Henryk Sienkiewicz
Die Familie Polaniecki
Henryk Sienkiewicz

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Dreiundfünfzigstes Kapitel

Eines Morgens wurde jedoch die scheinbare Ruhe dieses Lebens mit einem Schlage gestört durch die Ankunft zweier Briefe mit schwarzen Rändern an die Herren Osnowski und Zawilowski. In dem Momente, als man sie brachte, saß die ganze Gesellschaft beim Kaffee; die Augen der Damen wandten sich natürlich sofort voll Neugierde und Unruhe auf die Lesenden, die, nachdem sie die Karten aus den offenen Couverts herausgenommen hatten, fast gleichzeitig ausriefen: »Herr Zawilowski ist gestorben.«

Diese Nachricht machte tiefen Eindruck. Frau Bronicz schien vollständig der Sprache beraubt zu sein. Fräulein Ratkowski wurde totenbleich, Fräulein Castelli suchte Frau Bronicz aus ihrer Erstarrung zu reißen, indem sie deren Hand ergriff und halblaut flüsterte: »Voyons, chère, tu n'es pas raisonnable.«

Frau Aneta aber nahm ohne weiteres die Karte aus den Händen ihres Mannes und las: »Eustachius Zawilowski schied aus dieser Welt am 25. Juli etc. Die tieftrauernde Tochter lädt die Verwandten und Freunde zu der Beisetzung am 28. dieses Monats in die Parochialkirche in Jasmien ein, etc.«

»Ich kannte ihn wenig,« ergriff Zawilowski nach längerem Schweigen das Wort, »und war anfänglich gar nicht für ihn eingenommen. Jetzt aber betraure ich ihn von Herzen, denn ich weiß jetzt, welch guter Mensch er gewesen ist.«

»Er hat Dich auch herzlich liebgewonnen,« warf Osnowski ein. »Ich hatte Beweise davon.«

Frau Bronicz war unterdessen wieder zu sich gekommen. Sie erklärte auch sofort, jetzt werde es sich erst recht zeigen, wie großdenkend Herr Eustachius gewesen sei.

»Er war Lineta so zugethan,« sagte sie, »und wer Lineta gern hat, der kann kein böser Mensch sein. Mich erinnert er beständig an Theodor, er war zwar häufig ebenso schroff, wie Theodor mild war, doch beide besaßen die gleiche ehrliche Seele. Nimm Dich nur in acht, mein Kind,« wandte sie sich hierauf an Lineta, »Du weißt, wie Dich jede Rührung, jeder seelische Schmerz erregt, lasse Dich also wenigstens dieses Mal nicht von Deiner angeborenen Weichheit hinreißen.«

Zawilowski hielt in dem Gefühle, daß ihn und Lineta zum erstenmale ein gemeinsamer Schmerz getroffen habe, ihre Hände in den seinen und drückte heiße Küsse darauf. Nur auf Kopowski machte die Trauerkunde einen merkwürdigen Eindruck. Er blickte zuerst einige Zeit nachdenklich gen Himmel, als ob ihm jetzt erst die Vergänglichkeit alles Irdischen zum Bewußtsein käme, und sagte dann seufzend:

»Ich bin nur neugierig, was Fräulein Helene mit den Pfeifen machen wird, die Herr Zawilowski hinterläßt.«

Kopowskis Worte wurden jedoch nicht beachtet, weil erstens Zawilowski einen Brief von Polaniecki überbracht bekam, der ebenfalls die Nachricht von dem Tode des alten Herrn enthielt, und zweitens weil Osnowski sich mit seiner Frau über die Fahrt nach Jasmien beriet.

Es wurde beschlossen, daß alle sofort in die Stadt fahren sollten, damit die Damen noch Zeit haben würden, ihre Trauerkleider zu besorgen. Erst am andern Tage wollte man sich dann zu der Beerdigung nach Jasmien begeben. Nach der Ankunft in der Stadt begab sich Zawilowski gleich in seine Wohnung, um alles Nötige für den andern Tag zu besorgen, dann begab er sich in der Meinung zu Polanieckis, daß auch sie vom Lande zurückgekommen seien. Der Diener teilte ihm jedoch mit, daß sein Herr sich gleich nach Jasmien begeben habe, in dessen Nähe die Herrschaften schon seit zwei Wochen ein Haus gemietet hätten.

