Henryk Sienkiewicz
Die Familie Polaniecki
Henryk Sienkiewicz

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Neunzehntes Kapitel

Etwas trübselig, aber doch auch friedlich, wie eine dahinsiechende Schwindsüchtige, lächelte die Sonne der letzten Herbsttage auf die Menschen herab. An einem der schönsten Tage war Litkas Begräbnis. Mit den Vorbereitungen dazu beschäftigt, war Polaniecki zwar tieftraurig, aber sich in Litkas Gefühle versetzend, sagte er sich auch, daß das arme Kind sich wohl einen derartigen Tag erwählt hätte, und fand darin eine gewisse Erleichterung. Bisher hatte er die Größe seines eigenen Grames noch nicht völlig ermessen können. Zur völligen Klarheit darüber gelangt man erst später, wenn das geliebte Wesen auf dem Friedhofe ruht, und man allein in die verödete Wohnung zurückkehrt. Zudem nahm die Anordnung des Leichenbegängnisses Polanieckis ganze Zeit in Anspruch. Das Leben ist aus so vielen, künstlichen Formalitäten zusammengesetzt, daß sogar ein solch einfacher Akt wie der Tod erschwert wird. Durch den Tod der geliebten Tochter hatte Frau Emilie vollständig die Elasticität eingebüßt, kraft deren der Mensch denkt, Beschlüsse faßt und handelt. Allzu rauh war der Wind diesmal durch die Wolle der Lämmer gefahren. Glücklicherweise trägt ein allzu großer Schmerz sein Heilmittel in sich selbst, indem er das menschliche Herz zuletzt fühllos macht. So war es auch mit Frau Emilie. Polaniecki bemerkte, daß sich eine eigentümliche Starrheit in ihren Zügen ausdrückte. Sie hatte noch keine Thräne vergossen, wie ein leises, tieftrauriges, kindliches Geflüster klangen die Worte, die von ihren Lippen kamen. Die ganze Größe ihres Unglücks hatte ihr Geist noch nicht erfaßt, denn unablässig beschäftigte sie sich mit tausend Kleinigkeiten, sie klammerte sich daran, und sie that alles mit derselben liebevollen Aufmerksamkeit, wie wenn das Kind noch gelebt hätte. In dem eigens dazu hergerichteten Zimmer lag Litka auf Atlaskissen wie schlafend unter Blumen, und ihr fehlte nichts mehr, aber die Mutter in ihrem hilflosen Seelenschmerze sorgte sich immer noch, daß dem Kinde etwas mangeln könne. Als man dann versuchte, sie gewaltsam von dem Leichnam zu entfernen, leistete sie keinen Widerstand, verlor aber nun vollständig jedes klare Bewußtsein und begann zu jammern und zu klagen, wie wenn der Schmerz über ihre Kräfte ginge.

Polaniecki und Chastowski, ihr Schwager, welche schon vor der zum Begräbnis festgesetzten Zeit bei ihr anlangten, wollten sie in dem Augenblick fortführen, da sich der Sargdeckel auf immer über Litka schloß, aber nun rief Frau Emilie die Kleine auf so herzzerreißende Weise bei ihrem Namen, daß beide den Mut verloren und davon abstanden. Endlich setzte sich der von den Geistlichen angeführte, von Fackelträgern umgebene Leichenzug in Bewegung. Düstere Gesänge begleiteten ihn, eine lange Wagenreihe folgte, und zuletzt kam eine Menge Neugieriger, welche sich in den modernen Städten ebenso an menschlichen Schmerzen weiden, wie man sich im Altertum an den Kämpfen in der Arena weidete. Geführt von dem Bruder ihres Gatten, ging Frau Emilie, an der Seite Marynias, mit trockenen Augen und wie leblos dicht hinter dem Leichenwagen her. Ihr Blick haftete nur auf einer Stelle und ausschließlich beschäftigten sich ihre Gedanken damit. Durch einen unglücklichen Zufall hing nämlich eine der blonden Locken Litkas unter dem Sargdeckel hervor. Auf dem ganzen Weg nun konnte Frau Emilie die Augen nicht davon abwenden und sagte immer und immer wieder: »O Gott! Gott! Man hat des Kindes Haare eingeklemmt . . .«

