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FÜNFTES KAPITEL.

EIN VERSCHOLLENER.

Seit dieser Unterredung mit dem Abbé, betrachtete Hildegarde alle Menschen mit mistrauischem Auge, obwohl sie zu weltklug war, ihr Innerstes den sie Umgebenden zu enthüllen. Sie hatte Grund nachzusinnen und vorsichtig zu sein. Je länger sie mit Gräfin Diana verkehrte, desto deutlicher ward ihr der ungeheuere Abstand zwischen dieser wahrhaft vornehmen Dame und der Baronin von Kaltenstein, die sie bis vor kurzem noch für die Vornehmste aller Frauen auf Erden gehalten hatte. Hildegarde machte ferner die Entdeckung, daß die Gräfin von Serbillon eine große angeborene Herzensgüte besitze, die Baronin aber, was sie als solche zur Schau trug, sich nur angeeignet haben müsse. Die Gräfin besaß ein Etwas in ihren Augen, das Hildegarde bald verstummen machte, bald erröthen ließ, bald ihr sogar Thränen entlockte. Sie fühlte sich in der Nähe Diana’s immer unendlich glücklich und dennoch gedrückt, gedemüthigt, gebrochen. Es kam ihr vor, als sei sie nicht würdig, dieser reinen hohen Gestalt, dieser untadelhaften Seele gegenüber dauernd zu weilen. Eine ähnliche Empfindung hatte sie im Umgange mit der Baronin niemals empfunden. Mit dieser konnte sie scherzen, lachen, ja sich sogar kleine Unarten erlauben, weil Clotilde diese für Auslassungen einer originellen und naiven Natur eher lobte als tadelte.

Woher rührte dieser auffallende Unterschied zwischen Frau und Frau, die doch beide der vornehmen Welt angehörten und gleichen Anspruch in Bezug auf gesellschaftliche Stellung machten?

Diese Frage begann jetzt Hildegarde zu peinigen, weil ihr jeder Anhaltepunkt für eine völlig zutreffende Bemerkung fehlte.

Lange hatte das junge Mädchen nicht an Tante Kathrine gedacht, jetzt aber stand die unliebenswürdige Person mit ihrem hagern, blatternnarbigen Gesicht und den kalten stechenden Augen vor ihr, wie ein warnender Geist, der sich ihr drohend und grollend nahte. Sie sah die große Gestalt mit dem Hausschlüssel in der Hand ein paar mal in solcher Lebendigkeit vor ihrem aufgeregten Geiste, daß sie vor Angst laut aufschrie.

Wie denn kam es, daß gerade diese Person, die sie unter allen ihr bekannten Menschen am meisten verabscheute, sich ganz wider Willen, ganz ungerufen in ihre Lebenskreise drängte? Dachte die Tante vielleicht so oft an die ferne, verschollene Nichte? Oder war sie krank und die Sehnsucht einer Sterbenden verlangte noch einmal nach dem einzigen Kinde des einzigen Bruders, damit sie diesem am Rande des Grabes versöhnend die Hand reiche?

Antwort auf diese wie blasse Nebel in ihrer Seele aufsteigende Fragen fand Hildegarde, ohne daß sie sich anzustrengen brauchte. Sie sagte es sich widerstrebend, daß nicht Tante Kathrine es sei, die sich nach ihr sehnte, sondern daß ihr eigener Geist über die längst verklungenen Worte derselben gebeugt saß, die eines Tags Kathrinens Mund gesprochen hatte und die jetzt in feurigen Buchstaben vor ihrem Auge flammen.

Die Schwester ihres eigenen Vaters gab der Baronin von Kaltenstein ehrenrührige Namen und ihr Vater widersprach der Erbitterten nicht! ... Der junge Baron war das adoptirte Kind eines nahen Verwandten – Hildegarde hatte dies oft genug aus Clotildens eigenem Munde gehört – und dieser junge Mann hatte dieselben tiefen, schwärmerischen Augen, die ihr in dem Bilde des schönen Mannes in der Uniform des polnischen Rittmeisters aufgefallen waren! ... Konnte dieser angenommene fremde Knabe nicht ein Verwandter des Unbekannten sein, ja, konnte er nicht auch dem Abbé nahe stehen, der eine nicht weniger große, wenn auch ganz andere Aehnlichkeit sowohl mit dem Porträt im Ahnensaale des Schlosses Hammerburg als mit Adolar besaß? ...

