Henryk Sienkiewicz
Die Familie Polaniecki
Henryk Sienkiewicz

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Dreiundsechzigstes Kapitel

Nun kamen schwere Tage. Die Schwäche Marynias war so groß, daß ihr Leben einem Flämmchen glich, von dem man nicht wußte, ob es erlöschen werde. Schließlich aber gewann der jugendliche, gesunde Organismus doch wieder die Oberhand. Eines Tages erwachte die Kranke offenbar sehr erquickt aus langem Schlummer und verlangte zu essen. Frau Bigiel, die bei Marynia gewacht hatte, ließ sofort den noch immer im Hause wohnenden Arzt benachrichtigen, und dieser schon nach wenigen Minuten das Krankenzimmer verlassend, antwortete auf die hastigen aufgeregten Fragen Polanieckis: »Wie sie sich befindet? Gehen Sie zu ihr und danken Sie Gott.«

Auf den Fußspitzen trat Polaniecki in das Krankenzimmer, wo sich bereits Fran Bigiel befand. Marynia schaute mit hellen Augen umher, und man konnte auf den ersten Blick wahrnehmen, daß sie sich wohler fühlte.

»Es geht mir viel besser, Stach!« sagte sie, als sie ihn sah.

»Das ist gut, mein geliebtes Herz!« erwiderte er leise.

Schweigend nahm er dann Platz an ihrem Lager, denn er durfte noch nicht daran denken, sich vollständig mit ihr auszusprechen. Dessenungeachtet überwältigte ihn die Freude dermaßen, daß er sein Gesicht auf die Bettdecke herabsinken ließ und eine Zeitlang ohne Bewegung so verharrte. Marynia lachte vor Entzücken und Wonne, trotz ihrer Schwäche. Eine Weile schaute sie sinnend auf ihn nieder, dann aber wies sie mit ihrer durchsichtigen Hand auf seinen dunklen Kopf und sagte zu Frau Bigiel in glückseligem Tone: »Wie er mich liebt!«

Die Besserung hielt stand, und von Tag zu Tag fühlte Marynia sich wohler. Ihre Gesundheit kehrte zurück, die junge Frau blühte wieder auf, als ob ein neuer Frühling für sie angebrochen sei.

Aus übergroßer Vorsicht gestattete man Marynia noch nicht, das Bett zu verlassen, je mehr aber ihre Kräfte, ihre Lebenslust und frohe Laune zurückkehrten, desto ungeduldiger ward sie, und jeden Abend verkündigte sie ihre Absicht, am folgenden Tage aufzustehen. Durch die lange Krankheit war in ihrem Wesen eine Veränderung eingetreten, sie war anspruchsvoller geworden, und sie, die früher so gleichmäßig und vernünftig gewesen, benahm sich jetzt zuweilen wie ein verwöhntes Kind, das ungestüm auf Erfüllung seiner Wünsche drängt und sich gekränkt fühlt, wenn sie verweigert werden. Polaniecki aber trug jeder ihrer Launen Rechnung, und gar häufig bildete dies den Anlaß zu frohen Scherzen. Sogar Großpapa Plawicki nahm oft teil an ihrer Heiterkeit, wiewohl er seit der Geburt seines Enkels eine patriarchalische Würde zur Schau trug. Eines Tages brachte er sein Testament mit und zwang die Anwesenden, alle Paragraphen von Anfang bis zu Ende anzuhören. In der Einleitung nahm er rührenden Abschied vom Leben, von seiner Tochter, von Polaniecki und seinem Enkel. Auch vermachte er diesem alles, was er besaß, und obwohl er seit Maszkos Bankerott von Polaniecki unterhalten wurde, war er nichtsdestoweniger gerührt über seine eigene Freigebigkeit und sah aus wie ein Pelikan, der seine Jungen mit dem eigenen Blute nährt.

Jeder Mensch, der eine schwere Krankheit durchgemacht hat, durchschreitet nach seiner Genesung wieder alle Stufen der Kindheit und ersten Jugend, mit dem Unterschiede jedoch, daß das, was früher Jahre ausfüllte, nun innerhalb weniger Wochen oder Tage vorgeht. So verhielt es sich auch mit Marynia. Frau Bigiel, die sie anfangs »bébé« nannte, meinte lachend, aus bébé werde ein kleines Mädchen, aus dem kleinen Mädchen ein Backfisch werden. Und der Backfisch begann sofort echt weibliche Koketterie und Eitelkeit zu zeigen. Als man sie frisierte, verlangte sie, daß man einen kleinen Spiegel, der noch von ihrer Mutter herrührte, vor sie auf ihre Knie stellte, und machte sich nun an eine eifrige Untersuchung darüber, ob Frau Bigiels Behauptung, »daß man nachher noch schöner werde«, sich bei ihr verwirklicht habe. Anfangs war sie nicht sehr erbaut von dem, was sie sah, doch allmählich wurde sie immer zufriedener. In der That war sie auch noch nie so schön gewesen. Polaniecki ging, wie Bigiel sich ausdrückte, vollständig in seiner Liebe auf. Marynia war ihm jetzt das Teuerste auf Erden, er fühlte eine grenzenlose Dankbarkeit über ihre Rettung, sie war sein Augapfel, der Mittelpunkt seines Lebens geworden, kurz, seit Marynias Genesung war das wahre Glück in ihr Heim gezogen.