Kummer, Erschöpfung und Schlaflosigkeit hatten Polanieckis Nerven dermaßen erschüttert, daß er gerne halbwegs umgekehrt und nach Hause gegangen wäre, um sich aufs Sofa zu legen, an nichts mehr zu denken, nichts mehr zu fühlen. Ueber diese Anwandlung von Egoismus verwundert, ärgerte er sich über sich selbst, obwohl er im voraus wußte, daß er nicht umkehren werde, daß er diesen Kelch bis zur Neige leeren müsse, nicht bloß der Schicklichkeit wegen, sondern auch deshalb, weil der Schmerz um Litka und die Anhänglichkeit an sie stärker waren, als seine Selbstsucht. Er empfand auch ganz gut, daß die andern Gefühle jetzt in den Hintergrund gedrängt wurden, und daß ihn in diesem Augenblick alles, was in der ganzen, großen Welt vorging, völlig gleichgültig ließ.

Uebrigens folgten seine Gedanken und Gefühle, welche aus äußeren, fast unbewußten Eindrücken erzeugt wurden, wirr aufeinander, wobei der Gram um das geliebte Kind meist die Oberhand behielt. Zuweilen betrachtete er die Häuser, an denen der Leichenzug vorüberkam, und deren Farben ihm auffielen, zuweilen auch stach ihm ein Ladenschild in die Augen; und er las es, ohne zu wissen, weshalb, dann dachte er, daß nun der Gesang der Geistlichen aufhören werde, aber zugleich wartete er mit einer gewissen Furcht darauf. Manchmal vernünftelte er wie ein Mensch, der, aus einem Traum erwachend, sich die Wirklichkeit klar zu machen sucht. »Das sind Häuser,« sagte er sich, »dies Schilder, dies ist der Geruch der Pechfackeln, und dort unter dem Leichentuche liegt Litka, und wir gehen auf den Kirchhof.« . . . Und plötzlich erfaßte ihn ein namenloses Leid um dies süße, geliebte Kind, dessen holdes Gesichtchen ihm so oft zugelächelt hatte. Er rief sich die frühere und die letzte Zeit ins Gedächtnis zurück, er erinnerte sich, wie er sie bei der Rückkehr vom Thumsee nach Reichenhall getragen hatte, er sah sie wieder in Bigiels Landhaus und in Frau Emiliens Wohnung, als sie sich wünschte, ein Birkenbäumchen zu sein – und zuletzt, wie sie einige Stunden vor ihrem Tod Marynia bat, seine Gattin zu werden. Zwar sagte er sich nicht geradezu, daß es ein Opfer für sie gewesen, als sie Marynias Hand in die seine legte, denn die unbewußten Gefühle der Kleinen ließen sich nicht so genau definieren, allein trotzdem fühlte er sehr wohl, daß ihre Neigung einer selbstlosen Liebe ähnlich gewesen, und daß ihre seltene und tiefe Anhänglichkeit für ihn sie zu dem befähigt hatte, was sie gethan. Und da sogar die teuersten Dahingeschiedenen je nach dem Verluste betrauert werden, der uns persönlich trifft, so sagte sich Polaniecki: »Das war das einzige Wesen, das mich wirklich liebte, jetzt habe ich niemand mehr auf der ganzen Welt!« Und er richtete die Augen auf den Sarg, auf die blonde Haarlocke, welche leise vom Winde bewegt wurde, und aus der Tiefe seines Herzens rief er nach Litka mit all den zärtlichen Namen, die er ihr im Leben gegeben! Aber sein sehnsüchtiger Ruf fand keinen Widerhall, und heiße Thränen traten in seine Augen. In der Gleichgiltigkeit der Toten liegt etwas Herzzerreißendes. Wenn ein Wesen, das bisher jedes Wort und jeden Blick von uns empfand, plötzlich gleichgültig, das zärtlich liebende fühllos, das uns sonst täglich nahe, inniggeliebte in weite Ferne entrückt wird, dann wird uns die furchtbare Bedeutung des Todes erst recht klar.