Als er dies hörte, kehrte er in die Villa Osnowski zurück, um den Abend mit seiner Braut zu verbringen. Im Vorzimmer wurde er durch die aus dem Innern des Hauses dringenden Töne eines Straußschen Walzers überrascht, und als er in dem nächsten Zimmer mit Fräulein Ratkowski und Frau Bronicz zusammentraf, fragte er, wer spiele.

»Lineta spielt mit Herrn Kopowski,« antwortete Fräulein Ratkowski.

»So ist Herr Kopowski hier?«

»Er kam vor einer Viertelstunde.«

»Und Herr und Frau Osnowski?«

»Sind noch nicht zu Hause. Aneta macht Einkäufe.«

Zum erstenmale fühlte Zawilowski sich von einer Handlungsweise Linetas unangenehm berührt. Er begriff ja ganz gut, daß der Tod des alten Edelmannes ihr nicht nahe gehen konnte, allein nichtsdestoweniger erschien ihm die Zeit zum Spielen eines vierhändigen Walzers mit Kopowski durchaus unpassend. Er empfand dies als einen Mangel an Takt, und Frau Bronicz erriet sofort an seinem Gesichtsausdruck, was in ihm vorging.

»Lineta sah so niedergedrückt und matt aus,« erklärte sie deshalb, »daß ich sie veranlaßte, mit Herrn Kopowski ein wenig vierhändig zu spielen. Nichts beruhigt sie so sehr wie Musik.«

Da Lineta bei Zawilowskis Kommen sofort zu spielen aufhörte, verwischte sich der unangenehme Eindruck bald wieder bei ihm. In der Dämmerstunde wandelte er Arm in Arm mit Lineta in den Zimmern umher, in denen jedes Eckchen ihm irgend eine teure Erinnerung wachrief.

»Weißt Du noch,« sagte er im Atelier, »hier faßtest Du mich beim Malen an den Schläfen, um mir den Kopf zu wenden, und ich küßte Dir zum ersten Male die Hand, und als Du sagtest, ich dürfe mit Deiner Tante sprechen, da war mir's, als ob ich nicht nur den Atem, nein, als ob ich das Bewußtsein verliere. Du meine Auserwählte, mein höchstes Kleinod.«

»Du sahst damals totenblaß aus!« bemerkte sie.

»Ist dies nicht natürlich, wenn einem das Herz vor Entzücken und Rührung still zu stehen droht! Ich liebe Dich doch grenzenlos.«

Fräulein Castelli blickte zu ihm empor und sagte dann: »Wie das doch alles so eigentümlich ist.«

»Was, Lineta?«

»Daß dies wie eine Probe, wie ein Spiel anfängt, sich immer weiter ausspinnt, und daß dann plötzlich die Klinke zufällt.«

»Ja, die Klinke ist zugefallen,« entgegnete Zawilowski, die Hand Linetas an seine Brust drückend, »und ich habe meine Sonne und gebe sie nicht mehr frei . . . Liebst Du mich?«

»Du weißt es.«

»Sage: ja.«

»Ja!«

Nun drückte er ihre Hand noch inniger als zuvor, dann sagte er mit einer, durch das ihn fast überwältigende Gefühl gänzlich veränderten Stimme: »Du hast ja keinen Begriff, wie glücklich Du mich machst. Ich gebe Dir mein Wort, Du hast keinen Begriff davon. Du weißt auch nicht, wie ich Dich liebe. Du bist meine Welt, mein Leben, mein Alles. Ohne Dich würde ich sterben.«

»Komm, wir wollen uns setzen,« flüsterte Fräulein Castelli, »ich bin müde.«

Dicht neben einander nahmen sie Platz. Es herrschte eine Weile Schweigen.

