Henryk Sienkiewicz
Die Familie Polaniecki
Henryk Sienkiewicz

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Vierundzwanzigstes Kapitel

Kreszowski verspätete sich am folgenden Tage um nahezu eine Stunde. Er gehörte zu den richtigen Pflastertretern der Großstadt, das heißt zu den Leuten, die nichts arbeiten. Sein Name war ziemlich bekannt. Er hatte sein bedeutendes Vermögen verloren, war aber trotzdem überall zu sehen. Die Finanzwelt lud ihn zu ihren Mahlzeiten, Trauungen, Kindtaufen und ähnlichen Festlichkeiten ein, denn er hatte das Aussehen eines Patriziers und eine echt polnische Physiognomie, konnte also ihrer Tafel nur zum Schmucke dienen. Zwar war er im Grunde eine grämliche Natur, doch besaß er auch eine gute Dosis Humor und verstand es, die lächerlichen Seiten der Dinge herauszufinden. Dabei nahm er auf niemand Rücksicht und spottete fortwährend über sich selbst.

Als er bei Polaniecki eintrat, suchte er sogleich nach der Begrüßung sein verspätetes Erscheinen zu entschuldigen.

Allein Polaniecki fiel ihm ins Wort, indem er sagte: »Lassen Sie uns von Maszkos Angelegenheiten reden.«

»Auch recht, Maszko hat mir eine schriftliche Erklärung geschickt, die er für Gątowski abfaßte und an der er kein Wort ändern will. Unterschrieben wird die aber nicht – das ist unmöglich – es wäre zu viel verlangt . . . Ich glaube, der Zweikampf ist unausbleiblich – einen andern Ausweg sehe ich nicht.«

»Gątowski berät sich immer mit Herrn Jamisz und thut alles, was dieser sagt. Er, ein guter, friedliebender Mensch, ist sicherlich der Ansicht, man müsse sich auch solchen Bedingungen unterwerfen.«

»Herr Gątowski ist ein rechter Gimpel,« versetzte Kreszowski, »aber gehen wir, es ist schon spät.«

Nach wenigen Minuten hielt ihr Schlitten vor dem Hotel Saski. Herr Jamisz erwartete sie schon, empfing sie jedoch im Schlafrock, da er sich nicht wohl fühlte.

»Bitte setzen Sie sich,« begann er. »Ich bin seit drei Tagen hier und sehr froh darüber, daß es mir vielleicht vergönnt sein wird, den Streit beizulegen. Sie dürfen mir übrigens glauben, daß ich dem jugendlichen Hitzkopf den Kopf schon gewaschen habe.« Dann fragte er zu Polaniecki gewendet: »Wie geht's den Plawickis? Bis jetzt bin ich noch nicht bei ihnen gewesen, obwohl es mich zu meiner lieben Marynia zieht.«

»Fräulein Marynia befindet sich wohl,« entgegnete Polaniecki.

»Und der Alte?«

»Ihm ist vor einigen Tagen eine entfernte, sehr reiche Verwandte gestorben, und er rechnet sich zu deren Erben. Gestern sagte er mir dies, aber ich hörte inzwischen, sie habe ihr ganzes Vermögen Wohlthätigkeitsanstalten verschrieben . . . Heute oder morgen wird das Testament eröffnet werden.«

»Hoffentlich hat sie Marynia etwas vermacht. Aber gehen wir zu unseren Angelegenheiten über, daß es unsere Verpflichtung ist, sie zu einem möglichst friedlichen Abschlusse zu bringen, brauche ich Ihnen wohl nicht zu sagen, meine Herren.«

Kreszowski verneigte sich. Ihn langweilte dies Verfahren, welches er schon unzählige Male mitgemacht hatte. Daher unterbrach er den Rat mit den Worten.