Die Gräfin sah es gern, daß ihre Schutzbefohlene, zu der sie sich eigenthümlich hingezogen fühlt, von Polen sprach. Ihre Zuneigung zu dem interessanten Mädchen wuchs noch durch die Theilnahme, welche dasselbe der so ruhmvollen und doch auch wieder so traurigen Geschichte ihres Vaterlandes schenkte.

Hildegarde fand dadurch oft Gelegenheit, mit Gräfin Diana über Polens Vergangenheit sich zu unterhalten. Da sie die Namen einiger hervorragender polnischer Familien kannte, so nannte sie dieselben und fragte, ob diese auch in der Gegenwart noch blühten. Auf diese Weise kam sie naturgemäß auf die Familie des Abbé, dessen Geschlechtsname ihr jedoch entfallen war. Die Gräfin griff diese Erwähnung sogleich auf und sagte mit großer Wärme der Empfindung:

»Der gute Abbé hat also auch gegen dich seiner schrecklichen Jugendzeit gedacht? O, er ist unendlich gut, aber recht sehr unglücklich! Wie entsetzlich, Vermögen und Verwandte zu verlieren, und um wie viel entsetzlicher noch zu wissen, daß man diese Verluste heuchlerischen Freunden, Verräthern, Verführern schuld geben muß! Dieser abscheuliche Oberst Stanislaus Wertschinsky! Er ist der eigentliche Vernichter des ganzen, weit verbreiteten altpolnischen Wojwodengeschlechts Ludomirsky!«

»Ludomirsky?« wiederholte aufhorchend die kluge Hildegarde. »Diesen Namen hörte ich nicht von dem Herrn Abbé nennen.«

»Das sieht ihm ganz ähnlich,« fuhr die Gräfin fort. »Er selbst pflegt denselben auch nicht mehr zu führen, sondern hat ihn mit dem Empfang der Priesterweihe ins Grab gelegt. Er ist und bleibt aber nichtsdestoweniger ein echter Ludomirsky und der letzte bis jetzt bekannte Träger dieses Namens.

Hildegarde senkte ihre Augen auf die Stickerei, mit welcher sie beschäftigt war, denn dieser Name kam ihr nicht ganz fremd vor. Ob sie aber denselben in frühern Jahren zufällig einmal in irgendeinem Blatte gelesen oder ob jemand, der ihr völlig gleichgültig war, ihn genannt hatte, wußte sie nicht anzugeben.

Nach kurzer Pause sah sie die Gräfin mit möglichster Unbefangenheit an und sagte:

»Finden Sie nicht, gnädige Frau Gräfin, daß der Herr Abbé mehr als einem Manne ähnelt?«

»Wo denkst du hin, mein Kind!« versetzte Diana lächelnd. »Mir ist noch niemand begegnet, in dem ich auffallende Aehnlichkeit mit den Zügen des Abbé hätte entdecken können, es müßte denn vielleicht ein Mann der Kirche sein. Aber katholische Priester kennst du ja nicht, da du leider der protestantischen Kirche angehörst!«

Sie seufzte leise, während Hildegarde ihr sanft erröthendes Antlitz abermals über die Stickerei beugte.

»Es mag wohl daher kommen, daß ich überhaupt wenig Männer kennen lernte,« sagte sie leise, »und daß ich die wenigen, mit denen ich zusammentraf, alle einander ähnlich finde.«

Die Gräfin war genöthigt, das Gespräch abzubrechen, da sie dicht vor der Thür die Stimmen ihres Gatten und des alten Malachowsky vernahm, der mit Ungeduld neuen Nachrichten vom Kriegsschauplatze entgegensah, um je nach deren Inhalt seine Entschließung zu fassen. Beide Männer sprachen sehr lebhaft, offenbar aber nicht von politischen Dingen.