»Was ist Dir? Du bebst ja!« flüsterte Fräulein Lineta dann mit zitternder Stimme, denn auch sie selbst war bewegt, sei es durch seine Nähe, sei es, daß sein Gefühl sie mit fortriß. Sie atmete rasch und schwer, und die Augen schließend, bot sie ihm ihre Lippen dar.

Als Zawilowski nach Hause zurückkehrte, kam ihm seine Junggesellenwohnung wie ein Bild der Oede und Leere vor, wie ein Zelt, das nach Gutdünken jeden Augenblick abgebrochen werden kann. Und von neuem fühlte er, wie sehr er Lineta liebte, wie er ohne sie nicht mehr leben konnte, nicht mehr leben wollte.

Die Beerdigung des Herrn Zawilowski fand am folgenden Tage ohne große Beteiligung statt. Die Besitzer der benachbarten Güter, größtenteils sehr wohlhabende Leute, verbrachten die Sommermonate im Auslande, und aus dem gleichen Grunde waren auch die wenigsten Bekannten des Verstorbenen in der Stadt. Dessen Tochter Helene ging mit einem Gesichte hinter dem Sarge her, über das zwar große Thränen rollten, das jedoch seinen gewöhnlichen ruhigen, fast leblosen, versteinerten Ausdruck nicht verloren hatte, und nachdem sie von der Beerdigung nach Hause gekommen war, erzählte sie von dem Tode ihres Vaters in einer Weise, als ob seitdem schon einige Monate verstrichen wären. Dann wandte sie sich an den jungen Zawilowski und sagte: »Von Ihnen sprach er sehr oft, vielleicht noch eine Stunde vor seinem Tode bat er, man möge ihn sofort benachrichtigen, wenn Sie einmal nach Buczynek zu Polaniecki kommen sollten, er wolle Sie unbedingt sehen. Mein Vater hat Sie sehr, sehr geliebt und geschätzt.«

»Mein teueres Fräulein,« erwiderte Zawilowski, ihre Hände an die Lippen führend, »ich betrauere ihn auch von ganzem Herzen.«

Es lag etwas so Ueberzeugendes sowohl in seinem Tone, wie in seinen Worten, daß sich Fräulein Helenens Augen mit Thränen füllten, und Frau Bronicz in lautes Schluchzen ausbrach. Sicherlich hätte sogar letztere wieder einen nervösen Anfall bekommen, wenn ihr nicht Fräulein Castelli sofort ein Flacon mit Riechsalz gegeben hätte.

Fräulein Helene ignorierte jedoch dies Schluchzen vollständig. Sie dankte Herrn Polaniecki mit warmen Worten für den ihr geleisteten Beistand, hatte er doch all die Anordnungen für das Begräbnis, wie überhaupt all die Besorgungen übernommen, mit denen die Leidtragenden bei jedem Trauerfalle überbürdet werden.

Marynia hatte dem Begräbnis nicht beigewohnt; ihr Mann wünschte nicht, daß sie sich einem solchen Gedränge, einer solchen Aufregung aussetze, jetzt aber war sie auch gekommen und machte Fräulein Helene den Vorschlag, zusammen mit den Przytulower Damen mit ihr auf einige Tage nach Buczynek zu gehen. Polaniecki schloß sich ihrer Bitte an, aber Fräulein Helene, die ihre frühere Gouvernante bei sich hatte, dankte dafür, indem sie Frau Marynia versicherte, sie fühle sich in Jasmien gar nicht unbehaglich, und wolle es besonders in den ersten Tagen nicht verlassen.

