Henryk Sienkiewicz
Die Familie Polaniecki
Henryk Sienkiewicz

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Achtundsechzigstes Kapitel

Am Sonnabend, zu sehr später Stunde langte Polaniecki mit seiner Familie auf Krzemien an. Die Dienerschaft überreichte ihnen Brot und Salz, dann besichtigte Marynia unter Lachen und Weinen alle Winkel des Hauses und konnte dadurch vor Erregung erst nach Tagesanbruch einschlafen. Aus diesem Grunde gestattete Polaniecki ihr nicht, am andern Morgen früh aufzustehen; da sie indessen zum Hochamt nach Watory fahren wollte, versprach er ihr, sie zeitig zu wecken. Mittlerweile begab er sich nach dem Frühstück ins Freie, um seinen neuen Besitz in Augenschein zu nehmen.

Es war ein herrlicher Tag in der ersten Hälfte des Monats Mai. In der Nacht hatte es geregnet, jetzt aber brach die Sonne durch die Wolken, so daß alles in ihren Glanz getaucht zu sein schien. In den Gebäuden der Vorwerke war des Sonntags wegen wenig Leben zu bemerken, nur in den Pferdeställen und Remisen sah er einige Knechte damit beschäftigt, die Pferde und den Wagen zur Kirchfahrt herzurichten. Die Stille und Ruhe um ihn her berührten Polaniecki eigentümlich. Er schritt weiter und weiter, und bei jedem Schritt fiel es ihm mehr auf, wie sehr das Gut vernachlässigt war. Die Gebäude hatten sich teilweise gesenkt, die Mauern waren durchlöchert, die Zäune verfault oder zerbrochen, in den Schuppen lag altes Werkzeug und alter Hausrat umher. Der Boden schien nicht gehörig ausgenutzt zu sein, überall zeigte sich der größte Verfall. Zwar verstand Polaniecki sehr wenig von der Landwirtschaft, aber er gelangte zu der Ueberzeugung, daß die Felder mit verdoppeltem Fleiße bebaut werden mußten, wollte man die bisherige Fahrlässigkeit wieder gutmachen. Denn wenn hier überhaupt etwas gethan worden war, so war es nur aus Gewohnheit, einer gewissen Routine zufolge gethan worden, oder vielleicht deshalb, weil man vor zehn, zwanzig oder zweihundert Jahren dasselbe gethan hatte. Von der Spannkraft, Energie und Umsicht, welche den Erfolg eines Unternehmens verbürgen, war hier nichts zu bemerken. »Und wenn ich nur Leben und Bewegung in diesen stagnierenden Zustand brächte, hätte ich schon sehr viel gethan!« dachte Polaniecki. »Glücklicherweise habe ich auch Geld und bin vernünftig genug, um zu wissen, daß ich nichts weiß und noch viel lernen muß. Also frisch aus Werk!«

Unwillkürlich blieb er stehen. Er hatte sich weiter vom Hause entfernt, als in seiner Absicht gelegen war. Ein Blick auf seine Uhr belehrte ihn, daß sie sich zur Fahrt rüsten mußten, falls sie noch vor dem Hochamt in Watory sein wollten. Daher eilte er rasch zurück und an Marynias Thüre klopfend rief er: »Frau Gutsbesitzerin, machen Sie sich bereit zum Gottesdienst!«

»Herein!« ließ sich Marynias heitere Stimme vernehmen, »ich bin schon bereit.«

Als Polaniecki eintrat, sah er sie in einem hellen Frühjahrskleide vor sich stehen, das dem glich, welches sie bei seinem ersten Besuche in Krzemien angehabt. Sie hatte sich absichtlich so angezogen, und zu ihrer großen Befriedigung bemerkte er dies sogleich, denn er breitete die Arme aus und rief: »Fräulein Plawicki!«

Errötend näherte sie sich ihm, drückte ihr rosiges Näschen an seine Wange und zeigte mit der Hand auf das Bettchen, worin der kleine Stas schlummerte.

Hierauf fuhren sie mit Papa Plawicki nach Watory. Ein linder Luftzug wehte, im Walde ließ sich der Kuckuck hören, langbeinige Störche stolzierten über die Wiesen, Gimpel und Elstern flogen von Ast zu Ast. Polaniecki und seine Gattin waren von ihren Erinnerungen in Anspruch genommen. Marynias Vorliebe für das Landleben, ihre Freude an Wiesen und Wäldern, am heimatlichen Boden, an den Feldern und Früchten, an der frischen Luft und dem weit ausgedehnten Horizont erwachten jetzt mit neuer Kraft, und unendliche Wonne erfüllte sie. Polaniecki hingegen gedachte der Zeit, da er mit Plawicki auf demselben Wege zur Kirche gefahren war. Jetzt nannte er das anmutige junge Wesen, das er damals zum ersten Male gesehen, sein eigen, und er erkannte dankbar die Veränderung an, welche durch den Einfluß dieser edlen Seele mit ihm vorgegangen war, er sagte sich, daß durch sie ihr jetziges Leben sich zu einem so heiteren, sonnigen gestaltet hatte.

