Henryk Sienkiewicz
Die Familie Polaniecki
Henryk Sienkiewicz

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Elftes Kapitel

Zu Hause erwartete Polaniecki eine überraschende Nachricht. Er fand von Frau Chwastowski eine Depesche vor, die lautete: »Ich komme morgen in der Frühe. Litka wohl.« Eine so schnelle Rückkehr hatte er nicht vorausgesehen, aber durch das Telegramm über die Gesundheit Litkas beruhigt, dachte er sich, daß Frau Emilie seiner Angelegenheit wegen früher abreise. Und bei diesem Gedanken schwoll ihm das Herz vor Dankbarkeit. Neue Hoffnung beseelte ihn, gerade als ob Frau Emilie einen Zauberstab besessen hätte, kraft dessen es ihr möglich gewesen wäre, Marynias Empfindungen mit einem Schlage zu ändern.

Und obwohl er sich selbst gelobt hatte, Bigiels Einladung nicht Folge zu leisten, änderte er seinen Entschluß jetzt doch, in der Voraussetzung, Frau Emilie werde an diesem Ausflug teilnehmen, wenn die Umstände es ihr nur einigermaßen gestatten würden.

Noch an demselben Abend schrieb er an Herrn Plawicki und meldete ihm die bevorstehende Ankunft der Freundin, denn er nahm an, Marynia werde ihm dankbar für diese Mitteilung sein.

Am folgenden Tage befand er sich schon um fünf Uhr morgens auf dem Perron. Auf den Zug wartend, eilte er mit raschen Schritten hin und her, um sich zu erwärmen, denn es war kühl. Die Bahnhofgebäude und die auf den Geleisen stehenden Waggons verschwammen im Nebel, der unten ganz dicht, in der Höhe rosig und leuchtend war und einen heiteren Tag verkündigte. Plötzlich tauchten vor Polaniecki zwei Gestalten auf und mit Herzklopfen erkannte er in der einen Fräulein Marynia, die mit einer Dienerin gekommen war, um Frau Emilie zu begrüßen. Die unverhoffte Begegnung brachte ihn im ersten Moment sehr in Verwirrung. Auch Marynia schien unschlüssig und verlegen. Er näherte sich ihr und streckte ihr die Hand hin.

»Guten Tag, mein Fräulein,« sagte er. »Gestern erhielt ich die Depesche und ich benachrichtigte Ihren Herrn Vater davon, weil ich mir dachte, daß Sie sich darüber freuen.«

»Ich danke Ihnen, es war mir eine angenehme Neuigkeit.«

»Der Zug trifft erst in einer halben Stunde hier ein, und ich rate Ihnen, nicht stehen zu bleiben, denn es ist sehr kühl.«

»Ich gehe in den Wartsaal,« und leicht das Haupt neigend, entfernte sie sich.

Polaniecki begann abermals mit schnellen Schritten auf dem Perron hin und her zu wandern. Daß sie nicht bleiben wollte, ärgerte ihn, obwohl er dachte, sie halte es vielleicht nicht für schicklich, dagegen erfüllte ihn die Aussicht auf eine mögliche Annäherung mit der größten Freude. Sein froher Mut, seine gute Laune wuchsen beständig. Er dachte an die blauen Augen Marynias, an ihr, von der frischen Morgenluft gerötetes Antlitz, und vor den Fenstern des Wartsaales hin und her gehend, sagte er sich beinahe heiter: »Oh verbirg Dich nur vor mir, ich finde Dich doch.«

Indessen ertönte das Signal, und nach einigen Minuten zeigten sich im Nebel immer deutlicher werdend die Umrisse des Zuges. Kleine Rauchwölkchen ausstoßend fuhr die Lokomotive auf der Station ein, und mit Zischen und Brausen strömte der Rest des unnötigen Dampfes unter die vorderen Räder. Polaniecki eilte an den Schlafwagen, denn das erste Gesicht, das er an den Scheiben erblickte, war das Litkas, welches sich bei seinem Anblick erhellte, wie wenn plötzlich ein Sonnenstrahl darauf gefallen wäre. Sie winkte Polaniecki, und im nächsten Moment befand er sich im Waggon.