Dagegen nahmen die Damen und Herren aus Przytulow die Einladung nach Buczynek an, besonders da Frau Bronicz es kaum erwarten konnte, von Polaniecki das Nähere über die letzten Augenblicke des Verstorbenen zu erfahren. Frau Marynia, die Fräulein Ratkowski mit großem Interesse beobachtet hatte, nahm sie in ihrem Wagen mit, und die beiden jungen Damen fanden sofort großes Gefallen aneinander. In den traurigen Augen Fräulein Ratkowskis, in ihrem Gesichtsausdrucke, in ihrem, wie Swirski sagte, »weltabgewandten Wesen« lag übrigens etwas so Anziehendes, daß Frau Marynia sie auf den ersten Blick als eine schüchterne, in sich gekehrte, aber feinfühlige und zartbesaitete Natur beurteilte. Fräulein Ratkowski wiederum hatte einerseits soviel von dem jungen Zawilowski über Marynia gehört, anderseits las sie in deren Augen ein Interesse und eine Sympathie, an welche sie in ihrer Armut und Verlassenheit nicht gewöhnt war, daß sie sich ihr mit ganzem Herzen anschloß. Auf diese Weise kamen sie als gute Freundinnen in Buczynek an, und Swirski, der mit Polaniecki, Osnowski und Kopowski gleich nach ihnen vorfuhr, brauchte nicht viel Scharfsinn, um zu erraten, daß das Urteil Marynias über Fräulein Stefeia sehr schmeichelhaft ausfallen werde.

Er mußte jedoch seine Ungeduld noch etwas zügeln. Marynia zeigte den Gästen ihr neues Heim, das ihr Eigentum werden sollte, denn Polaniecki hatte schon beschlossen, Buczynek zu kaufen. Besonders der Garten, in dem sehr alte Silberpappeln wuchsen, wurde einer eingehenden Besichtigung unterworfen; diese Gelegenheit ließ sich aber Swirski nicht entgehen. Er reichte Marynia rasch den Arm und auf dem Rückwege in das Haus, als die Gesellschaft sich in den verschiedenen Alleen zerstreut hatte, fragte er sie mit großer Lebhaftigkeit: »Nun, gnädige Frau, wie war der erste Eindruck?«

»Der allerbeste! Geben Sie sich ja Mühe, sie kennen zu lernen.«

»Ich? wozu? Ich erkläre mich noch heute. Meinen Sie denn, daß ich noch lange zaudere? Mein Wort darauf, es geschieht noch heute, hier in Buczynek. In diesen Sachen muß man etwas wagen. Heute erkläre ich mich, so wahr ich hier vor Ihnen stehe. Was schadet es, daß meine Werbung an einem Beerdigungstage vorgebracht wird! Ich bin nicht abergläubig, oder vielmehr ich bin es und glaube, daß aus Ihrer Hand nichts Schlimmes kommen kann.«

»Sie erhalten ja aber Fräulein Ratkowski gar nicht aus meiner Hand. Ich lernte sie doch erst heute kennen.«

»Das ist alles eins. Ich fürchtete die Frauen mein ganzes Leben hindurch. Vor dieser ängstige ich mich aber ganz und gar nicht. Sie kann einfach kein undankbares Herz haben.«

»Nein, ich glaube das auch nicht.«

»Sehen Sie! Und für mich ist es nun die höchste Zeit. Wird sie mich erhören, so werde ich sie mein ganzes Leben hindurch hier tragen – (bei diesen Worten steckte er seine Hand in die Brusttasche) – und wenn nicht, dann . . .«

»Dann was?«

»Dann schließe ich mich ein und werde acht Tage lang von morgens bis abends malen. Ich dachte zuerst, ich wolle in letzterem Falle auf die Entenjagd gehen, doch für mich ist das eine ernstere Sache, als Sie sich denken. Ich glaube jedoch, daß sie mir ihr Jawort giebt. Meines Dafürhaltens nach kann sie ja jenen weibischen Friseurkopf, den Kopowski, nicht lieben. – Sie steht allein in der Welt, ist eine Waise und mir erweist sie eine Wohlthat, für die ich ihr ewig dankbar sein werde, denn ich bin im Grunde ein guter Mensch – aber ich fürchte, ich könnte verbittert werden.«

Jetzt erst sah Marynia ein, daß Swirski auch ernst reden konnte, und erwiderte daher: »Gewiß, Sie sind in der That ein guter Mensch – und daher werden Sie niemals verbittert werden.«