Endlich gelangte der Leichenzug aus der Stadt ins offene Feld, hinter den Schlagbäumen rückte er längs der Kirchhofmauer vor, auf der die Bettler reihenweise neben den für die Gräber bestimmten Kränzen aus Immergrün saßen. Die Geistlichen in ihren weißen Kirchengewändern, die Fackelträger, der Leichenwagen mit dem Sarge und die ihm Folgenden hielten vor dem Thore, dann wurde der Sarg herausgenommen und von Polaniecki, Bukacki, Chwastowski und Bigiel zu der Gruft des Vaters getragen. Die tiefe Stille und Leere, welche nach jedem Begräbnis den von einem frischen Grabe Zurrückkehrenden sonst erst zu Hause fühlbar wird, waltete diesmal schon auf dem Kirchhofe. Es war ein schöner, aber doch herbstlicher Tag, hier und da fielen die welken Blätter geräuschlos von den Bäumen; inmitten der sich weit hinziehenden trübseligen Ebene, welche dicht mit Kreuzen besät war und unendlich zu sein schien, als ob der Kirchhof die Unendlichkeit repräsentiere, sah der Leichenzug kleiner aus, als er wirklich war. Die dunkeln, entlaubten Bäume mit den dürren, gleichsam im Lichte verschwimmenden Aesten zwischen grauen und weißen Monumenten, die langen, geraden, mit gelben Blättern bedeckten Alleen machten zusammen den Eindruck eines elysäischen Feldes, voll tiefen Friedens, aber auch voll tiefer, schläfriger Melancholie wie »die kalten, traurigen Orte«, von denen der mit trüben Gedanken beschäftigte Cäsar träumte, und zu denen jetzt noch eine animula vagula kommen sollte.

Als der Sarg vor der offenen Gruft stand, erscholl das herzzerreißende »Requiem æternam« und »anima ejus«. Inmitten all seiner verworrenen Gedanken und Eindrücke, gleichsam wie durch einen Nebel, sah Polaniecki das versteinerte Gesicht und die starren Augen Frau Emiliens, die Thränen Marynias, welche ihn in diesem Augenblick eher erbitterten, die bleichen Wangen Bukackis, in dessen Zügen man deutlich lesen konnte, daß seine Lebensphilosophie hier auf dem Kirchhofe zwecklos war und ihn schon vor dem Thore im Stiche gelassen hatte – und den Sarg Litkas. Nach dem Beispiel anderer ging er, um eine Hand voll Erde auf den Deckel hinab zu werfen, als aber nach Hinablassung des Sarges in die enge Tiefe die steinerne Thüre sich schloß, da schnürte ihm wieder etwas den Hals krampfhaft zusammen, und alles, was er bisher gedacht und erfahren, schien sich in ein Nichts aufzulösen. Im Geiste sprach er die einfachen Worte: »Auf Wiedersehen, Litka!« die ihm später, da sie ihm wieder einfielen, geradezu nichtig im Verhältnis zu dem Sturm in seiner Seele vorkamen – und dann war alles zu Ende. Das Leichengefolge zerstreute sich: Nach einiger Zeit erwachte Polaniecki aus seinen Träumen durch den Wind, welcher von ferne her leise über die Kreuze fuhr. An der Gruft gewahrte er jetzt nur noch Frau Emilie mit Marynia, Bigiel, Waskowski und den Oheim Litkas. Er selbst konnte sich nicht losreißen und zögerte noch, innerlich die Worte wiederholend: »Auf Wiedersehen, Litka,« und dabei dachte er an den Tod, daran, daß auch er eines Tags zu dieser Gräberstadt kommen werde, daß das ein Ocean ist, worin alle Gedanken, Bestrebungen, Gefühle endigen. Ihn dünkte, er und alle, welche dort am Grabe standen oder gerade weggingen, befänden sich auf einem Schiffe, das auf Klippen lossteuerte. An ein Leben nach dem Tode dachte er in diesem Augenblick gar nicht.

Indessen war herbstliche Dämmerung niedergesunken, bleicher und geisterhafter ragten die Kreuze empor. Der alte Professor und Chwastowski geleiteten Frau Emilie zur Kirchhofspforte, und sie ließ es willenlos geschehen. Einmal noch wiederholte Polaniecki: »Auf Wiedersehen, liebes Kind,« und dann ging auch er.

Vor dem Thore dachte er: »Ein Glück, daß die Mutter noch nicht zu klarem Bewußtsein gekommen ist, denn wie furchtbar wäre ihr sonst der Gedanke, daß das Kind hier allein zurückbleibt.« – Die Toten verlassen uns, aber sie werden auch von uns verlassen.

Als er in der Ferne den Wagen sah, worin Frau Emilie davonfuhr, dachte er unwillkürlich, daß derartige, im voraus getroffene Anordnungen etwas Empörendes und Barbarisches haben.