»Mein liebes Täubchen!« rief er, Litkas Hand ergreifend. »Wie hast Du geschlafen? Und wie geht's mit der Gesundheit?«

»Ganz gut. Wir werden nun immer bei einander sein, Herr Stach.«

Dicht neben der Kleinen stand Frau Emilie, der Herr Stach sehr herzlich die Hand küßte, und so hastig, wie dies gewöhnlich bei einer derartigen Begrüßung zu geschehen pflegt, sagte er:

»Guten Tag, liebe Freundin. Ich habe einen Wagen genommen, Sie können sogleich nach Hause fahren. Mein Diener wird die Sachen bringen, ich bitte nur um den Schein. In Ihrer Wohnung finden Sie den Thee bereit. Fräulein Plawicki ist auch hier.«

Marynia wartete vor dem Waggon, und sie und Frau Emilie begrüßten sich voll Freude. Litka blickte das junge Mädchen zuerst etwas zögernd an, dann aber schlang sie mit ihrer ganzen früheren Herzlichkeit den Arm um sie.

»Marynia, begleite uns nach Hause,« sagte Frau Emilie. »Nun? Einverstanden?«

»Ihr seid sicherlich müde nach der langen Reise.«

»Wir schliefen von der Grenze an ganz fest, und als wir erwachten, hatten wir gerade Zeit Toilette zu machen. Thee trinken wir jedenfalls, also störst Du uns nicht.«

»Nun gut, mit dem größten Vergnügen begleite ich Euch.«

Litka zupfte ihre Mutter am Kleide:

»Und Herr Stach, Mamachen?«

»Selbstverständlich ist Herr Stach auch eingeladen.«

Nach wenigen Minuten befanden sich alle vier im Wagen. Polaniecki, Marynia gegenüber und neben der kleinen Litka sitzend, war in vorzüglicher Laune. Ihn dünkte, ein neuer Morgen sei angebrochen, und bessere Tage müßten nun für ihn beginnen. Wußte er doch, daß er sich von jetzt an zu einem kleinen Kreis von Menschen rechnen dürfe, welche durch die Bande der Freundschaft innig vereint waren, und daß auch Marynia zu diesem Kreise gehörte. Er saß ihr gegenüber, er schaute in ihre Augen und fühlte sich eins mit ihr in der Liebe zu Frau Emilie und Litka.

Alle vier plauderten fröhlich miteinander.

»Was ist vorgefallen, Emilie,« fragte Marynia, »daß Ihr so früh zurückgekehrt seid?«

»Litka bat mich täglich darum.«

»Bist Du nicht gern im Ausland?« fragte Polaniecki.

»Nein!«

»Hast Du Dich so sehr nach Warschau zurückgesehnt?«

»Ja.«

»Und nach mir? Wie? Sage es nur, sonst werde ich böse.«

Litka schaute auf ihre Mutter, auf Marynia, auf Polaniecki und erklärte: »Ja, auch nach Ihnen, Herr Stach.«

»Meinen Dank dafür,« versetzte Polaniecki.

Und ihr Händchen ergreifend, wollte er es küssen, doch sie wehrte sich dagegen, so gut sie konnte.

»Wie Sie sehen, streiten wir uns häufig, doch lieben wir uns dessenungeachtet,« sagte er zu Marynia gewendet.

»So ist's gewöhnlich,« entgegnete diese.

»Ach, wenn es doch immer so wäre,« bemerkte er, ihr tief in die Augen blickend.

Marynia errötete und ward sehr ernst, erwiderte jedoch nichts und begann ein Gespräch mit Frau Emilie.