»Es ist seltsam, äußerst seltsam, sag’ ich Ihnen, Herr Graf!« sprach der Oberst, ins Zimmer tretend und die am hohen Bogenfenster sitzenden Damen galant begrüßend. »Der Abbé richtete zuerst eine Frage an mich, die mich neugierig machte, und da ich ihm nicht glauben wollte, führte er mich persönlich durch sein Studirzimmer in den so sehr vernachlässigten Saal. Ich sage Ihnen, wie aus den Augen geschnitten!«

Diese letzten Worte machten sowohl Hildegarde wie auch die Gräfin aufhorchen und letztere warf sogleich die Frage hin:

»Von wem ist denn die Rede, Herr Oberst?«

»Verzeihen Sie, Gräfin,« fuhr der alte Pole fort, zwei Stühle in die Nähe der arbeitenden Damen stellend, von deren einem er selbst Gebrauch machte, während der Graf lächelnd hinter der Lehne des andern stehen blieb. »Durch ein glückliches Ungefähr bin ich in den Ahnensaal der frühern Besitzer dieses Schlosses gerathen. Es sieht so wüst aus, daß man lieber nicht hineinblickt, viel weniger sich lange darin aufhält ... «

»Du weißt,« fiel hier Graf von Serbillon ein, »daß ich mich längst schon mit dem Gedanken trage, diese alte Halle, offenbar den ältesten Raum des ganzen Schlosses, restauriren zu lassen, um die Porträts unserer beiderseitigen Vorfahren darin aufzustellen. Nur die Scheu vor der Unruhe eines solchen Baues und – ich will es nicht leugnen – auch eine gewisse Furcht, etwas Unrechtes zu thun, hielt mich bisher ab, meinen Entschluß zur Ausführung zu bringen.«

»Welche Furcht, lieber Achilles?« warf Diana ein.

»Die Furcht vor einer abergläubischen Meinung,« fuhr der Graf fort. »Ahnenbilder entfernt man nicht gern aus Orten, wo sie von Anfang an aufgestellt wurden, sofern nicht die Noth unvorhergesehener und unabwendbarer Ereignisse es gebietet. Eine solche Entfernung von alten Bildern würdiger Menschen hält man für wenig besser als die Einweihung von Grüften, jedenfalls dürfte sie dem Hause, dessen ursprünglichen Erbauern sie gilt, keinen Segen bringen.«

Diana schalt ihren Gatten einen Schwärmer, ohne sich Mühe zu geben, ihm eine andere Meinung beizubringen oder nur entgegenzuhalten. Zugleich wandte sie sich dem alten Oberst zu und richtete an diesen die Frage, was ihm denn in dem von ihr selbst noch nie besuchten Saale der Ahnen von Hammerburg so auffällig gewesen sei?

»Ein einziges Porträt, gnädige Frau,« erwiderte der polnische Emissar, »das Bild eines jungen Mannes, den ich für einen Landsmann halten muß.«

»Das Porträt eines Polen?« sagte ungläubig Diana, während Hildegarde mit halboffenem Munde und wunderbar großen Augen an den Lippen des alten Obersten hing.

»Ich erkläre mir diesen auffallend erscheinenden Zufall ganz einfach,« bemerkte Graf von Serbillon. »Der junge Mann, den das im Ahnensaal befindliche Porträt darstellt, wird einer jener Beklagenswerthen gewesen sein; die mit den flüchtenden Franzosen als Verwundete hier ein Unterkommen fanden, von den Besitzern des Schlosses mit Liebe gepflegt und, als er später doch seinen Wunden erlag, nach seinem Tode zum Andenken und aus Dankbarkeit im Bilde neben den Ahnen der Herren von Hammerburg eine Stelle erhielt. Das Porträt befindet sich, wie Sie bemerkt haben werden, liebster Oberst, neben dem lebensgroßen Gemälde des letzten Besitzers dieses Schlosses.«

»Ganz recht, Herr Graf,« erwiderte der Pole. »Das ist es auch nicht, was mich in Aufregung versetzt, die Aehnlichkeit nur gibt mir zu denken und diese Aehnlichkeit weiß ich mir gar nicht zu deuten.«

Da die Gräfin noch immer den Sinn all dieser Andeutungen nicht zu fassen vermochte, flocht der Graf die Bemerkung ein, daß ihr Gast die Entdeckung gemacht habe, das Porträt des unbekannten Polen ähnele dem Abbé.

»Dem Abbé?« wiederholte Diana, indem sie sogleich, zu Hildegarde gewandt, hinzufügte: »Und dein dem Abbé ähneln sollender Mann? Verbirgt er sich etwa auch in jenem Bilde?«

Hildegarde schwieg, tief erröthend, ein nur flüchtiger Augenaufschlag aber gestand der Gräfin, daß sie die Wahrheit errathen habe.