»Von dieser Verpflichtung sind wir fest überzeugt.«

»Anders habe ich mir es auch nicht erwartet,« entgegnete Herr Jamisz gutherzig. – »Ich selbst gebe zu, daß Herr Gątowski nicht das mindeste Recht hatte so zu verfahren, wie er verfuhr, ich halte es sogar für recht und billig, daß er dafür bestraft werde, und bin zu allen Zugeständnissen geneigt, um Herrn Maszko die gebührende Satisfaktion zu gewähren.«

Kreszowski zog ein zusammengefaltetes Blatt Papier aus der Tasche und reichte es lächelnd Herrn Jamisz, indem er sagte: »Herr Maszko verlangt auch nichts weiter, als daß Herr Gątowski dies kleine Dokument in Gegenwart aller Sekundanten, sowie in Gegenwart aller beim Streit zugegen Gewesenen vorlese und dann seinen geschätzten Namen darunter schreibe.«

Herr Jamisz setzte seine Brille auf und begann zu lesen. Aber je weiter er las, desto mehr veränderte sich sein Gesicht, zuletzt schnaubte er förmlich vor Zorn, sodaß Polaniecki und Kreszowski kaum es zu glauben vermochten, daß dies derselbe Herr Jamisz sei, der noch vor wenigen Minuten zu allen Zugeständnissen bereit gewesen.

»Meine Herren,« sagte er mit durchdringender Stimme, »Herr Gątowski hat zwar wie ein jugendlicher Hitzkopf, wie ein Thor gehandelt, aber er ist immerhin ein Edelmann, und das ist's, was ich in seinem Namen Herrn Maszko erwidere.«

Mit diesen Worten zerriß er das Blatt in vier Stücke und warf sie auf den Boden.

Dies hatte keiner von den andern Herrn erwartet, Kreszowskis Gesicht nahm sofort einen eisigen Ausdruck an, Polaniecki hingegen, der Herrn Jamisz sehr zugethan war, freute sich über dessen Entrüstung.

»Herr Rat,« begann er, »Herr Maszko ist auf solch unerhörte Weise beleidigt worden, daß er nicht von seiner Forderung abstehen kann, aber Herr Kreszowski und ich haben eine solche Antwort von Ihnen erwartet, und sie vermehrt nur die Achtung, die wir für Sie hegen.«

Der Rat, der ein wenig an Asthma litt, ließ sich schwer atmend auf einen Stuhl sinken. Nachdem er etwas ruhiger geworden, sagte er: »Ich hätte Ihnen gerne eine in andern Ausdrücken abgefaßte Abbitte des Herrn Gątowski vorgelegt, sehe jedoch, daß wir nur die Zeit verlieren, und daß es nötig ist, von den Waffen zu reden. Herr Wilkowski, der zweite Sekundant Gątowskis wird sogleich kommen, und wenn Sie so lange verweilen, können wir uns auch über die Bedingungen einigen.«

Polaniecki schaute auf seine Uhr. »Ich muß um 1 Uhr im Comptoir sein,« sagte er, »allein, wenn Sie, Herr Rat, es gestatten, komme ich wieder hierher, um die Vereinbarungen durchzusehen und zu unterschreiben.«

»Gut, doch erkläre ich Ihnen von vornherein, daß ich auf keine Bedingungen eingehe, die Gątowski lächerlich machen könnten, sondern darauf rechne, daß Sie beide keine Lust haben, die Sache aufs Aeußerste zu treiben.«

»Nein, seien Sie versichert, ich werde nicht darauf dringen, daß andre ihre Haut zu Markte tragen.«

Mit diesen Worten entfernte sich Polaniecki und begab sich auf sein Comptoir. Nachmittags unterschrieb er die ziemlich maßvoll abgefaßten Vereinbarungen über den Zweikampf, dann nahm er sein Mittagessen in einer Restauration ein, wo er Maszko zu treffen hoffte. Allein die erste Person, die Polaniecki erblickte, war Herr Plawicki, der wie gewöhnlich sehr sorgfältig gekleidet und geschniegelt war, aber sehr finster dareinschaute.

»Was ist Ihnen denn passiert?« fragte Polaniecki.

