Henryk Sienkiewicz
Die Familie Polaniecki
Henryk Sienkiewicz

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Fünfundsechzigstes Kapitel

Einige Tage nach der Taufe suchte der Maler Herrn Polaniecki in dessen Comptoir auf, um sich nach dem Befinden Marynias zu erkundigen und zugleich manches zu besprechen, was ihm am Herzen lag. Da er aber sah, daß Polaniecki sich gerade entfernen wollte, erbot er sich, ihn nach Hause zu begleiten.

»Sie müssen mich allerdings entschuldigen,« erklärte Polaniecki. »Meine Marynia geht heute zum erstenmal aus. Wir sind zu Bigiels zum Mittagessen geladen. Sie wird wohl schon bereit sein, doch habe ich ungefähr noch zwanzig Minuten Zeit.«

»Dann fühlt sie sich also ganz wohl?«

»Gott sei Dank! – Wie der Fisch im Wasser,« erwiderte Polaniecki freudestrahlend.

»Und der junge Arier?«

»Der junge Arier befindet sich ausgezeichnet.«

»Sie glücklicher Mensch!« rief Swirski. »Wenn ich zu Hause solch einen herzigen Jungen hätte – von solch einer Frau noch gar nicht zu reden – ich wüßte nicht wo hinaus vor Seligkeit!«

»Sie können sich nicht vorstellen, wie mir dieser Knabe ans Herz gewachsen ist. Jeden Tag wird er mir lieber. Ich hätte es nie geglaubt, denn Sie müssen wissen, daß ich mir eine Tochter wünschte.«

»Nun es ist noch nicht aller Tage Abend! Die Tochter wird auch kommen!« entgegnete Swirski. – »Doch Sie haben Eile, gehen wir also.«

Polaniecki warf seinen Pelzmantel um, und beide verließen das Haus. Es war ein kalter, aber heller Wintertag. Mit fröhlichem Schellengeläute fuhr ein Schlitten nach dem andern an ihnen vorüber, die Leute hatten ihren Mantelkragen über die Ohren gezogen, weißer Reif lag auf ihren Bärten, der Hauch aus ihrem Munde war kleinen Dampfwölkchen zu vergleichen.

»Welch schönes Wetter!« sagte Polaniecki. »Meiner Marynia wegen freue ich mich besonders darüber.«

»Sie sind froh und vergnügt, deshalb kommt Ihnen alles so schön vor,« versetzte Swirski, seinen Arm nehmend.

Plötzlich ließ er ihn wieder los und dem Freunde in den Weg tretend, erklärte er mit einer Miene, als ob er Streit anfangen wollte: »Wissen Sie, daß Ihre Gattin das schönste Weib in Warschau ist? – Das sage ich Ihnen – ich.« Dabei schlug er sich mit der Hand an die Brust, wie zur Bekräftigung, daß er es sagte und kein anderer.

»Ja,« antwortete Polaniecki lächelnd, »und auch das beste, das liebenswürdigste auf der Welt. Aber gehen wir weiter, denn es ist sehr kalt.«

Nachdem Swirski seinen Arm wieder genommen hatte, fügte er mit bebender Stimme hinzu: »Was ich während ihrer Krankheit gelitten habe, weiß nur Gott allein. – Es ist besser, ich denke nicht mehr daran. – Ihre Genesung war ein unerwartetes Glück für mich, und wenn der Allmächtige uns den Frühling erleben läßt, werde ich ihr ein unerwartetes Vergnügen bereiten.«

»Ihr kommt niemand gleich!« hub der Maler von neuem an, und wieder stehen bleibend meinte er: »Und dabei ist sie so bescheiden.«

Schweigend gingen sie eine Zeit lang weiter. Dann fragte Polaniecki nach des Malers Reiseplänen.