»Man wird doch nicht hinter meinem Rücken Verschwörungen oder noch etwas Schlimmeres anzetteln!« sprach Diana heiter. »Der gute Abbé geräth auf gefährliche Abwege; er läßt sich von den Augen eines Bildes bezaubern und hat nichts Eiligeres zu thun, als auch andere an diesem Zauber mit theilnehmen zu lassen! Was würde meine vertrauensvolle Freundin Clotilde von Kaltenstein sagen, wenn sie wüßte, daß ihr Schützling vor gemalten jungen Männern steht und sich in deren etwas lebhaft gerathenen Blicken berauscht! ... Ich werde dich bitten, lieber Achilles, den gefahrvollen Ahnensaal, wo es demnächst wahrscheinlich spuken wird, von jetzt an fest verschlossen zu halten.«

Die Erwähnung der Baronin setzte Hildegarde in eine Verlegenheit, die sie nicht ganz verbergen konnte.

Dem scharfen Auge der Gräfin entging die innere Unruhe ihrer Pflegebefohlenen nicht, und sie beobachtete dieselbe deshalb mehr als sonst. Auch dem Grafen fiel Hildegardens Benehmen aus, da er gar nicht ahnte, was für das fremde junge Mädchen das Bild des jugendlichen, polnischen Rittmeisters in dem düstern Saale Erregendes haben könne.

»Hätte ich gewußt,« erwiderte er auf die Bemerkung seiner Gemahlin, »daß die in das Zimmer des Abbé führende Thür unverschlossen sei, so würde ich es wahrscheinlich vorgezogen haben, dieselbe abschließen zu lassen, ich glaube sogar, der gute Abbé, hätte mich selbst darum gebeten, denn es gehört durchaus nicht zu den Annehmlichkeiten des Lebens, am wenigsten für Männer, die ihre Gedanken stets mit den ernstesten und wichtigsten Gegenständen beschäftigen, in unmittelbarer Nähe eines Raumes zu wohnen, der mit alten Bildern gefüllt ist, und von denen einige Persönlichkeiten darstellen, die wohl nicht immer den allergeradesten Weg der Tugend gewandelt sein mögen. Den grübelnden Gelehrten, den Denker und Forscher kann, besonders bei nächtlicher Weile, wenn allerwärts Stille herrscht, leicht ein Grauen überfallen, das einer stark erregten Phantasie Schreckgestalten vorspiegelt. Der gute Abbé ist ohnehin sehr zum Grübeln geneigt. Wir kennen die Veranlassung dazu und schon deshalb ist es unsere Pflicht, ihm nicht Gelegenheit zu geben, die ihn in diesem Hange noch bestärken könnte. Aber wir kommen ganz von dem eigentlichen Thema unsers frühem Gespräches ab,« unterbrach der Graf seine eigenen Betrachtungen. »Sie sprachen von einer Aehnlichkeit, Oberst, welche Sie in dem Bilde des jungen Mannes entdeckt haben wollen. Lassen Sie doch hören, was es mit dieser vermutheten Aehnlichkeit für eine Bewandtniß hat?«

»Als ich mit einer Abtheilung meiner vaterländischen Lanciers dem Heere Napoleon’s nach Rußland folgte,« versetzte der Gefragte, – »traf ich im Bivouak wiederholt mit einem jungen Offizier zusammen, der mir in mehr als einer Beziehung Interesse einflößte. Er gab vor, von Geburt Pole zu sein, sprach auch unsere Sprache meisterhaft, und doch führte er einen deutschen Namen.«

»Er wird eine Polin zur Mutter gehabt haben,« warf der Graf ein.

»Ohne ihn direct mit Fragen zu belästigen,« fuhr der alte Oberst fort, »erfuhr ich bald seinen Namen. Er hieß Sigismund Geldern.«

»Geldern?« fiel Hildegarde ein.

»Kennen Sie eine Familie dieses Namens?« gegenfragte der Pole.

Hildegarde, ihren unvorsichtigen Ausruf bereuend, verneinte, und die etwas beunruhigte Gräfin glaubte in der unbefangenen Miene ihrer Pflegebefohlenen zulesen, daß diese Verneinung keine Unwahrheit enthalte.

