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FÜNFTES KAPITEL.

DER BARON SUCHT.

Doctor Armhalter kehrte spät heim von seinen Krankenbesuchen. Er hatte sich zuletzt bei Leuten der Spiegelfabrik nach dem Befinden des alten Ritters erkundigt, dessen Gesundheit seit dem letzten Winter sehr wankend zu werden begann, und was er von dem wunderlichen Greise vernahm, machte den mitleidigen Arzt bedenklich. Er notirte sich den Namen des Ritters in der Liste seiner Kranken und nahm sich vor, ihn unter irgendeinem schicklichen Vorwande nächster Tage zu besuchen.

Beim Eintritt in seine Wohnung ward dem Doctor gemeldet, ein fremder Herr habe ihn zu sprechen gewünscht; derselbe wolle vor Abend noch einmal wiederkommen.

Armhalter fiel dies nicht auf, da er häufig von Unbekannten um Rath gefragt wurde. Er war der einzige Arzt von Ruf in der Gegend, und seine Praxis würde sich höchst glänzend und einträglich gestaltet haben, wären nicht die entsetzlich weiten bodenlosen Wege gewesen. Auch nöthigte ihn die große Armuth vieler Hülfesuchenden, manchen Gang, der ihm beträchtliche Zeit raubte, um Gottes willen zu thun.

In einem medicinischen Zeitungshefte blätternd, saß Doctor Armhalter am offenen Fenster und ließ sich den weichen Abendwind umspielen. Näher kommende Schritte machten ihn aufblicken, und er gewahrte einen stattlichen Mann, der den Fußpfad vom Schlosse her auf seine Wohnung zukam. Die Kleidung des Fremden verrieth den Gutsbesitzer. Er trug einen ziemlich kurzen Reitrock, feine Reitstiefeln mit Sporen und eine starke Gerte mit schwerem silbernen Griff.

Als der Fremde des Arztes ansichtig ward, blieb er einige Schritte vom Hause stehen und grüßte.

»Habe ich das Vergnügen, Herrn Doctor Armhalter zu sprechen?« sagte er, mit dem Knopf der Reitpeitsche tändelnd, und einen ungewöhnlich scharfen und forschenden Blick auf den Arzt heftend.

»Ich heiße Armhalter,« erwiderte der Doctor, den Fremden zum Eintreten nöthigend. »Ich bedauere, daß Sie sich schon einmal umsonst zu mir bemüht haben.«

»Hat ganz und gar nichts zu sagen, Herr Doctor,« erwiderte der Fremde.

»Entschuldigen Sie nur, daß ich Sie zu belästigen durch die Verhältnisse genöthigt werde. Ein Freund von Ihnen, Herr am Ort, hat mich zu Ihnen gewiesen.«

»Sehr verbunden, mein Herr! Und womit kann ich dienen?«

Der Fremde war inzwischen ins Zimmer getreten und nahm den vom Arzte ihm gebotenen Stuhl ungenirt an. Die Reitpeitsche immer spielend zwischen Daumen und Zeigefinger der linken Hand hin und wieder schiebend, fuhr er mit lächelnder Miene, die jedoch eine sich stark bemerkbar machende Verlegenheit nur schlecht verdeckte, fort:

»Es ward mir gesagt, daß ich von Ihnen, Herr Doctor, die Wohnung eines Mannes erfahren würde, der sich im Winkel nennt. Geschäfte von einiger Wichtigkeit machen es mir wünschenswerth, diesen Mann, dessen Wohnung ich bisher nicht auffinden konnte, persönlich kennen zu lernen.«

Der Blick des Fremden, der einigemal scheu das Auge Armhalter’s streifte, gefiel diesem nicht. Als Psycholog glaubte er einen versteckten oder gar einen unredlichen Mann vor sich zu haben. Um jedoch keinerlei Argwohn zu erwecken, erwiderte er völlig unbefangen:

»Allerdings kenne ich einen Mann dieses Namens, indeß habe ich geraume Zeit nichts mehr von ihm gehört. Im vorigen Herbst, kurz vor Weihnachten bin ich zuletzt wiederholt mit ihm zusammengekommen, weil er ärztliche Hülfe von mir in Anspruch nahm.«