In seiner Droschke überkam ihn aber doch für einen Augenblick ein Gefühl der Erleichterung bei dem Gedanken, daß nun ein erschütternder, schwerer Akt zu Ende war, auf den eine gewisse Ruhe folgen mußte. Oede, leer und ohne Sonnenschein dünkte ihn nach seiner Rückkehr seine Wohnung, und dennoch, als er Thee getrunken und sich auf dem Sofa ausgestreckt hatte, empfand er zum zweiten Mal eine gewisse Befriedigung darüber, daß das Schwerste, Litkas Begräbnis, nun vorüber war. Abends sagte er sich, daß es nötig sei, sich nach Frau Emiliens Befinden zu erkundigen, die von Marynia in ihre Wohnung mitgenommen worden war. Beim Weggehen gewahrte er Litkas Photographie auf dem Tische, und er küßte sie. Eine Viertelstunde später klingelte er bei den Plawickis.

Der Diener sagte ihm, sein Herr sei ausgegangen, außer Frau Chwastowski seien aber Professor Waskowski und der Pfarrer Chylak anwesend. Im Salon empfing ihn Marynia mit etwas verwirrten Haaren, rotgeweinten Augen, beinahe häßlich. Ihr Benehmen gegen ihn war völlig verändert, als ob sie angesichts des furchtbaren Unglückes allen Groll vergessen hätte.

»Emilka ist bei mir,« flüsterte sie. »Es geht ihr etwas besser, denn ich glaube, daß sie jetzt wenigstens begreift, was man zu ihr sagt. Professor Waskowski befindet sich bei ihr. Er versteht es, auf so herzliche Weise mit ihr zu reden. Wollen Sie zu ihr?«

»Nein. Ich komme nur, um mich zu erkundigen, wie sie sich befindet, und gehe sogleich wieder.«

»Vielleicht wünscht sie, Sie zu sehen; warten Sie einen Augenblick, ich will ihr sagen, daß Sie da sind. Litka hat Sie so sehr geliebt, daß Emilie Sie vielleicht deshalb allein schon zu sehen wünscht.«

»Gut,« bemerkte Polaniecki.

Marynia begab sich ins anstoßende Zimmer, konnte aber augenscheinlich ihr Anliegen nicht sogleich vorbringen, denn Polaniecki vernahm durch die offene Thüre nur die Stimme Waskowskis, der mit warmer Beredsamkeit und voll tiefer Ueberzeugung sich bemühte, die harte Rinde zu erweichen, welche das Herz der Schwergeprüften umschloß.

»Es ist gerade so,« sagte er, »wie wenn sie ins andere Zimmer gegangen wäre, um zu spielen und sogleich wieder zurückzukehren. Sie kehrt nicht zurück, aber Sie werden zu ihr kommen. Meine teure Freundin, betrachten Sie den Tod mit andern Blicken, betrachten Sie ihn wie vom Jenseits aus. Das Kind lebt und ist glücklich, in der Ewigkeit kommt ihm diese Trennung nur wie eine ganz kurze, momentane vor. Litka lebt,« fuhr er mit heiligem Ernste fort, »sie lebt und ist glücklich. Wohl sieht sie, daß Sie sehnsüchtig die Arme nach ihr ausstrecken, aber sie weiß auch, daß Sie ihr nach kurzer Zeit folgen werden, denn sie weilt ja bei Gott, und da fühlt man keine Schmerzen mehr. Einst gehen auch Sie in die Ewigkeit ein, werden in Frieden und Freuden vereint mit Litka, und keine Krankheit, kein Tod trennt Sie mehr. Alles Irdische schwindet, und Sie werden immer beisammen sein.«

Polaniecki dachte mit Bitterkeit. »Gut wäre es, wenn man Gewißheit darüber hätte.«

Und gleich darauf sagte er sich: »Wenn ich so fühlte, möchte ich auch in ein Jenseits eingehen.«

Mit diesen Gedanken betrat er das Zimmer, ohne Marynias Rückkunft abzuwarten, denn er hielt es für seine Pflicht, Frau Emilie in dieser Trauerzeit nahe zu bleiben. »Als Schutz gegen menschlichen Klageruf hat der Egoismus Baumwolle in den Ohren und entschuldigt dies vor sich selbst durch die Behauptung, daß bei großem Leid uns keine Worte zu trösten vermögen.« All dies sagte sich Polaniecki, und er hätte es als eine Schande empfunden, sich zurückzuziehen. Frau Emilie saß auf dem Sofa, Waskowski saß neben ihr, ihre Hände in den seinigen haltend und aufmerksam in ihr Gesicht blickend. Polaniecki ergriff ihre Hand, beugte sich herab und drückte sie schweigend an die Lippen. Frau Emilie öffnete die Augen wie jemand, der sich bemüht, aus tiefem Schlafe zu erwachen, und rief dann plötzlich in leidenschaftlichem Schmerzensausbruche: »Erinnern Sie sich, wie das Kind –«