»Ungefähr drei Wochen bleibe ich in Florenz,« antwortete dieser. »Dort habe ich etwas zu thun. Außerdem sehne ich mich nach dem Lichte auf San Miniato, auf Ginevra, die ich ehemals sehr liebte, und auf Cimabur. Sind die drei Wochen vorüber, so reise ich nach Rom. Gerade davon wollte ich mit Ihnen sprechen, weil heute früh Zawilowski bei mir war und fragte, ob er sich mir wieder anschließen könne.«

»Und sind Sie damit einverstanden?« fragte Polaniecki.

»Ich brachte es nicht über mich, seine Bitte abzuschlagen, obwohl seine Gesellschaft manchmal recht schwer zu ertragen ist. Dies muß jedoch unter uns bleiben. Sie wissen ja, wie gern ich ihn hatte und welches Mitleid ich für ihn hege, Sie werden daher begreifen, wie peinlich es mir ist, davon zu reden, aber er ist ein anderer Mensch geworden, er hat sich furchtbar verändert . . . Bei der Taufe sagte ich Ihrer Frau, er komme mir vor wie ein kostbares, zersprungenes Instrument. Und so ist's! Sie hätten sehen sollen, wie er sich wegen der Briefe quälte, worin er Ihrer Gattin seine Reise schildern wollte. Stundenlang ging er im Zimmer hin und her, rieb sich den Kopf, setzte sich, stand wieder auf, ohne etwas zustande gebracht zu haben. Gott gebe, daß er wieder werde, was er gewesen. Er sagt zwar allen Leuten, er werde niemals aufhören zu schreiben, aber er zweifelt an sich und grämt sich darüber, das weiß ich.«

»Welch ein Unglück für ihn und für Fräulein Helene,« antwortete Polaniecki. »Sie wissen gar nicht, was für Sorgen sie sich sowohl seiner Gesundheit als seines Talentes wegen macht.«

»Wen ich aber am meisten bedauere,« bemerkte Swirski, »das ist Fräulein Ratkowski. Auch sie zweifelt daran, daß er wieder das werde, was er gewesen ist.«

»Das arme Mädchen!« sagte Polaniecki. »Aus seinen Reiseplänen geht ja klar hervor, daß er gar nicht an sie denkt. Zum Glück hat Fräulein Zawilowski sie sichergestellt.«

»Noch ein Jahr warte ich,« erklärte Swirski, »und nach Ablauf dieser Frist mache ich ihr wieder einen Antrag. Ich bin ihr ganz und gar zu eigen. Da ist nichts mehr zu machen. Haben Sie bemerkt, wie gut die kurzen Haare sie kleiden? Sie sollte sie immer so tragen. Ja, noch ein Jahr warte ich, dann sind mir die Hände nicht mehr gebunden. Vielleicht geht mittlerweile eine Wandlung in ihr vor, zumal, wenn der andre gar keine Annäherung versucht. Wie merkwürdig all dies ist! Glauben Sie mir, ich habe schon alles gethan, um einen Funken von Interesse für das liebe Kind in seinem Herzen zu erwecken. Daß ein Mensch so sehr gegen seinen eigenen Vorteil handelt, kommt wohl sonst nicht vor. Auch Frau Bigiel hat versucht, auf ihn einzuwirken. Doch ist es ungemein schwer. Wer hätte das Recht ihm offen zu sagen: ›Heirate sie!‹ wenn man weiß, daß er sie nicht liebt? Am merkwürdigsten ist indessen, daß er offenbar gar nicht mehr an seine ehemalige Verlobte denkt. Nun, Fräulein Ratkowski ist ja hundertmal mehr wert als jene. Und mir liegt jetzt hauptsächlich daran, daß das arme Mädchen nicht meint, ich nähme Zawilowski absichtlich mit mir fort. Ich ging auf seinen Vorschlag ein, weil ich nicht anders konnte, doch falls die Rede auf die Reise kommt, dann, bitte, sagen Sie Fräulein Ratkowski, daß ich Zawilowski nicht dazu aufforderte, sagen Sie ihr, daß ich gern alles thun werde, was zu ihrem Glücke dienen kann, und wenn es auch auf Kosten meines eigenen wäre.«

»Ihr Wunsch soll erfüllt werden,« erwiderte Polaniecki.

