebte inzwischen zurückgezogen auf ihrem Zimmer. Diana gab, um unnützen Nachfragen seitens des Fürsten und des alten Obersten abzuschneiden, vor, das junge Mädchen sei leidend und dürfe das Zimmer nicht verlassen. Dadurch erhielt die Tochter des Försters Zeit, sich mehr und mehr zusammeln und über ihre Lage reiflich nachzudenken. Diana ließ sie nicht aus den Augen. Die wohlwollende Gräfin bot alles auf, um ihre Pflegebefohlene zur Selbsterkenntniß zu bringen. Dies war keine leichte Ausgabe; denn wenn sich Hildegarde auch mancherlei Vorwürfe machte und einsah, daß sie mit ihren Gefühlen in schwere Bedrängniß gerathen sei, so richtete sich ihr beweglicher Geist doch niemals auf den Punkt, welchen die Gräfin gerade für den wichtigsten hielt. Das häufig sehr in sich gekehrte Mädchen gedachte mit keiner Silbe ihres Vaters!

Dies war für Diana eine recht betrübende Entdeckung. Allein sie wußte nicht, wie sie es anfangen sollte, um Hildegarde zur Einsicht ihres lieblosen, so ganz unkindlichen Verhaltens dem Vater gegenüber zu bringen. Ernsthaft besorgt um das Seelenheil der seltsam Verirrten, theilte sich die Gräfin dem Abbé mit, der seine heimliche Neigung zur Tochter des Försters noch niemand verrathen hatte.

Ein freudiger Glanz legte sich veredelnd über die Züge des Priesters, als er die wehmüthigen Klagen Diana’s vernahm. Es lag für den Abbé ein Trost in dem Bewußtsein, daß es außer ihm auf Schloß Hammerburg noch ein zweites Wesen gebe, das umsonst nach dem Frieden einer gebändigten Seele ringe.

»Das verirrte Kind muß sich seiner Schuld bewußt werden, gnädigste Gräfin,« versetzte Abbé Kasimir auf die klagenden Herzensergießungen Dianas. »In solchen Fällen wirkt das mahnende oder strafende Wort des gottbegeisterten Priesters oft Wunder. Sie sagen, Hildegarde wünsche, sie möge beten können?«

»Zu wiederholten malen hat sie diesen Wunsch unter Thränen gegen mich geäußert.«

Der Abbé sann einige Zeit nach.

»Wenn das arme Kind nicht Willenskraft gering besitzt, sich im Gebet zu sammeln, so muß man ihr Anleitung dazu geben,« sagte er darauf.

»Aber Hildegarde gehört nicht unserer Kirche an,« bemerkte Diana.

»In den Ceremonien unserer Kirche liegt eine bezaubernde Kraft,« fuhr der Abbé fort, »die nie segensreicher und machtvoller sich erweist, als bei zweifelnden oder zerrissenen Gemüthern. Der nächste Sonntag wird mir Gelegenheit geben, nach dem Hochamte einen Kanzelvortrag zu halten, in welche mich besonders Bezug nehmen werde auf den Seelenzustand Hildegardens. Ich hoffe, verehrte Freundin, daß es Ihnen gelingt, die geistig Leidende mit theilnehmen zu lassen an unserer gottesdienstlichen Versammlung.«

Diesem Vorschlage pflichtete die Gräfin bei. Hildegarde besaß Phantasie, nur ihr Herz war nicht früh genug in liebevoll zarter Weise gebildet worden. Der Einfluß der klugen Baronin auf ihre Mutter hatte mehr Gewicht auf die Entwickelung scharfer Verstandeskräfte als auf wahrhaft mütterliche Pflege jener sanften Regungen gelegt, die doch dem Weibe so nöthig sind, soll es jederzeit den Stürmen siegreich trotzen, die mit seltenen Ausnahmen das Leben bringt. Die Baronin handelte mit Absicht so. Sie wollte ihren Liebling gegen alle Eindrücke, welche dem Herzen entkeimen, abhärten, damit Hildegarde in ihrem Sinne recht glücklich werde.