Ueberwältigt von Kummer drückte sie die Hände krampfhaft zusammen, während sie nach Atem rang, als ob ihre Brust vor Weh und Jammer zu zerspringen drohte. Zuletzt war all ihre Kraft dahin, und sie ward ohnmächtig. Sie kam erst wieder zur Besinnung, nachdem Marynia sie auf ihr Zimmer gebracht hatte. Polaniecki wollte sich mit Waskowski entfernen, wurde aber von dem inzwischen von seinem Ausgang zurückgekehrten Herrn Plawicki aufgehalten.

»Es ist keine Annehmlichkeit, eine Trauernde bei sich zu haben, denn man hat seine Not und Plage mit ihr,« sagte er. »Jetzt gehörte mir doch ein wenig Ruhe und Erholung, aber was soll ich machen, was soll ich machen? Ich muß immer zurückstehen, das ist einmal mein Los.«

Vor Ablauf einer halben Stunde kam Marynia mit der Nachricht, daß Frau Emilie sich auf ihre Bitte gelegt habe und jetzt ein wenig ruhiger sei. Polaniecki und Waskowski verabschiedeten sich nun.

Nach dem heiteren Tage stieg ein dichter Nebel auf, verhüllte die Straßen und bildete verschiedenfarbige Kreise um die Laternen. Unwillkürlich dachten die beiden an Litka, welche nun die erste Nacht fern von der Mutter unter Toten verbrachte. Dies erschien Polaniecki geradezu furchtbar. Im Geiste erwog er die von Waskowski an die Freundin gerichteten Worte und zuletzt bemerkte er: »Ich habe gehört, was Sie sagten – gewährt ihr dies Trost, so ist es ja gut, aber sehen Sie, wenn wir mit Sicherheit darauf bauen dürften, daß es ein Jenseits giebt, so müßten wir jetzt – eine Festlichkeit veranstalten und uns darüber freuen, daß Litka gestorben ist.«

»Und woher weißt Du, daß wir nach unserm Tode nicht selig sein werden?«

»Woher wissen Sie, daß dem so sein wird?«

»Ich weiß es nicht, aber ich glaube es.«

Darauf war nichts zu erwidern, und Polaniecki sagte: »Von himmlischer Barmherzigkeit . . . Von der Leuchte der Seligen . . . Ewigkeit . . . Vereinigung nach dem Tode spricht man – und wie ist's in Wirklichkeit? Das Kind liegt draußen auf dem Kirchhofe, und die Mutter windet sich vor Schmerzen. Auch Sie betrauern das arme Kind, ich betrauere es noch mehr, und deshalb drängt sich mir die Frage auf: Weshalb mußte es sterben? Wozu diese Grausamkeit? Wohl weiß ich, daß dies eine thörichte Frage ist, und daß Milliarden von Menschen sich dieselbe schon vorgelegt haben, aber wenn dies ein Trost sein soll, so möge doch ein Donnerwetter hineinfahren. Ich weiß wohl, daß es keine Antwort darauf giebt, aber deshalb knirsche ich doch mit den Zähnen und fluche doch darüber. Ich begreife es nicht, – ich lehne mich dagegen auf –«

Gleichsam mit sich selbst sprechend erwiderte Waskowski: »Christus ist auferstanden, denn er war ein Gott, aber gleich den Menschen hat auch er zuerst den Tod erleiden müssen. Was kann aber ich elender Wurm anderes thun, als den Willen und die Weisheit Gottes preisen?«

»Ihnen etwas zu entgegnen ist schwer,« versetzte Polaniecki.

»Wie glatt es hier ist,« bemerkte Waskowski. Und sich auf Polanieckis Arm stützend, fuhr er fort: »Mein Lieber, Du hast ein warmes, redliches Herz, Du liebtest die Kleine sehr, hättest gerne alles für sie gethan, nicht wahr? Thue nun noch das eine, ob Du nun glaubst oder nicht glaubst, bete für ihre ewige Ruhe.«

»Lassen Sie mich in Ruhe!« erwiderte Polaniecki.