»Ich habe eine tiefe Kränkung erlebt und speise jetzt nicht zu Hause, um Marynia nicht auch noch zu betrüben,« entgegnete Plawicki, »deshalb bin ich nun hier, ich habe ja keine großen Bedürfnisse – ein Kapaunenflügel, ein Löffelchen Kompott ist alles, was mir notthut. Setze Dich zu mir, falls Du keine heiterere Gesellschaft vorziehst.«

»Was ist Ihnen denn geschehen?« fragte Polaniecki nochmals.

»Die alten Traditionen sind dahin – das ist geschehen.«

»Bah, das ist doch kein besonderes Unglück für Sie?«

Mit trüben und doch feierlichen Blicken sah ihn Plawicki an.

»Heute wurde das Testament eröffnet.«

»Nun?«

»Und da sagen die Leute, auch der entferntesten Verwandten habe sie gedacht. Ja wohl! Marynia erhält ein Legat von – wie viel meinst Du? – vierhundert Rubel. Eine Lebensrente von vierhundert Rubel. Die Diener bekamen großartige Legate, die Verwandten nichts von all den Millionen.«

»Und Sie?«

»Nichts – den Wohlthätigkeitsanstalten verschrieb sie Unsummen, mir keinen Deut. Ja, die alten Traditionen sind dahin! Wie viele gelangten ehemals durch Erbschaft zu großem Vermögen, und wieso? Weil die Verwandten untereinander durch Liebe, Eintracht und gemeinsame Interessen verbunden waren.«

»Ich kenne auch jetzt manche, denen durch Erbschaft Tausende zufielen.«

»Gewiß, es giebt deren genug, aber leider gehöre ich nicht zu ihnen. Daß doch alle andern immer so viel Glück haben!« Hier seufzte er tief, und nach einer Weile fügte er hinzu: »Ich aber werde immer und überall übergangen.«

In der Absicht, Plawicki ein wenig zu trösten, bemerkte Polaniecki: »Aber sie ist ja in Rom gestorben, und das hiesige Testament datiert aus früherer Zeit. Vor diesem existierte, wie ich hörte, auch schon ein andres. Wer weiß, ob in Rom nicht ein Kodicill hinzugefügt worden ist, und ob Sie nicht eines Tages als Millionär erwachen?«

»Du meinst, daß dies möglich sei?«

»Es wäre gar nichts Unwahrscheinliches.«

Plawicki blickte umher, sie waren allein. Da schob er seinen Stuhl zurück und deutete auf sein Herz: »Mein Junge, komme hierher!«

Polaniecki neigte sein Haupt und Plawicki küßte ihn zweimal, indem er tief gerührt sagte: »Du giebst mir neuen Mut, Trost und Stärkung. Mag es nun kommen, wie Gott will. Jetzt kann ich Dir auch gestehen, daß ich einmal an sie geschrieben habe. Nichts Besonderes, nur um sie an unsre Existenz zu erinnern. Möge Gott Dir dafür lohnen, daß Du mich auf solche Weise wieder aufgerichtet hast. Das Testament mag vor meinem Briefe gemacht worden sein, und als sie dann nach Rom abreiste, dachte sie zweifellos an meine Epistel, also auch an mich und mein Kind – Du meinst wirklich, es sei möglich? Gott lohne Dir dafür.«

Plawickis Gesicht hatte sich vollständig aufgeklärt, er legte die Hand auf Polanieckis Knie und mit der Zunge schnalzend rief er aus: »Du hast vielleicht wahr gesprochen, mein Junge. Und deshalb wollen wir in Erwartung des erwähnten Kodicilles eine Flasche Mouton-Rothschild miteinander trinken – was meinst Du?«

»Ich kann nicht!« antwortete Polaniecki, der jetzt seinen thörichten Einfall bereute und sich dessen schämte.