Als sie in Watory ankamen, wurde gerade zum Hochamt geläutet. Das Mittelschiff der Kirche war gedrängt voll von Bauern und erfüllt von Weihrauchduft. Derselbe Priester, den Polaniecki schon früher gesehen, celebrierte, dieselben Birkenzweige schlugen wie damals, vom Winde leise bewegt, an die Fenster. »Alles vergeht,« dachte Polaniecki, »Freude und Schmerz, Furcht und Hoffnung, es wandeln sich die Ideen, ja ganze, philosophische Systeme, – nur die Messe wird nach altem Modus abgehalten, als ob sie allein von ewiger Dauer wäre.« Und als sein Blick auf Marynia fiel, deren Antlitz voll Inbrunst dem Altare zugewendet war, da wußte er, daß sie mit ganzer Seele Glück und Segen für ihr künftiges Leben vom Himmel erflehte.

Nach der Messe, beim Ausgang aus der Kirche, wurden sie von den in der Umgegend wohnenden Bekannten Herrn Plawickis und Marynias begrüßt. Vergebens schaute sich aber der erstere nach Frau Jamisz um, denn sie befand sich seit einigen Tagen in der Stadt, der Rat hingegen, der vollständig von seinem Magenkatarrh geheilt und ganz verjüngt war, kam freudestrahlend auf Marynia zu.

»Meine liebe Schülerin, meine liebe Marynia!« rief er, ihr die Hand küssend. »Kehren die Vögel doch wieder zu ihrem Nest zurück? Wie jung Sie aussehen! Wahrhaftig ein Backfisch, obwohl der Junge schon auf der Welt ist.«

Marynia errötete vor Vergnügen, aber in diesem Augenblick trat Gątowski mit seiner gewöhnlichen Unbeholfenheit und Befangenheit auf sie zu, offenbar von neuem entzückt über die Schönheit Marynias und betrübt über das ihm versagte Glück. Auch Marynia begrüßte ihn mit einer gewissen Verlegenheit, während Plawicki ihm etwas herablassend die Hand reichte und sagte:

»Ei, da treffe ich ja einen alten Bekannten. Nun, wie geht's?«

»Bei mir ist alles beim alten,« entgegnete Gątowski.

Als Marynia, welche Herrn Jamisz ihre frühere Anhänglichkeit bewahrt hatte, erfuhr, daß er Strohwitwer sei, lud sie ihn zum Mittagessen ein, und Plawicki forderte auch Gątowski auf, daran teilzunehmen, da er der früheren sonntäglichen Spielpartien mit ihm eingedenk war und sich dadurch dafür zu entschädigen hoffte, daß er die Frau Rätin nicht in Watory getroffen hatte. Polaniecki und Marynia brachen zuerst auf, da letztere noch einige Anordnungen treffen wollte, ihnen folgten Herr Plawicki und der Rat, und zuletzt kam Gątowski auf seiner mit sehr mageren Pferden bespannten Britschka.

Unterwegs sagte Herr Plawicki zu Herrn Jamisz: »Ich könnte nicht sagen, daß meine Tochter glücklich ist. Er ist ein guter Mensch, hat auch viel Energie, aber . . .«

»Aber was?« fragte Herr Jamisz.

»Aber er hat einen Sparren! Erinnern Sie sich, wie er mich wegen der elenden zwanzigtausend Rubel drückte, bis ich Krzemien verkaufen mußte? Und nun hat er dasselbe Krzemien wieder gekauft . . . Hätte er mich nicht so gedrückt, so wäre der Kauf unnötig gewesen, denn er hätte das Gut nach meinem Tode umsonst bekommen . . . Ein guter Mensch, aber hier (Plawicki schlug sich mit der Hand an die Stirn) ist es nicht ganz richtig mit ihm! Was wahr ist, darf man sagen! Nicht?«

»Hm!« entgegnete der Rat, der seine Ansicht, daß Krzemien überhaupt nicht mehr existierte, wenn es länger im Besitze Plawicki's geblieben wäre, nicht aussprechen wollte.

»Und für mich, den Greis, erwächst nun neue Mühe und Arbeit,« setzte Plawicki mit einem Seufzer hinzu; »denn ich muß nun doch wieder an alles denken, für alles sorgen.«

Unter solchen Gesprächen fuhren sie vor der Veranda an – Marynia, die ihre Anordnungen schon getroffen hatte, kam ihnen mit dem Kinde auf dem Arme entgegen.

»Ich wollte Ihnen meinen Sohn vorstellen, bevor wir zu Tische gehen,« sagte sie. – »Ist er nicht schon groß und brav?«

Bei diesen Worten wiegte sie ihn in ihren Armen und hielt ihn dann Herrn Jamisz hin. Aber kaum machte dieser Anstalt, ihn zu nehmen, als das Kind sein Gesichtchen verzog und ein solch mörderisches Geschrei anhob, daß es hinweggebracht werden mußte.

Mittlerweile war auch Herr Gątowski angelangt. Bei Tische drehte sich die Unterhaltung hauptsächlich um Krzemien.