»Wenn sie auch dessen nicht bedarf, wird es ihr doch lieb sein, daß Du ihrer gedenkst, sie wird Dir dankbar sein und bei Gott für Dich bitten.«

Nun erinnerte sich Polaniecki, daß Waskowski auf die Kunde von Litkas letztem Unfall gesagt hatte, des Kindes Leben könne nicht ganz zwecklos sein, und falls es sterben müsse, sei es wahrscheinlich bestimmt, vor seinem Tode noch eine Mission zu erfüllen. Gerade wollte er ihm darüber eine abfällige Bemerkung machen, als ihm plötzlich einfiel, daß Litka ihn ja vor ihrem Tode mit Marynia vereinigt hatte.

Unwillkürlich drängte sich ihm jetzt die Frage auf, ob wohl dies ihre Mission gewesen sei. Aber im nämlichen Augenblick lehnte er sich auch gegen diesen Gedanken auf. Jetzt empfand er Zorn und Ingrimm, ja beinahe Verachtung gegen Marynia.

»Um solchen Preis will ich sie gar nicht,« dachte er, mit den Zähnen knirschend. »Nein, ich will sie nicht. Zehn Marynias würde ich hingeben für eine Litka.«

»Man kann ja keinen Schritt weit vor sich sehen, und die Steine sind vom Nebel ganz schlüpfrig,« hub indessen Waskowski, ängstlich neben ihm hertrippelnd, wieder an. »Ohne Dich wäre ich wohl längst zu Boden gefallen.«

Polaniecki nahm seinen Arm fester in den seinigen und sagte: »Wer auf Erden wandelt, muß hinunter, nicht in die Höhe schauen, Herr Professor.«

»Ja, Du kannst Dich auf Deine Füße verlassen, mein Lieber.«

»Und auf meine Augen, die sogar in einem solchen Nebel ganz klar sehen. Wir alle wandeln im Nebel, und was hinter demselben liegt, weiß der Teufel. Das, was Sie sagten, macht mir den Eindruck, wie wenn jemand einen dürren Ast abreißt, ihn in einen Strom wirft und meint, er werde nun Knospen treiben. Faulen wird er, nichts weiter. Auch mir hat der Strom fortgerissen, was mir Blüten treiben sollte, wie ich glaubte – doch wir sind an Ihrer Wohnung! Gute Nacht!«

Sie trennten sich. Halbtot vor Erschöpfung kehrte Polaniecki nach Hause zurück. Neue quälende Gedanken überkamen ihn wieder, nachdem er sich niedergelegt hatte. Die von Schmerz gelähmte Gestalt Frau Emiliens stand ihm unablässig vor Augen, er sah sie in Marynias Salon, unter den Blättern der Palme, die sich über ihr Haupt hinstreckten, wie ungeheuere, unheilverkündende Hände. »Darüber könnte ich philosophieren bis morgen früh,« murmelte er; »denn überall im Leben sehen wir solche Hände, die einen tiefen Schatten werfen. Gäbe es nur ein wenig Barmherzigkeit, so hätte das arme Kind nicht sterben müssen – und Waskowski mag reden, was er will, davon wird noch kein Sperling fett.«

Hier fiel ihm Waskowskis Aufforderung ein, für Litkas ewige Ruhe zu beten. Lange kämpfte er mit sich selbst, fühlte er doch eine gewisse Beschämung darüber, daß er Worte hersagen sollte, die nicht aus überzeugtem Herzen kamen, und doch hätte er es auch gern gethan. »Was weiß ich denn?« fragte er sich. »Nichts! Rings um uns her ist Nebel, dichter Nebel. Aber wie dem auch sein mag, es ist ja das einzige, was ich noch für mein Täubchen thun kann, für das liebe Kind, das sogar an seinem Todestage meiner gedachte.«

Noch einige Zeit schwankte er, dann aber kniete er auf seinem Lager nieder und betete für Litkas ewige Ruhe.

Doch gewährte es ihm keinen Trost, sein Gram um Litka machte sich nur noch heftiger fühlbar, und gleichzeitig empfand er Zorn über Waskowski, weil dieser ihn in eine Lage gebracht, in der er in Widerspruch mit sich selbst geraten war.

Uebrigens sah er jetzt nur zu wohl ein, daß er sich seinem Kummer nicht länger hingeben dürfe, und er beschloß, am andern Tage auf sein Komptoir zu gehen, um seinen Gedanken, die sich seit einiger Zeit ewig in demselben Kreislauf bewegten, eine andre Richtung zu geben.