»Ganz recht, ganz recht,« unterbrach der Fremde den Arzt. »Gerade davon sprach der Herr Inspector am Ort, und eben deshalb erlaubte sich der genannte Herr mich an Sie zu wenden.«

»Wenn Herr im Winkel sich noch in dem Orte aufhält, wo ich zuletzt mit ihm zusammentraf,« fuhr Doctor Armhalter fort, »so müssen Sie sich bequemen, einen Führer zu engagiren. Die Wege durch Wald und Felsschluchten, die zu diesen ungemein versteckten Waldhäusern führen, sind Unkundigen ganz unzugänglich.«

»So versteckt also wohnt der Herr?« sagte der Fremde. »Ist das Liebhaberei oder verlangt es seine Beschäftigung?«

Der Doctor lächelte.

»Ich denke mir, beide zusammen mögen den bejahrten Mann in die von ihm gewählte Waldeinsamkeit verbannen. Als Arzt habe ich keine Veranlassung danach zu fragen. Meine Pflicht ist, Leidenden, die meine Hülfe wünschen, diese zu Theil werden zu lassen.«

Der Fremde zog seine Uhr.

»In einer guten halben Stunde geht die Sonne unter,« sprach er; »wenn ich nun jetzt aufbreche, könnte ich vor Mitternacht noch den Aufenthalt des Herrn im Winkel erreichen?«

»Wenn Sie ein recht zuverlässiges Thier haben, das sicher auf glatten Pfaden gehen kann, gebrauchen Sie drei Stunden, vielleicht auch etwas mehr.«

»Und wo findet man einen der Wege kundigen Führer?«

»Einen solchen will ich Ihnen gern besorgen. Wem wird derselbe die Ehre haben zu geleiten?«

»Ich bin der Baron von Kaltenstein,« sagte der Fremde, sein unruhiges Auge zu Boden schlagend.

Der Doctor antwortete durch eine kurze, stumme Verbeugung.

»Wenn Sie erlauben, Herr Baron,« erwiderte er, »so begleite ich Sie zum Hause des Mannes, dessen Führung Sie sich unbedingt anvertrauen dürfen.«

Er trat ins Nebenzimmer, durch dessen angelehnt gelassene Thür er den Edelmann gesenkten Hauptes mit großen Schritten auf- und niedergehen sah. Auch hörte er, daß er bisweilen tief aufseuzte, als werde er von schweren Beängstigungen gedrückt.

»Was mag den Herrn wohl zu dem alten, verrufenen Jäger führen?« dachte Doctor Armhalter, während er schnell einen Rock überwarf. »Eine freudige Veranlassung kann es nicht sein. Aber ich bin kein Gewissensrath, mithin will ich mir auch über anderer und noch dazu mir völlig fern Stehender Leid den Kopf nicht zerbrechen.«

Wieder zurück ins Wohnzimmer tretend, fand er den Baron am Fenster lehnend und die rosigen leichten Wölkchen betrachtend, die ein linder West über den Abendhimmel forttrug.«

»Wenn es gefällig ist, Herr Baron,« sprach Doctor Armhalter, »ich bin bereit, Ihnen zu dienen.«

»Sie verbinden mich außerordentlich, Herr Doctor,« erwiderte dieser, dem gefälligen Mann voranschreitend. »Sie sind wohl ein sehr vertrauter Freund des Herrn am Ort?« setzte er hinzu, als die langen Gebäude der Spiegelfabrik über den zerstreuten niedrigen Häusern des Dorfes sichtbar wurden. »Lebt dieser Herr schon lange hier?«

»Er trat seine Stelle als Inspector etwa zwei Jahre vor meiner Niederlassung als Arzt hier an,« versetzte Armhalter, »und ich muß gestehen, daß ich mich freue, einen so vielseitig gebildeten, einsichtsvollen Mann gefunden zu haben. Sieh’ da!« unterbrach er sich, »hier zeigt sich ja schon Ihr Cicerone. Guten Abend, Watzmann, Ihr habt freie Zeit, nicht wahr?«

»Zwölf volle Stunden, Herr Doctor,« entgegnete der Angeredete.