»Dieser Geldern war ein seltsamer Mensch. Bald sah man ihn ausgelassen heiter, zu jedem Wagniß aufgelegt, für alles Abenteuerliche enthusiastisch erglühend; dann wieder konnte er stunden- ja tagelang von allem Umgange sich zurückziehen und seinen, wie er selbst sagte, melancholischen Gedanken nachhängen. Was den liebenswürdigen, tapfern und durchaus braven Mann in solchen Stunden der Trübsal quälte, darüber sprach er sich gegen niemand aus. Nur einmal – es war am Tage vor dem blutigen Treffen von Borodino – ward eine elegische Stimmung Herr über den finstern Geist, der ihn so häufig heimsuchte. Die Nähe des Todes, der sich Tausende der Unserigen schon zur Beute erkoren hatte, stimmte ihn weicher, und er ward, ohne daß irgendeiner von uns andern in ihn drang, gesprächig. ›Kinder!‹ rief er plötzlich aus, sich vom Lagerfeuer, um das wir gruppirt saßen, erhebend, ›ich wünschte, der nächste Tag brächte mir einen ruhmvollen Tod! Es ist ein schreckliches Schicksal, weder Vater, noch Mutter, noch Vaterland zu haben, und dennoch zu wissen, daß man ebenso berechtigt, wie jeder andere ist, dieser drei höchsten Güter der Erde nicht unwerth zu sein! Ich bin ein verloren gegangenes, vielleicht gar ein ausgesetztes Kind. Das letztere scheint mir das Wahrscheinlichere zu sein, denn diejenigen, die sich meiner annahmen, fanden auf meiner Brust gebunden ein Päckchen von blauer Seide, das außer einem goldenen Reife einen Zettel enthielt, auf dem nur die Worte standen: ›Dieser Knabe ist ein Pole und heißt Sigismund Geldern.‹ Seht Kameraden, das ist alles, was ich von mir, meiner Abstammung, meiner Familie weiß. Mein Familienname klingt deutsch, er kann aber auch niederländisch sein; bin ich trotzdem ein Pole, so muß meine Mutter polnischen Ursprunges gewesen sein. Wie es kommt, daß ich noch bis zu dieser Stunde die Hoffnung in mir trage, ich werde meine Aeltern, ganz gewiß aber meine Mutter noch einmal wiederfinden, kann ich mir selbst nicht erklären. So oft diese Hoffnung mich recht mit Freude erfüllt, bin ich heiter und glücklich, verläßt sie mich, dann befällt mich die schwärzeste Melancholie und das Leben ist mir eine peinigende Last. Ich komme mir dann vor wie eine Seele, die dem Herrn Himmels und der Erde zufällig entfallen ist, und die nun hier auf dieser verwilderten Welt herumirren muß, bis sie entweder in der Liebe einer andern Seele eine neue Heimat findet, oder bis der Zufall, der sie ins Leben rief, sie auch wieder auslöscht. Ich würde glauben, nicht umsonst gelebt zu haben, wenn mich auf einer im Sturm eroberten Schanze eine feindliche Kugel mitleidig niederstreckte.‹

»Die Donner der Schlacht und die weitern Ereignisse, welche sich an den Sieg der großen Armee knüpften, ließen mich sowohl die Erzählung des jungen Mannes wie diesen selbst vergessen. Ich bin ihm nie wieder begegnet und glaubte, er habe an jenem furchtbaren Tage wirklich den Tod gefunden. Erst heute, als ich das Bild erblickte, mußte ich des verschollenen Kameraden unwillkürlich gedenken. Die Uniform abgerechnet – Sigismund Geldern war damals erst Lieutenant – trägt es ganz seine Züge, und ich bin genöthigt, anzunehmen, daß er auch den spätern kriegerischen Ereignissen noch beigewohnt hat und endlich hierher verschlagen worden sein mag.«

Unter sämmtlichen Anwesenden hatten diese Anführungen des alten Polen nur für Hildegarde eine tiefere Bedeutung. Durch sie erhielt ihr eigenes Leben erst einen Inhalt, die Eröffnungen des Abbé ließen sie in ein wirres Chaos vielleicht furchtbarer Geheimnisse blicken, die kärglichern Mittheilungen des Obersten halfen diese noch vermehren, und wenn sie der Gerüchte gedachte, welche über die Baronin von Kaltenstein umliefen, ohne daß sich je ein Mensch gefunden hatte, der auch nur den Versuch machte, sie zu widerlegen, so durfte sie sich wohl für eine vom Schicksal auserwählte Mittelsperson hatten, um die Widersprüche in dem Leben ihr so nahe gerückter Menschen aufklären, die Dissonanzen, die sich so grell darin bemerkbar machten, auflösen zu helfen. Sie bedauerte nur, daß der Abbé bei dem Vortrage des Obersten nicht zugegen war, denn sie glaubte überzeugt sein zu dürfen, daß sich dieser feurige Priester mit ruhigem Anhören des Vernommenen nicht zufrieden gegeben haben würde.