Die weichmüthige, schwankende Stimmung, in welcher das junge Mädchen nun schon viele Tage lebte, arbeitete dem Plane der Gräfin in die Hände. Als Diana zuerst mit ihrem Vorschlag hervortrat, zeigte sich Hildegarde sogleich geneigt, darauf einzugehen. Dies rasche Entgegenkommen von ihrer Seite entsprang aber nicht dem Bedürfniß, sich religiös zu erbauen, es lag ihm vielmehr eine sehr weltliche Auffassung aller Verhältnisse zu Grunde.

Abbé Kasimir hatte seine Gefühle der klugen Försterstochter verrathen, und wenn Hildegarde auch den andersgläubigen Mann, den geweihten Priester nicht leidenschaftlich liebte, so nahm sie doch warmen Antheil an dem Schmerz, der seiner Leidenschaft für sie entquoll und der sich nur zu sichtbar in seinen Augen ausprägte.

»Was wird in Kasimir mächtiger sein, das Gesetz seiner Kirche oder das natürliche Gebot des Herzens, wenn ich ihm gegenübersitze?« Das war der erste Gedanke, welcher in Hildegarde aufstieg und sie sogleich völlig beherrschte.

Der Abbé bereitete sie reiflich auf die Predigt vor, die er halten wollte. Es war Stoff die Fülle vorhanden, um einen Diener des Herrn, mochte er einem christlichen Bekenntnisse angehören, welchem er wollte, zu einer ergreifenden Bußpredigt zu begeistern. Die Lage seines Vaterlandes, seines Volks, dem er weder als Mensch noch als Priester angehörte, und zu dem ihn doch das unbezwingbare Herz immer von neuem wieder hinzog, führten ihm einen Strom von Gedanken zu, die sich in seinem Geiste zu Worten gestalteten. Und dann war er selbst ja ein sündiger Mann, doppelt strafbar, weil er andern Buße predigen, sie bis zu reuiger Zerknirschung durch sein Wort erschüttern sollte. Richtete er die scharf zugespitzten Pfeile seiner Rede schonungslos gegen sich selbst, geiselte er den Geist des Widerspruchs, der sein Haupt aufrührerisch in ihm erhob und ihn zu sündigem Denken und Thun verführen wollte, so konnte das strafende Wort seines Mundes auf die Zuhörer nicht ohne nachhaltige Wirkung bleiben.

Frühzeitig nahm Hildegarde an Diana’s Seite Platz in der kleinen, aber geschmackvollen Schloßkapelle, deren drei Altäre geschmückt und mit brennenden Kerzen festlich besetzt waren. Schon durchzog Weihrauchduft die heiligen Räume, die sich alsbald mit den Umwohnern der Hammerburg füllten. Auch der Graf mit dem alten Obersten und dem ritterlichen Fürsten Bulabicki waren zugegen. Beide wollten gleich nach dem Gottesdienst abreisen, da erst kürzlich neue Depeschen angekommen waren, die ihnen andere Wirkungskreise zuwiesen. Der Fürst ward zurückberufen, um ein Commando eines Corps zu übernehmen, welches die Hauptstadt zunächst vor einer möglichen Umgehung des immer gewaltigere Streitmassen entfaltenden Feindes schützen sollte. Der Oberst empfing den gemessenen Auftrag, einen letzten Versuch zu thatkräftiger Unterstützung im Auslande zu machen.

Beide waren in sehr gedrückter Stimmung, denn die Ahnung, die Sache ihres Volks werde verloren sein, drängte sich ihnen in immer erschreckenderer Stärke auf.

Bulabicki ward von Hildegardens Anblick eigenthümlich gefesselt. Die Seelenleiden, die das Mädchen erduldete, waren nicht spurlos an ihr vorübergegangen, ihre Anmuth aber hatte nicht darunter gelitten. Hildegarde sah so durchgeistigt, so schwärmerisch sanft aus, daß sie das Ideal einer büßenden Magdalena hätte abgeben können. Der Fürst konnte nicht begreifen, wie körperliche Krankheit ein junges Mädchen so wunderbar zu verschönen im Stande sei.