»Ich danke Ihnen. Vor meiner Abreise werde ich noch von Ihrer Frau Abschied nehmen.«

»Selbstverständlich. Kommen Sie abends, damit wir länger beisammen bleiben können. Und wenn Sie im Sommer zurückkehren, müssen Sie mit Zawilowski einige Zeit bei uns verbringen.«

»In Buczynek?«

»Vielleicht in Buczynek, vielleicht an einem andern Orte. Das ist noch nicht bestimmt.«

Plötzlich brach Polaniecki ab, denn er erblickte Osnowski, der ein viereckiges Paketchen in der Hand haltend, aus einem Obstladen trat.

»Da geht Osnowski,« sagte Swirski.

»Wie verändert er aussieht,« bemerkte Polaniecki.

In der That hatte sich Osnowski sehr verändert. Ein hageres, gelbliches, um viele Jahre gealtertes Gesicht schaute unter der Pelzmütze hervor, der Mantel schlug weite Falten auf seinen Schultern. Als er die beiden Freunde sah, schien er zu erschrecken, offenbar schwankte er einen Augenblick, ob er vorübergehen und thun solle, als ob er sie nicht erkannt habe. Doch das Trottoir war leer, und sie standen sich gerade gegenüber, deshalb näherte er sich ihnen und begrüßte sie mit einem solchen Wortschwall, wie wenn er dadurch seine und ihre Gedanken in andere Bahnen lenken wollte.

»Guten Morgen, meine Herren! Das ist ein merkwürdiger Zufall, daß wir uns treffen, da ich in Przytulow wohne und selten in die Stadt komme. Ich ließ mir Trauben kommen, weil mir die Traubenkur verordnet ward. Aber sie waren in Sägspäne verpackt und riechen darnach. Hoffentlich sind die hiesigen besser. Wie kalt es heute ist. Wir haben eine treffliche Schlittenbahn auf dem Lande draußen.«

In verlegenem Schweigen gingen alle drei eine Zeit lang nebeneinander her. Endlich begann Polaniecki:

»Sie hegen die Absicht, sich nach Aegypten zu begeben?«

»Ja, ich dachte schon oft daran und jetzt führe ich sie vielleicht aus. Ohnedies hat man im Winter auf dem Lande nichts zu thun und langweilt sich allein.« –

Hier brach er plötzlich ab, wie wenn er dächte, daß das Gespräch eine gefährliche Wendung genommen habe.

Wieder schwiegen sie. Alle waren von der schmerzlichen Empfindung durchdrungen, die uns überkommt, wenn wir einer stillschweigenden Uebereinkunft zufolge von geringfügigen Dingen reden, um wichtige, aber peinliche Vorkommnisse nicht berühren zu müssen. Osnowski hätte sich gern verabschiedet, allein Leute, die an die Beobachtung gewisser Formen gewöhnt sind, halten selbst im größten Unglück noch immer etwas auf den Schein, deshalb wollte er ein Mittel ausfindig machen, um auf leichte und aus natürliche Weise von ihnen loszukommen. – Da ihm jedoch keines einfiel, ward die Situation immer unangenehmer. Schließlich stand er gerade im Begriff, sich ohne Entschuldigung zu entfernen, als ihm mit eins ein anderer Gedanke kam. Die Komödie ward ihm unerträglich. Weshalb sollte er ein Geheimnis aus seinem Unglück machen, weshalb sollte er nicht davon sprechen? Schmerz und Qual drückten sich auf seinem Gesichte aus, indessen wäre es ihm jetzt unwürdig erschienen zu schweigen. Daher blieb er stehen und begann in abgerissenen Worten, während ihm jeden Augenblick der Atem ausging: »Meine Herrn verzeihen Sie, wenn ich Sie noch ein wenig zurückhalte – Sie wissen ja, daß ich mich von meiner Frau scheiden ließ – und ich habe keinen Grund, der mich hindern könnte, mit Freunden, die mir so nahe stehen wie Sie, davon zu reden. – Es ist geschehen – weil – weil ich es wünschte und meine Gattin ebenfalls –«

Die Stimme versagte ihm, er konnte nicht weiter sprechen.