»Ich führe Euch einen Herrn zu, der Euere Dienste in Anspruch nehmen möchte, Watzmann,« fuhr Doctor Armhalter fort, »Ihr wißt ja wohl Bescheid auf allen Waldwegen?«

»Bei Tag und Nacht, bei Sternenschein und in Nebelluft,« sagte der Arbeiter sich in die Brust werfend. »Wohin wünscht der Herr, daß ich ihn geleiten soll?«

»Nach den Schluchten unter dem verfallenen Raubschlosse,« erwiderte der Arzt. »Der Herr wünscht dort jemand zu sprechen, falls der Gesuchte sich noch in den Schluchten aufhält.«

Watzmann nickte, warf einen scharfen Seitenblick auf den Begleiter des Arztes und trat zurück in sein niedriges Häuschen, um sich zu dem nächtlichen Ausfluge in die Waldung zu rüsten.

»Vor dem Hause des Herrn am Ort werde ich Euerer warten!« rief ihm der Edelmann nach. »Ich habe mein Pferd dort stehen lassen.«

»Bin gleich fertig,« erwiderte Watzmann.

»Ich bin Ihnen sehr verbunden,« sagte der Baron zu dem Arzte. »Entschuldigen Sie, daß ich in so aufdringlicher Weise Ihre Vermittelung nachsuchte. Hoffentlich findet sich später einmal eine Gelegenheit, wo ich mich Ihnen erkenntlich zeigen kann.«

Doctor Armhalter wollte von keinem Danke wissen. Er wünschte dem Herrn, daß seine Wünsche in Erfüllung gehen möchten, und forderte Watzmann auf, die nächsten, aber auch die gangbarsten Wege nach den versteckt liegenden Schluchten einzuschlagen.

Den Inspector hatten inzwischen Geschäfte in die Fabrik gerufen, was dem Baron ganz angenehm zu sein schien. Er schwang sich kräftig in den Sattel des Goldfuchses, der seinen Herrn mit frohem Wiehern begrüßte, und ließ das Thier im Schritt dem Führer folgen.

Als die letzten Häuser des Ortes hinter ihnen lagen und ein tiefer, finsterer Hohlweg von Watzmann eingeschlagen ward, der sich in dichten Wald verlor, fragte der Fremde seinen Geleitsmann, ob er die Wohnung des Herrn im Winkel auch zu jeder Stunde zu finden wisse?

Watzmann kehrte sich um und sagte mit unverhohlenem Staunen: »Des Herrn im Winkel? Zu dem Hexenmeister will der gnädige Herr?«

Dieser ließ nicht merken, daß ihm seinerseits die Antwort des Führers auffällig erschien.

»Also für so klug gilt der Mann?« erwiderte er. »Um so besser! Dann kann man sicher sein, von ihm zu erfahren, was man wünscht, und worüber andere, gewöhnliche Menschen keinen Aufschluß zu geben vermögen.«

»Man mag nur nicht gern mit ihm zu thun haben, denn es hat immer einen Haken mit seiner Hülfe,« meinte Watzmann, der sehr gern in Erfahrung zu bringen wünschte, was seinen offenbar vornehmen Begleiter veranlassen möge, den unheimlichen Mann aufzusuchen. »Es wird Schlimmes genug von ihm erzählt, das man nicht gern nachsagt.«

»Auch dann nicht, wenn keine Lauscher vorhanden sind?«

»Der Herr im Winkel hört schärfer als andere Leute!«

»Er ist wohl gar allgegenwärtig?«

»An mehr als einem Orte zugleich ist er schon gesehen worden.«

»Demnach gehört er zu den Doppelgängern. Kennt Ihr ihn?«

»Man hat mir ihn eines Tags gezeigt.«

»Wie alt mag er wohl sein?«

»Dem Ansehen nach würde ich ihn für einen angehenden Sechziger halten.«

»Er ist groß und schlank, nicht wahr?«

»Mehr hager; auch geht er stets etwas gebückt.«

»Lebt er schon lange in seinem jetzigen Versteck?«

»Zwei oder drei Jahre.«

»Und welches Geschäft betreibt er?«

»Geschäft? Hm! Weissagen bringt mehr ein als arbeiten, und wer mit der Springwurzel umzugehen versteht, braucht sich um Einnahmen und Ausgaben nicht weiter zu kümmern.«

Der abschüssige Weg auf schlüpfrigem Gestein verhinderte eine Fortsetzung des Gesprächs. Watzmann mußte den Zaum des Pferdes fassen, um das strauchelnde Thier über die schlimmsten Stellen zu geleiten. Als man diese endlich zurückgelegt hatte, zeigte sich in weiter Ferne matter Feuerschein im Walde.