Hildegardens Blicke flogen einigemal zu dem heute auch ernster als gewöhnlich aussehenden polnischen Fürsten hinüber, der ihr Herz angenehm beschäftigt, nicht aber gerührt hatte. Von der Gräfin wußte sie, daß Bulabicki abreisen wollte, und sie dachte ungern an die Tage, wo es auf Hammerburg sehr einsam werden würde. Ein Gefühl der Erleichterung kam erst über sie, als die Orgel zu tönen begann und die Klänge des Chors ernst und feierlich wie melodische Bittgebete den Raum erfüllten.

Im Geiste glaubte sich Hildegarde zurückversetzt nach Mariendorf. Die hohe Gestalt des Domdechanten Warnkauf schien vor dem Hochaltar zu stehen, und der Schmerz jener Tage fiel wie kältender Reif auf die Seele des jungen Mädchens.

Welche Erschütterungen, welche Erfahrungen lagen zwischen dem Hochamt am Allerseelentage und dieser heutigen Feier! Wie ein Geisterschwarm schwirrten die schmerzvollen Stunden an ihr vorüber, die sie durchgekämpft hatte, und ihr ganzes Leben schien ihr eine leere sonnenlose Wüste zu sein. Sie fühlte sich unglücklich, verstoßen ... Die Mutter hatte der Tod ihr entrückt, den Vater, die Tante hatte sie mit eigener Hand oder durch das Eingreifen anderer verloren! ... Mit entsetzenvoller Gewißheit drängte sich ihr die Ueberzeugung aus, daß die Baronin nicht aus reinem Edelmuth sich ihrer angenommen habe. Sie wußte, daß diese Frau kein Engel des Lichts sei, ja sie fürchtete, es möge plötzlich ein Schleier fallen und ihr Clotilde von Kaltenstein in einer von dämonischen Flammen umkreisten Beleuchtung zeigen.

Hildegarde ward weher und immer weher ums Herz. Als das Hochamt endigte, blieb sie, das Haupt auf das Gebetbuch gelehnt, knien, bis Diana sie daran erinnerte, daß sie sich erheben solle.

Nun betrat der Abbé die Kanzel.

Hildegarde hatte den Mann, der sie vielfach mit geistigen Banden an sich geleitet, noch niemals predigen hören, und sie hing mit Ohr und Auge an seinem beredten Munde.

Die Rede des Abbé war mehr eine moralische Abhandlung, als eine regelrechte Predigt zu nennen. Ohne irgendwelche Einleitung stellte er den Satz, den er zum Gegenstande seiner Betrachtung machen wollte, an die Spitze der Rede. Dieser Satz war dem Gebete des Herrn entnommen und hieß:

»Führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Uebel!«

Und nun begann Abbé Kasimir eine schuldbeladene Seele, die sich, von der Eitelkeit der Welt geblendet, von sündiger Lust angesteckt, der Versuchung gleichsam jubelnd in die Arme geworfen hat, mit solchem Feuer zu schildern, daß Hildegarde geistig in sich zusammenbrach. Der Abbé stellte nur sein eigenes Leid in meisterhaften Farben dar. Er sprach immer nur von sich, er kasteite sich mit zerfleischenden Geiselhieben mit eigener Hand vor den Augen aller seiner Zuhörer, aber Hildegarde erblickte in dem Gemälde dieser der Verführung anheim gefallenen Seele ihr eigenes Conterfei. Sie wagte nicht aufzublicken zu dem Manne, der ihr Herz so ganz durchschaut hatte; sie regte sich nicht, aber jedes Wort traf wie ein glühender Pfeil ihr sich selbst verklagendes Herz und das Gewicht der Verschuldungen, die sie auf sich geladen hatte, warf sie zu Boden.

Sie hörte noch das Amen des Abbé und den Segen, den er über die Versammlung aussprach, als aber wie Posaunenklange des Weltgerichts der vollstimmige Männerchor jetzt die Melodie des herzerschütternden Kirchengesangs anhab:

Dies irae, dies illum‹ da verwirrten sich mehr und mehr die Gedanken der vom Worte des Abbé so schwer Getroffenen, und wie mahnender Geisterruf verhallten sie dumpf im Ohr der matt Zusammensinkenden. Man mußte die Besinnungslose, die außer leichtem Röcheln kein Zeichen des Lebens von sich gab, am Schlusse des Gottesdienstes aus der Schloßkirche tragen.


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