»Doch,« bemerkte er sehr lebhaft, es könnte dahin kommen. Ich werde mit Ihnen offen sein. Glauben Sie denn, ich sei so glücklich? Durchaus nicht. Ich erwarb mir etwas Vermögen und Ruhm, das ist wahr, allein es giebt unter den Männern vielleicht keinen zweiten, der so nach einem weiblichen Ideale lechzt wie ich. Und was geschah? Ich lernte Sie kennen, Frau Bigiel und vielleicht noch zwei oder drei edle, gute, vernünftige und reine Frauen. Erlauben Sie, ich will durchaus keine Artigkeiten sagen, sondern Ihnen nur von einer Enttäuschung erzählen. Ich fand bei unseren Frauen so viel Flatterhaftes, ich stieß auf so viele gewöhnliche, oberflächliche Naturen voll Egoismus, voll Seichtheit, voll Undankbarkeit, voll unwahrer Regungen, daß durch diese Erfahrungen wohl Tausende wie ich hätten verbittert werden können. Dies Mädchen scheint jedoch anders zu sein,« fügte er nach kurzem Schweigen hinzu. »Sie macht den Eindruck eines stillen, süßen, ehrlichen Kindes. Gott gebe, daß sie so ist und daß sie mich will.«

Inzwischen war Polaniecki von Frau Bronicz auf die Seite genommen worden und mußte ihren Redeschwall über sich ergehen lassen.

»Ach ja,« erklärte sie mit gen Himmel gerichteten Augen, »ach ja, er erinnerte mich an meine jungen Jahre, und wie sie sehen, bewahrte ich ihm, trotzdem unsere Beziehungen für längere Zeit abgebrochen waren, bis zu seinem Ende eine große Freundschaft. Sie haben doch gehört . . . Ach nein, Sie konnten es nicht hören, denn ich erwähnte gegen niemand etwas davon, daß es bloß an mir gelegen hätte, die Mutter Helenchens zu werden. Jetzt brauche ich ja kein Geheimnis mehr daraus zu machen. Zweimal sogar hielt er um meine Hand an, und zweimal sagte ich nein. Ich verehrte ihn freilich und mochte ihn sehr gern leiden, aber Sie werden mich verstehen! Wenn man jung ist, sucht man etwas anderes, man sucht das, was ich in meinem Theodor gefunden habe. Ja, ja, einmal war es in Ischia, das andere Mal in Warschau. Er litt sehr; konnte ich ihm aber helfen? Hätten Sie an meiner Stelle anders gehandelt? Sprechen Sie offen!«

Polaniecki, der nicht die geringste Lust verspürte, offen oder nicht offen darüber zu antworten, wie er an Frau Broniczs Stelle gehandelt hätte, meinte: »Sie wünschten, mich etwas zu fragen.«

»Ach ja. Ich wollte über seine letzten Stunden mich erkundigen. Helenchen sagte, er sei ganz plötzlich gestorben, aber Sie, der Sie so nahe wohnten, haben ihn doch sicherlich besucht und daher wissen Sie vielleicht, welche Verfügungen er getroffen hat. Persönlich habe ich ja daran nicht das geringste Interesse. Mein Gott, man kann überhaupt nicht weniger interessiert sein als ich. Sie kennen Lineta nicht, aber sie ist ebensowenig interessiert wie ich! Herr Zawilowski gab mir jedoch sein Wort, daß er Ignaz die Güter in Posen verschreiben werde. Hat er nun sein Wort nicht gehalten, oder hat er nicht mehr Zeit genug gehabt, es zu halten, so mag ihm Gott verzeihen, wie ich ihm verzeihe.«

»Daß Herr Zawilowski an Ignaz dachte,« erwiderte Polaniecki, »unterliegt für mich keinem Zweifel. Hören Sie, weshalb. Vor ungefähr zehn Tagen ließ er sich verschiedene alte Waffen bringen, um sie mir zu zeigen. Dabei wandte er sich an seine Tochter, und ich hörte, wie er zu ihr sagte: ›Es lohnt sich nicht, all diese im Testament aufzuzählen, aber nach meinem Tode gieb sie Ignaz, denn für dich haben sie keinen Wert.‹ Daraus schließe ich, daß er entweder Ignaz schon etwas vermacht hat, oder daran dachte, es zu thun. Mehr weiß ich nicht, denn ich fragte ihn nicht. Wenn ein neues Testament vorhanden ist, wird es in einigen Tagen bekannt, und Fräulein Helene wird es sicher nicht auf die Seite schaffen.«