»Sie kommen aufs Land, ohne viel von der Landwirtschaft zu verstehen,« sagte Herr Jamisz zu Polaniecki gewendet, »aber Sie sind mit dem ausgerüstet, was im allgemeinen unsern Grundbesitzern fehlt. Sie haben Kenntnisse von der Verwaltung und besitzen Kapital; deshalb hoffe und glaube ich, daß Sie das Gut emporbringen werden. Ihre Rückkehr ist eine unendliche Freude für mich, nicht um Ihretwegen, sondern weil sie auch meine liebe Schülerin in die Heimat geführt hat und weil sich überdies meine früher ausgesprochene Ansicht bestätigt, daß zwar die Mehrzahl der ältern Generation den ererbten Grund und Boden verlassen muß, unsere Söhne und Enkel aber doch wieder zurückkehren. Und sie kommen zurück, wohl befähigt zum Kampf ums Dasein, zum Rechnen mit den bestehenden Verhältnissen und zur Arbeit wie ihre Vorfahren. Erinnern Sie sich, daß ich Ihnen einst sagte, ›die Erde ziehe uns förmlich an und in ihr allein wurzle aller Reichtum‹? Damals waren Sie anderer Meinung, und jetzt – sehen Sie – sind Sie Eigentümer von Krzemien.«

»Durch sie und für sie bin ich's geworden!« erwiderte Polaniecki, auf seine Frau zeigend.

»Durch sie und für sie!« – wiederholte der Rat. »Glauben Sie, daß ich bei der Aufstellung meiner Theorie nicht auch an die Frauen dachte, und daß ich nicht weiß, wie sehr wir sie schätzen müssen? Sie weisen uns auf unsere wahre Aufgabe hin, und diese ist die Bebauung des heimatlichen Grund und Bodens.«

Herr Jamisz, welcher gleich vielen andern die Schwäche hatte, sich selbst gern zu hören, drückte die Augen zu und fuhr dann fort: »Ja, durch Ihre Frau sind Sie zurückgekehrt, ihr Verdienst ist es allein. Und ein solches Weib sollte man in Gold fassen lassen! Euern Grund und Boden, von dem Ihr einst auszogt, habt Ihr wieder in Besitz genommen. Fürwahr, wir alle sollten in unserm Wappen einen Pflug führen! Und das muß ich noch erwähnen, daß wir heute nicht nur die Rückkehr des Herrn Stanislaus Polaniecki, der Frau Marynia Polaniecki, sondern die Rückkehr der Familie Polaniecki feiern, weil der Geist des früheren Geschlechtes in ihr erwacht ist, das auf dieser Scholle aufwuchs und dessen Staub diese Scholle befruchtet.«

Bei diesen Worten stand der Rat auf, erhob sein Glas und rief: »Auf das Wohl der Familie Polaniecki!«

»Auf das Wohl der Familie Polaniecki!« stimmte Herr Gątowski bei, der ein sehr weiches Herz hatte und nun, durch die Rede des Herrn Jamisz gerührt, der Familie Polaniecki verzieh, was er ihretwegen durchgemacht hatte.

Und alle begaben sich mit ihren Gläsern zu Frau Marynia, die tief ergriffen dankte. Ihrem Gatten aber flüsterte sie zu: »Ach Stach, wie glücklich ich bin!«

Als die Gesellschaft wieder am Tische Platz genommen hatte, sagte Papa Plawicki: »Bis zum letzten Augenblick muß man sich auf seinem Grund und Boden halten – das ist's, was auch ich immer predigte.«

Nach dem Mittagessen wollten die Gäste wegfahren, doch Plawicki forderte sie noch zu einer Spielpartie auf, so daß sie bis gegen Abend blieben. In der Dämmerstunde, das Kind war schon zur Ruhe gebracht worden, wandelte Marynia und ihr Gatte Arm in Arm im Garten umher. Jener erste Sonntag, den sie hier miteinander verbracht, erschien ihnen jetzt wie ein süßer, herrlicher Traum, die Sonne versank gleich einer feurigen Kugel, kein Hauch bewegte die Blätter der Bäume, deren Wipfel leicht gerötet waren, von den Wiesen her ertönte das Klappern der Störche – überall waltete dieselbe lindernde, feierliche Stimmung wie damals.

Nur leise sprachen sie miteinander.

Es war, als ob etwas von der friedlichen Abendstimmung auf ihre Worte überginge. – Hier, diese Stätte sollte von nun an ihre ganze Welt sein, hier sollte für sie ein neues, arbeitsames Leben beginnen.

Als die Sonne untergegangen war, kehrten sie auf die Veranda zurück. Marynia schmiegte sich an ihren Gatten an.

»Wir werden hier unendlich glücklich miteinander sein, nicht wahr, Stach?«

Er umschlang sie, drückte sie an sein Herz und flüsterte: »Geliebte! Süße! Einzige!« . . .

Und nun begann für die beiden ein Leben, das nicht frei von Sorgen war, aber dennoch mehr Honig als Wermut bot.

Der Autor dieses Werkes kostete den Honig – kraft seiner Phantasie.

Ende

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