Am nächsten Tage kam Bigiel ihm zuvor und suchte ihn auf, wohl in der Absicht ihn zu beschäftigen und zu zerstreuen. Mit einer wahren Gier machte sich nun Polaniecki an die Erledigung der laufenden Geschäfte, allein bald wurden die beiden durch Bukacki gestört, der kam, um Abschied zu nehmen.

»Ich reise heute noch nach Italien, und Gott weiß, wann ich zurückkehre,« sagte er, »deshalb wollte ich Euch Lebewohl sagen – der Tod des armen Kindes hat mich mehr erschüttert, als ich glaubte.«

»Wirst Du lange wegbleiben?«

»Darüber ist mancherlei zu sagen. Siehst Du, bei uns ist man entweder Buddhist oder was einem sonst gefällt – und im Grunde vertraut man ein wenig auf die Barmherzigkeit eines höheren Wesens . . . und so lebt man dahin. Aber täglich kommen wir in Zwiespalt mit der rauhen Wirklichkeit, sie bringt uns stets in Leid und Bedrängnis. Hier geht ewig etwas vor, wer ein warmes Herz hat, muß sich ewig über fremdes Unglück härmen, und das will ich nicht. Dieser Marter will ich aus dem Wege gehen.«

»Und Du meinst in Italien sei es anders?«

»Nun, dort leuchtet wenigstens eine wärmere Sonne, dort finde ich Kunstschätze, die hier nicht zu finden sind, ich trinke einen Chianti, der meinen Magenkatarrh heilt, und zudem gehen mich die Menschen ganz und gar nichts an und können zu Hunderten sterben, ohne daß es mich unangenehm berührt. Ich werde die Gemälde ansehen, mir kaufen, was mir gefällt, meinen Kopfschmerz, meinen Rheumatismus pflegen, was, wie Du mir glauben kannst, die wünschenswerteste Lebensweise ist. Hier darf ich nicht so tierisch sein, obwohl ich es möchte.«

»Du hast recht, Bukacki. Siehst Du, wir beide haben uns tief in unsre Geschäfte vergraben, damit wir uns zerstreuen, an nichts anderes mehr denken.«

»Also auf Wiedersehen in Zeit und Raum,« sagte Bukacki.

Nachdem er gegangen war, bemerkte Polaniecki: »Er hat recht! Ich, zum Beispiel wäre um vieles glücklicher, wenn ich keine solche Anhänglichkeit an das arme Kind und Frau Emilie hätte In dieser Hinsicht sind wir unverbesserlich und verderben uns selbst freiwillig das Leben. Hier werden wir immer in Mitleidenschaft gezogen und unsre romantische Sentimentalität gleicht einer erblichen Krankheit.«

»Der alte Plawicki macht Dir sein Kompliment,« versetzte Bigiel. »Der liebt niemand als sich selbst.«

»Wohl möglich, aber ihm fehlt der Verstand und der Mut, zu gestehen, daß er so sein will. Im Gegenteil, er ist überzeugt, daß er sich anders zeigen muß. Auch solche Naturen müssen hier bei uns sogar vor sich selbst warmherzige Teilnahme heucheln.«

»Wirst Du heute zu Frau Emilie gehen?« fragte Bigiel.

»Natürlich, wenn ich zum Beispiel sagte, ich hätte die Malaria, so würde mich dies auch nicht trösten.«

Und in der That ging er an diesem Tage zwei Mal zu Frau Emilie, da er die beiden Damen das erste Mal nicht zu Hause traf. Auf die Frage, wo seine Tochter sei, erwiderte Plawicki in resigniertem Tone und mit dem größten Pathos: »Ich habe jetzt keine Tochter.«

Als Polaniecki gegen Abend wieder vorsprach, empfing ihn Marynia allein und teilte ihm mit, daß Frau Emilie zum ersten Male nach Litkas Begräbnis geschlafen habe. Während sie sprach, hielt sie seine Hand eine Zeitlang in der ihrigen, und als er schließlich mit fragendem Blick in ihre Augen schaute, bemerkte er, daß eine leichte Röte ihr Gesicht überzogen hatte.

»Wir sind auf dem Kirchhof gewesen,« sagte Marynia, nachdem sie Platz genommen hatten, »und ich versprach Emilie, jeden Tag mit ihr hinzufahren.«

»Wird es aber ratsam sein, dies täglich zu thun und die Wunde von neuem aufzureißen.«

»Ach, als ob sie jemals heilen könnte!« entgegnete Marynia, »und als ob die Möglichkeit vorhanden wäre ihr zu sagen: ›gehe nicht‹. Ich selbst hielt es zwar anfangs auch nicht für ratsam, allein ich habe mich jetzt überzeugt, daß das Gegenteil der Fall ist. Auf dem Friedhofe weinte sie sehr, aber dann fühlte sie sich besser. Bei der Rückkehr erinnerte sie sich der frommen Worte Professor Waskowskis und der Gedanke an ein Wiedersehen ist nun ihr einziger Trost.«

»Gut, daß sie wenigstens diesen einen hat,« bemerkte Polaniecki.