Polaniecki wendete sich zu Litka: »Wo befindet sich Professor Waskowski? Hat er sich nach Italien begeben?«

»Nein, er blieb in Czenstochau und kommt übermorgen zurück.«

»Wie geht es ihm?«

»Gut.«

Hier blickte Litka ihren Freund aufmerksam an, und sagte dann: »Aber Herr Stach ist ganz mager, nicht wahr, Mama?«

»Sie sehen wirklich nicht besonders gut aus,« sagte Frau Emilie.

Polaniecki hatte sich in der That verändert, denn er schlief schlecht, und die Ursache seiner schlaflosen Nächte saß ihm gegenüber im Wagen, doch schützte er Arbeit und allerlei Geschäftssorgen vor. Mittlerweile waren sie an Emiliens Wohnung angelangt.

Während eines kurzen Augenblicks, da Frau Emilie und Litka von den Dienstboten begrüßt wurden, befanden sich Polaniecki und Marynia allein miteinander im Speisezimmer.

»Sie haben hier wohl keine Freundin, die Ihnen so nahe steht wie Frau Emilie?« fragte Polaniecki.

»Nein, und keine, die ich so innig liebe.«

»Sie ist stets gütig und freundlich, und das thut einem wohl. Ich zum Beispiel, der ich ganz allein stehe, fühle mich hier wie zu Hause.« Und mit etwas unsicherer Stimme fügte er hinzu: »Ueber Ihre Freundschaft für die beiden freue ich mich besonders, weil wir dadurch etwas Gemeinsames haben, in etwas einig sind.«

Dabei schaute er bittend in ihre Augen, wie wenn er sagen wollte: So vermag ich nicht weiter zu leben, reiche mir die Hand zum Zeichen der Versöhnung.

Aber gerade weil er ihr nicht gleichgültig war, ward ihr Unwille über ihn immer größer. Je mehr sich sein gutes Herz offenbarte, je sympathischer er ihr erschien, desto unerhörter dünkte ihr sein Verfahren gegen sie, desto größeren Groll empfand sie gegen ihn.

Mit zarter Empfindung begabt, zudem von Natur schüchtern und wohl fühlend, daß eine zurückweisende Antwort die Harmonie dieser Stunde völlig zerstören würde, schwieg Marynia. Er aber bedurfte keiner Antwort, er las nur zu deutlich in ihren Augen: »Du bemühst Dich umsonst, unser früheres, gutes Einvernehmen wiederherzustellen, am besten wird es sein, wenn wir uns fern bleiben.«

Seine Freude schwand sofort, er empfand nur noch Schmerz und Bitterkeit, und in ihr holdes Antlitz blickend, sagte er sich, daß sie ihm unwiderruflich verloren sei.

Litkas Rückkehr machte dieser peinlichen Situation ein Ende. Freudestrahlend lief das kleine Mädchen herbei, blickte aber plötzlich verwundert von einem zum andern, worauf sie sich ganz still an den Theetisch setzte. Auch ihre Heiterkeit war nun verschwunden, obschon Polaniecki, den Schmerz gewaltsam bekämpfend, sich während des Frühstücks bemühte, heiter und gesprächig zu sein. Doch wandte er sich fast nie an Marynia. Er beschäftigte sich ausschließlich mit Frau Emilie und Litka – und merkwürdigerweise empfand Marynia dies wie ein ihr zugefügtes Unrecht.

Am folgenden Abend waren Frau Emilie und Litka zum Thee bei Marynia und ihrem Vater. Dieser hatte auch Maszko und Polaniecki gebeten, letzterer kam aber nicht. Und so ist die menschliche Natur: dies ärgerte Marynia aufs neue. Der Haß, gerade wie die Liebe, verlangt nach der Nähe der Person, gegen die er sich wendet. Unwillkürlich blickte Marynia den ganzen Abend nach der Thüre, und als die Stunde heranrückte, in der Polaniecki nicht mehr kommen konnte, fing sie an mit Maszko zu kokettieren, so daß Frau Emilie in die größte Verwunderung geriet.


 << zurück weiter >>