»Das ist die Richtung, die wir einhalten müssen,« sagte Watzmann. »Links von den Köhlern, die ihre Meiler in Brand gesetzt haben, öffnen sich die Schluchten.«

Der Reiter antwortete dem Führer nicht. Er schien in tiefe Gedanken versunken zu sein; nur seufzen hörte ihn Watzmann zu wiederholten malen.

Nach anderthalb Stunden erblickte man den brennenden Meiler ganz in der Nähe, doch sah man nirgends eine menschliche Wohnung. Watzmann bog links ab in einen feuchten Grund, den bemooste Felsen begrenzten. Ein kleiner Bach rieselte über sandiges Geschiebe. Bald erweiterte sich der Grund, die Felsen traten zurück und ein schmales Thal, von schöngeformten waldigen Hügeln überragt, bildete eine einladende grüne Oase im Walde.

Gezackte Felsen und ein paar riesige geborstene Thurmstümpfe schlossen das Thal.

»Das ist der Eingang zu den Schluchten, Herr,« sagte Watzmann. »In fünf Minuten können Sie dem Herrn im Winkel gegenübersitzen.«

Der Reiter hob sich in den Steigbügeln, um sich bequemer umsehen zu können, er vermochte aber weder Spuren von Anbau noch eine menschliche Wohnung zu entdecken. Plötzlich traten die Felsen wieder enger zusammen und bildeten eine doppelte Schlucht, aus denen jetzt feuchte Nachtluft den Wanderern kältend entgegenwehte. In der engsten dieser beiden Schluchten zeigten sich, an den Felsen angebaut, einige Holzhütten. In der gegenüberliegenden Felswand befanden sich Kelleröffnungen, welche durch Holzthüren verschlossen waren.

Watzmann blieb vor einer der sehr unscheinbaren Holzhütten stehen, hob seinen Stock und fragte den Reiter, ob er klopfen solle.

»Wohnt der Mann hier, den ich sprechen will?« entgegnete dieser.

Watzmann bejahte.

»Dann klopft so stark Ihr könnt!« sagte der Baron.

Watzmann’s Schläge an die verschlossene Thür der Hütte weckten das Echo der Felsen und scheuchten einige schlafende Waldvögel aus ihrer Ruhe auf. Es währte nicht lange, so fragte eine tiefe Baßstimme, ob jemand Einlaß begehre.

»Er ist’s selber – ich hör’s an der Stimme,« sprach der Führer. »Soll ich statt Ihrer Antwort geben?«

»Thut es,« versetzte der Fremde, »und hier nehmt dies für Euere Bemühung!«

Watzmann gewahrte das Blinken eines Silberstücks in der Hand des Reiters. Er nahm es dankend an und sagte entschlossen:

»Ein Freund der Wahrheit wünscht Euern Rath. Er hat Eile und möchte noch vor Tagesanbruch wieder auf betretenen Wegen wandeln.«

Im Innern der Hütte hörte man das Fallen eines Riegels, gleichzeitig schwang sich der Reiter aus dem Sattel.

»Wo bringe ich mein Thier unter während der Unterredung?« fragte er den Führer.

»Dort hinter dem Felsenvorsprung befindet sich eine Scheuer mit Krippe und Futtervorräthen. Ihr Goldfuchs steht da so sicher wie in einem herrschaftlichen Stalle.«

Der Fremde warf seinem Geleitsmanne den Zügel zu, sagte ihm mit kurzen Worten Dank und sah im nächsten Augenblicke die rohe Holzthür der Hütte sich nach innen öffnen. Im Hintergrunde der Hütte brannte ein Licht, und vor diesem regte sich eine hohe, muskulöse Gestalt, deren Gesichtszüge in der dämmerigen Beleuchtung nicht deutlich zu erkennen waren.


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