»Anfangs wagte ich gar nicht, sie an Litka zu erinnern, aber sie spricht nun fortwährend von ihr. Reden Sie also unbesorgt von dem Kinde.« Hier dämpfte das junge Mädchen seine Stimme und fuhr etwas leiser fort. »Sie macht sich nun Vorwürfe, daß sie in der letzten Nacht den Versicherungen des Doktors Glauben schenkte und sich schlafen legte. Als wir heute vom Friedhofe zurückkehrten, begann sie, mich über die geringste Kleinigkeit auszuforschen, wie das Kind ausgesehen, wie lange es geschlafen, ob es Arznei genommen, ob es viel gesprochen, und was es gesagt habe . . . Dabei beschwor sie mich, mir alles genau ins Gedächtnis zurückzurufen und kein einziges Wort auszulassen.«

»Und Sie erzählten ihr alles?«

»Ja.«

»Wie hat sie es aufgenommen?«

»Sie weinte sehr.«

Eine Zeitlang schwiegen beide, dann sagte Marynia: »Ich will sehen, wie sie sich jetzt befindet.«

Bald kehrte sie wieder zurück. »Sie schläft, Gott sei Dank,« verkündete sie. Polaniecki sah Frau Emilie an diesem Abend nicht mehr. Beim Abschied drückte Marynia abermals seine Hand und fragte fast unterwürfig: »Sie sind mir doch nicht böse, weil ich Emilie den letzten Wunsch ihrer Tochter mitteilte?«

»In solchen Fällen denke ich gar nicht an mich selbst,« antwortete er. »Bei mir kommt jetzt nur Frau Emilie in Betracht; wenn das, was Sie sagten, ihr wohlthat, bin ich Ihnen dankbar dafür.«

»Also auf Wiedersehen morgen, nicht wahr?« – »Ja morgen.«

Als Polaniecki sich verabschiedet hatte und die Treppe herunterging, dachte er: »Sie betrachtet sich als meine Braut.«

Und er täuschte sich nicht, Marynia betrachtete ihn als ihren Verlobten. War er ihr doch niemals gleichgiltig gewesen und hatte sie ihm doch immer umsomehr gegrollt, als sie sich selbst gestehen mußte, welch tiefes Interesse sie für ihn hegte. Im Grunde ihres Herzens, sehnte sie sich nach Liebe, und jetzt, da sie dem sterbenden Kinde das Versprechen gegeben, sich verpflichtet hatte, ihn zu lieben und seine Gattin zu werden, dünkte ihr, sie sei unter allen Umständen dazu verpflichtet und nicht mehr frei ihm gegenüber. Sie war eine jener einfachen, heutzutage noch nicht ganz seltenen Frauennaturen, für welche Leben und Pflichterfüllung eins und dasselbe bedeutet, und welche dazu einen beharrlichen, guten Willen mitbringen. Solch ein guter Wille führt zu einer Liebe, welche leuchtet wie die Sonne, wärmt wie deren Strahlen und beruhigt wie ein blauer, heiterer Himmel. Eine derartige Fähigkeit zu beglücken besaß das gradsinnige, einfache und zartfühlende Landmädchen in hohem Maße. Aber der Tod Litkas und die Vorgänge der letzten Tage hatten Marynia aus Polanieckis Sinn und Herzen in weite, weite Ferne entrückt. Jetzt begann er wieder an sie zu denken, zugleich auch an seine Zukunft, und seine inneren Kämpfe fingen wieder an. »Wäre es nicht am besten,« dachte er, »meine Geschäfte mit Bigiel abzuwickeln, einen Teil meines Geldes flüssig zu machen und wie Bukacki nach Italien oder irgendwohin zu fliehen, wo ein hellerer Sonnenschein, eine Kunst wie sonst nirgends, ein für den Magen heilsamer Wein zu finden ist, und vornehmlich, wo es Menschen giebt, deren Wohl oder Weh uns völlig gleichgiltig läßt, deren Tod uns nicht eine einzige Thräne entlockt.«


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