Selbstverständlich trug der kleine Polaniecki viel zu diesem Glücke bei. Da Marynia nicht selbst nähren konnte, mußte eine Amme genommen werden, und um der Kranken eine Freude zu bereiten, hatte Stach eine ehemalige Dienerin von Krzemien geholt, die nach dem Wegzug Herrn Plawickis und seiner Tochter in Jalbrzykow in Dienst getreten war.

Da die Amme eine junge, kräftige Person war, so konnte der Säugling unter ihrer Obhut nur gedeihen. Uebrigens hielt sich der kleine Polaniecki offenbar vom ersten Moment an, da er das Licht der Welt erblickte, für eine überaus wichtige Persönlichkeit, denn er nahm auf niemand Rücksicht und dachte nur an seine eigenen Bedürfnisse und Freuden. Dieser Methode zufolge beschäftigte er sich, wenn er nicht gerade schlief oder trank, damit, seine kleinen Lungen zu üben und stimmte dabei ein so furchtbares Geschrei an, daß nur sein jugendliches Alter als Entschuldigung gelten konnte. Wenn er zu Marynia gebracht ward, fanden endlose Erörterungen über seine geistigen und körperlichen Eigenschaften, sowie über seine unverkennbare Aehnlichkeit mit seinen Eltern statt. Man stellte fest, daß er die Nase der Mutter habe, lehnte die Bemerkung der Amme, er habe eine Nase wie ein Kätzchen, einstimmig ab, prophezeite, daß er ein unendlich anmutiges Lächeln haben, daß er brünett, zweifellos auch sehr groß sein werde und sich durch Lebhaftigkeit und ein bewunderungswertes Gedächtnis auszeichnen könne. Solange Marynia noch im Bette lag, stellte Frau Bigiel ihre eigenen Untersuchungen an und machte auch ihre besondern Entdeckungen, die sie dann stets verkündete. Eines Tages kam sie freudestrahlend zu Marynia.

»Denke Dir nur,« rief sie voll Eifer, »er streckt die Fingerchen der einen Hand in die Höhe, und Du würdest darauf schwören, daß er sie mit der andern zähle. Der wird gewiß ein Mathematiker.«

»Das hat er wohl von seinem Vater,« antwortete Marynia mit großer Würde.

Auch sie hatte eine Entdeckung gemacht, die aber aus früherer Zeit als die ihrer Freundin stammte, sie war nämlich schon längst überzeugt, daß ihr Kind sehr, sehr lieb sei. Was Polaniecki anbelangte, so betrachtete er in der ersten Zeit das neue Familienmitglied mit Verwunderung und einem gewissen Mißtrauen. Hatte er sich doch eine Tochter gewünscht, weil er, der große Kinderfreund glaubte, nur mit einem Mädchen könne man so recht von Herzen zärtlich sein. Erst allmählich kam er zu der Ueberzeugung, daß das kleine Menschenkind kein ungeschlachter Junge war, sondern ein mitleiderregendes, schwaches, schutz- und liebebedürftiges Geschöpf. »Ein merkwürdiges Kerlchen!« dachte er oft bei sich. Doch fühlte er sich immer mehr zu ihm hingezogen, und nach Verlauf einiger Tage machte er sogar den Versuch, den Kleinen zu der Mutter zu bringen. Dabei entfaltete er indessen einen so unnötigen Kraftaufwand und benahm sich so ungeschickt, daß nicht nur Marynia und Frau Bigiel ihn auslachten, sondern daß er auch Gefahr lief, sein Ansehen bei der Amme einzubüßen.

Frohes Lachen ertönte jetzt vom Morgen bis zum Abend im Hause. – Marynia glaubte noch immer nach dem, was sie von Frau Bigiel gehört und sich selbst klar gemacht hatte, daß die Liebe ihres Gatten des Kindes wegen neu erwacht sei, daß das Kind sie nun mit heiligen Banden aneinander geknüpft habe. – Eines Tages redete sie sogar mit Polaniecki darüber, aber er erwiderte ganz einfach: »Nein! Ich gebe Dir mein Wort darauf, daß es sich nicht so verhält. Unsern Sohn liebe ich sehr, aber Dich liebte ich schon unendlich, bevor er geboren ward. Dich liebe ich nur um Deinetwillen, weil Du so bist, wie Du bist. Schaue doch umher, siehe, wie es in der Welt zugeht. Wer ist Dir denn gleich?« Er nahm ihre Hände in die seinen und küßte sie innig und ehrfurchtsvoll. »Was Du mir bist, und wie sehr ich Dich liebe, kannst Du niemals ermessen,« fügte er dann hinzu.

Und sich an ihn schmiegend, fragte sie mit strahlendem Gesichte: »Wirklich, Stach? – Sage es noch einmal!«


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