Augenscheinlich hatte er die ganze Schuld auf sich nehmen wollen, empfand aber plötzlich die Zwecklosigkeit dieser Lüge, die weder durch sein Pflichtgefühl, noch durch irgend eine weltliche Rücksicht hätte gerechtfertigt werden können.

Natürlich verlor er nun vollständig den Kopf. Auf seinem Gesichte malte sich die peinlichste Verlegenheit, und so entfernte er sich, mit seinen Trauben in der Hand, so rasch er nur konnte.

Swirski und Polaniecki waren tief erschüttert.

»Bei Gott,« sagte Polaniecki nach langem Schweigen, »das geht ihm ans Leben.«

»Was mich jetzt besonders beschäftigt, ist, daß das Unglück wie der Tod so manche Bande zerreißt, durch welche die Menschen aneinander geknüpft sind, oder sie doch wenigstens lockert. – Sie kennen Osnowski nicht so lange wie ich, ich weiß, daß ich ihm sehr nahe stand, und nun werden wir uns immer fremder. Zu ändern ist das nicht, aber es stimmt mich traurig.«

»Ja, das ist eine traurige und merkwürdige Geschichte.«

Swirski blieb plötzlich stehen und rief: »Wenn nur ein Blitzstrahl vom Himmel niederführe und diese Frau Osnowski erschlüge! Fräulein Helene sagt zwar, man dürfe nie an der Besserung eines Menschen verzweifeln, allein um diese Frau wäre es nicht schade.«

»Ich glaube, kein Weib auf der ganzen Erde ist so vergöttert worden wie sie,« bemerkte Polaniecki.

»Ja, sehen Sie,« begann Swirski eifrig, »im allgemeinen sind die Frauen –« doch plötzlich schlug er sich mit der Hand auf den Mund. »Zum Teufel, das muß ich mir abgewöhnen,« rief er. »Ich habe mir ja selbst gelobt, keine allgemeinen Theorien mehr über die Frauen aufzustellen.«

»Daß er sie vergötterte, erwähnte ich nur, weil ich nicht begreife, wie er ohne sie zu leben vermag,« erklärte Polaniecki.

»Er muß sich in sein Schicksal finden,« meinte Swirski.

Doch Osnowski war nicht dazu imstande. In Przytulow sowohl als auch in Warschau, wo ihn alles an sie erinnerte, ward ihm das Leben bald unerträglich, und so beschloß er denn schließlich zu reisen. Da er sich indessen schon bei der Abreise von Warschau unwohl fühlte, sich dann noch in einem zu stark geheizten Waggon erkältete, erkrankte er in Wien nicht unbedeutend. Das anfangs als Influenza behandelte Leiden ging schließlich in einen heftigen Typhus über. Der Kranke verlor das Bewußtsein und war nun im Hotel auf fremde Aerzte, auf fremde Pflege angewiesen. Fern von der Heimat, lag er einsam im fremden Lande. Doch in seinen Fieberträumen glaubte er ein bekanntes Antlitz neben sich zu sehen, – ein Antlitz, das ihm das teuerste auf Erden war. Er glaubte es auch dann noch neben sich zu sehen, als er wieder zu Bewußtsein gekommen war, sich aber so schwach fühlte, daß er sich weder rühren noch sprechen, noch seine Gedanken sammeln konnte.

Erst später schwand das Traumbild dahin, und er begann die barmherzige Schwester darnach auszuforschen, die ihm die sorgfältigste Pflege angedeihen ließ. Und ihn überkam ein grenzenloses Sehnen nach der Verlorenen.


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