»Du mußt!«

»Mein Wort darauf, daß ich nicht kann. Ich habe viel zu thun und möchte mir um nichts in der Welt Kopfschmerzen holen.«

»Eigensinniger Mensch! Du bist ein rechter Brummbär. Eine halbe Flasche trinke ich aber doch.« Er ließ den Wein bringen und fragte dann: »Wieso hast Du denn so viel zu thun?«

»Verschiedene Angelegenheiten sind zu erledigen. Sogleich nach dem Mittagessen muß ich zu Professor Waskowski gehen.«

»Was für ein Mensch ist dieser Waskowski?«

»Der hat von einem Bruder eine ansehnliche Erbschaft gemacht. Aber er verteilte alles unter die Armen.«

»Unter die Armen verteilte er alles? Aber in eine gute Restauration geht er doch immer. Ich liebe solche Philanthropen, und wenn ich etwas besäße, was ich den Armen geben könnte, würde ich mir selbst alles versagen.«

»Er war lange krank und der Arzt verordnete ihm kräftige Nahrung. Doch ißt er nur das, was wenig kostet. In einem finsteren, engen Loche wohnt er, und darin füttert er seine Vögel, daneben hat er noch zwei große Zimmer, wissen Sie aber, wen er darin beherbergt? Arme Kinder, die er auf der Straße aufliest.«

»Beinahe sollte man glauben, daß hier etwas nicht in Ordnung bei ihm ist.« Bei diesen Worten schlug sich Plawicki mit der Hand an die Stirn.

Polaniecki traf Waskowski nicht an, und nachdem er noch Maszko aufgesucht, begab er sich gegen 5 Uhr zu Marynia, denn er fühlte Gewissensbisse wegen des Scherzes, den er sich mit Plawicki erlaubt hatte.

»Am Ende,« sagte er sich, »wird der Alte in der Hoffnung auf jenes Kodicill hin Schulden machen und über seine Verhältnisse leben, deshalb darf das Spiel nicht allzu weit getrieben werden.«

Marynia war zwar im Begriff zu Frau Bigiel zu gehen, aber dennoch forderte sie ihn auf, einige Zeit zu verweilen.

»Viel Glück zur Erbschaft,« sagte er.

»Es ist mir lieb, nun ein bestimmtes Einkommen zu haben,« bemerkte sie, »denn in unsrer Lage ist dies von großer Wichtigkeit. Am liebsten möchte ich sehr, sehr reich sein.«

»Weshalb denn?«

»Erinnern Sie sich nicht, daß Sie einmal sagten, Sie möchten soviel haben, um eine Fabrik gründen und Ihr Geschäft aufgeben zu können? Ich weiß dies noch sehr wohl, und da jeder Mensch sich etwas wünscht, wünsche ich mir sehr, sehr viel Geld.«

In der Besorgnis, daß sie schon zuviel gesagt, sich allzu deutlich ausgedrückt habe, errötete sie tief und beugte sich nieder, um die Falten ihres Kleides glatt zu streichen.

»Ich komme in einer besondern Absicht, ich muß nämlich um Verzeihung bitten,« sagte Polaniecki. »Beim Mittagessen heute schwatzte ich thörichter Weise Ihrem Vater vor, Fräulein Ploszowski habe vielleicht ihr Testament geändert und ihm ihr ganzes Vermögen verschrieben. Zu meiner Verwunderung nahm er dies ernst. Ich möchte nun verhüten, daß er sich allerlei einbildet, und wenn Sie gestatten, will ich ihn sogleich in seinem Zimmer aufsuchen und ihm die nötige Aufklärung geben.«

Marynia lächelte. »Ich habe ihm schon alles auseinandergesetzt, aber daraufhin hat er mich sehr gescholten. Nun sehen Sie, was Sie für Unheil angerichtet haben. Es ist in der That nötig, daß Sie um Verzeihung bitten.«

»Also, ich bitte um Verzeihung.« Marynias Hände ergreifend bedeckte er sie mit Küssen, währenddem sie gleichsam scherzhaft, aber tief gerührt sagte: »Sie sind gar nicht gut, Herr Stach, nein, gar nicht gut.«

Den ganzen Tag bis zum Schlafengehen fühlte Polaniecki die warmen Hände Marynias auf seinen Lippen. Jetzt dachte er weder an Maszko, noch an Gątowski, sondern sagte sich nur immer wieder: »Die Zeit wird eine Entscheidung bringen.«


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