»Und kennen Sie denn dieses liebe Helenchen so gut? Doch nein, nein, Sie kennen sie nicht so wie ich, und ich kann für sie bürgen. In meiner Gegenwart dürfen Sie das liebe Kind nicht zu verdächtigen suchen. Helenchen sollte ein Testament auf die Seite schaffen! Nein, nein, mein Herr!«

»Seien Sie so gütig, mir keine Gedanken unterschieben zu wollen, die mir ganz fern liegen. Das verbitte ich mir sehr ernstlich. Ein Testament kann man niemals auf die Seite schaffen, denn es wird vor Zeugen gemacht.«

»Sehen Sie, sehen Sie, daß man es nicht zur Seite schaffen kann, da es vor Zeugen gemacht wird. Ich war ja ganz sicher, daß man es nicht zur Seite schaffen kann. Uebrigens liebte Herr Zawilowski Lineta so sehr, daß er schon aus Rücksicht für sie Ignaz sicherlich nicht vergessen haben wird. Er war schon ganz entzückt von ihr, als sie noch so klein war.«

Hier zeigte Frau Bronicz mit der Hand die Größe an, die Lineta damals hatte, und nach einem Augenblick fügte sie hinzu: »Und vielleicht war sie noch nicht einmal so groß.«

Polanieckis Geduld ging zu Ende. Er führte seine Dame zu der übrigen Gesellschaft zurück, welche sich nach der Besichtigung des Gartens zu Tisch gesetzt hatte. Unwillkürlich betrachtete er die reizenden Gesichtszüge Fräulein Castellis und dachte bei sich, daß damals, als der alte Zawilowski so entzückt von ihr war, sie wirklich ein schönes, liebes Kind gewesen sein mußte. Plötzlich kam ihm Litka in den Sinn, die ihm doch auch so teuer gewesen war, und er fragte das junge Mädchen: »Sie kannten also den Verstorbenen schon sehr lange?«

»Oh, ja,« antwortete Lineta, »ungefähr seit vier Jahren. Wie lange ist es, Tante, daß wir Herrn Zawilowski kennen gelernt haben?«

»Worüber denkt nun wieder dieses verliebte Köpfchen nach?« rief Frau Bronicz. »Ach, mein lieber Herr Polaniecki, welch ein glückliches Alter ist das!«

Inzwischen fühlte Swirski, der neben Fräulein Ratkowski saß, daß er das Marynia gegebene Versprechen nicht so leicht ausführen konnte, wie er sich gedacht hatte. Das Gespräch um ihn her störte ihn, noch mehr aber eine unbestimmte Herzensangst, verbunden mit einem vollständigen Mangel an Geistesgegenwart. »Niemals hätte ich geglaubt,« dachte er bei sich, »daß ich ein solcher Feigling sei.« Immer von neuem nahm er einen Anlauf zur Ausführung seines Vorsatzes, allein er sprach stets von etwas anderem, als er eigentlich wollte. Nach dem Essen blieb die ganze Gesellschaft wie zum Trotz beisammen; die Damen waren durch die Beerdigungsfeierlichkeiten sichtlich müde geworden, und als eine Stunde später Frau Aneta erklärte, es sei Zeit zum Aufbrechen, fühlte sich Swirski gleichzeitig erleichtert und peinlich berührt. »Die Schuld liegt nicht an mir,« sagte er sich, »ich hatte die feste Absicht.«

Als jedoch die Damen im Begriffe waren einzusteigen, schwand dieses Gefühl der Erleichterung, und eine tiefe Trauer überkam ihn. Er dachte an sein einsames Leben, und wie er doch niemand habe, dem er seinen Ruhm oder sein Vermögen vererben könne. Sein Mitleid mit Fräulein Ratkowski, das Vertrauen, das sie ihm einflößte, die große Sympathie, die er vom ersten Momente an für sie gehegt, wurden wieder so recht lebendig in ihm: in der letzten Minute faßte er daher Mut. Er reichte ihr den Arm, um sie an den Wagen zu führen und sagte: »Herr Osnowski forderte mich auf, wieder einmal nach Przytulow zu kommen, und ich werde der Einladung Folge leisten, aber mit Palette und Pinsel. Ich möchte so gern Ihr Bild haben.«