Graf Serbillon, durch die warme Theilnahme, welche er allem schenkte, was mit Polen und polnischen Familien zusammenhing, angeregt, ward nach dieser letzten Mittheilung selbst begierig, etwas Näheres über die Schicksale des Rittmeisters zu erfahren, der, obwohl ein Fremdling, gleichsam die Reihe der Herren von Hammerburg schloß. Große Hoffnung, dem Lebensgange eines Heimat, Aeltern- und Verwandtenlosen nachzuspüren, war freilich nicht vorhanden, indeß konnten sich möglicherweise doch Andeutungen auffinden lassen, aus denen sich etwas Weiteres ergab.

Bei der Uebernahme des Schlosses waren dem Grafen nämlich alle auf dessen Geschichte bezüglichen Papiere mit ausgehändigt worden. Diese lagen ungeordnet in einer Kammer, denn da von der Familie Hammerburg kein Sprößling mehr lebte, hatte sich ihr Werth beträchtlich verringert. Graf Serbillon wußte ferner, daß sein Vorfahr im Besitze des Schlosses unverheirathet gewesen war, daß er die Kriege unter Napoleon mitgekämpft hatte und daß er mithin auf dem Feldzuge in Rußland den jungen Mann leicht kennen gelernt und ihn lieb gewonnen haben konnte. Eine Durchsicht dieser Papiere lieferte also, wenn ihn das Glück begünstigen sollte, vielleicht den Schlüssel zur Eröffnung eines seltenen Geheimnisses.

»Gedulden wir uns eine Weile,« sprach er, als der Oberst seine kurze Erzählung endigte, »die Zeit wird schon Licht in das dunkle Leben eines geheimnißreichen Mannes bringen, den wir unter die Todten zählen müssen. Wenn nur der gute Abbé in seinem Eifer, Aufschluß über die noch am Leben befindlichen ältern Mitglieder seiner Familie zu erhalten, die entdeckten dünnen Fädchen, die sich uns zeigen, nicht zerreißt, ehe wir sie noch ordentlich fassen können! Darum möchte ich bitten, das eben Vernommene allseitig dem Abbé gegenüber einstweilen noch geheim zuhalten.«

Diese Bitte war vornehmlich an Hildegarde gerichtet, deren stark geröthetes Gesicht und glänzende Augen eine Aufregung verriethen, die zu bekämpfen dem jungen Mädchen, das ja täglich ihre Lectionen bei dem Abbé nahm, schwer fallen konnte. Es hätte indeß einer solchen Aufforderung nicht bedurft, denn im ganzen Schlosse lebte mit Ausnahme des Abbé Kasimir niemand, dem mehr daran gelegen war, unbemerkt verloren gegangenen Spuren der Vergangenheit nachzuforschen, als Hildegarde. Ihr schlauer Geist, früh durch die nicht immer vortheilhaft auf ihre Herzensbildung wirkenden zu freien Unterhaltungen mit der Baronin geweckt, fand einen Weg, der ihre Wißbegierde befriedigen konnte. Sie schrieb einen langen Brief an ihre mütterliche Freundin, in welchem sehr viel von dem Abbé, einiges in scherzhafter Weise, die aber manches zu errathen übrig ließ, und außerdem nach allen Seiten hin zu denken gab, von einem Bilde, endlich ganz beiläufig von den polnischen Gästen die Rede war, welche häufig in Schloß Hammerburg ab- und zugingen. Diesen Brief übergab sie der Gräfin, damit dieselbe ihn an die Adresse weiter befördere.

Die Baronin von Kaltenstein hätte noch so keck und übermüthig sein müssen wie damals, als sie die Bekanntschaft ihres gegenwärtigen Gatten machte, hätte dieser Brief ihr verrathen sollen, daß die hingebend liebevolle, von ihren Talenten und Kenntnissen entzückte Hildegarde sich für sie in eine gefährliche Spionin zu verwandeln beginne.


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