Hier brach er plötzlich ab, umsonst versuchend, auf das überzugehen, was ihm so sehr am Herzen lag. Fräulein Ratkowski aber, offenbar nicht gewohnt, daß man sich mit ihr beschäftigte, fragte mit ungekünstelter Verwunderung: »Mein Bild?«

»Ja, für mich ganz allein,« erwiderte Swirski leise.

Fräulein Ratkowski sah ihn an, als ob sie nicht verstehe, um was es sich handle, doch in diesem Augenblick rief ihr Frau Aneta zu, sie möge doch einsteigen, so daß Swirski kaum Zeit fand, ihr die Hand zu drücken und zu sagen: »Auf Wiedersehen!«

Der Wagen rollte davon. Durch die aufgespannten Sonnenschirme wurde das Gesicht Fräulein Ratkowskis bald vollständig verdeckt, trotzdem begleitete jedoch der Maler die Wegfahrenden lange mit den Blicken und stellte sich schließlich die Frage: »Habe ich mich eigentlich erklärt oder nicht?«

Daß Fräulein Ratkowski während der ganzen Fahrt über seine Worte nachdenken werde, davon war er ebenso überzeugt, wie, daß er ihre Frage sehr geschickt beantwortet hatte. In dieser Hinsicht war er mit sich sehr zufrieden. In Nachsinnen vertieft, kehrte er von dem Thore in das Haus zurück. Frau Polaniecki, die von weitem den Abschied mitangesehen hatte, brannte vor Neugierde, die Einzelheiten zu erfahren, aber trotzdem ihr Mann in diesem Augenblicke nicht anwesend war, wagte sie doch nicht zu fragen. Swirski las jedoch in ihren Augen so deutlich die Frage: »Haben Sie sich erklärt?« daß er lächelnd und wie ihre Frage erwidernd, sagte: »Ja wohl, gnädige Frau, fast, wenn auch nicht ganz. Es gab keine Gelegenheit zu einer längeren Unterredung, und deshalb konnte ich keine Antwort bekommen. Ich weiß nicht einmal, ob ich verstanden worden bin.«

Marynia, die an ihm die Lebhaftigkeit vermißte, mit der er sonst über die Angelegenheit gesprochen hatte, dies aber auf seine Aufregung schob, wollte ihm Mut zusprechen, doch wurde sie durch das Kommen Polanieckis in ihrer Absicht gestört. Swirski verabschiedete sich frühzeitig. Offenbar wollte er jedoch ihre Neugierde noch vor seiner Abfahrt befriedigen und sagte deshalb, ohne auf die Anwesenheit Polanieckis zu achten: »Jedenfalls werde ich morgen in Przytulow vorsprechen, oder ich schicke einen Brief dorthin. Hoffentlich wird die Antwort günstig ausfallen.«

Hierauf küßte er ihr auf das wärmste die Hand, und bald war sein Wagen, um den dichte Staubwolken aufwirbelten, ihren Blicken entschwunden.

In tiefes Nachdenken versunken, fuhr der Maler dahin. »Was zum Teufel, Swirski,« sagte er sich, »was ist mit Dir? Wo ist Deine Schwungkraft, Deine Freudigkeit? Warum rufst Du nicht laut in die Welt hinein: ›Endlich! Du heiratest doch jetzt, begreifst Du das. Du altes Nilpferd! Endlich, endlich!‹«

Doch das war ein vergebliches Aufstacheln. Sein Innerstes blieb kalt. Er wußte wohl, daß das, was er erlebt hatte, ein Glück für ihn sein sollte, aber er empfand es nicht.

Eine immer größere Verwunderung bemächtigte sich seiner. Er hatte doch mit vollem Bewußtsein und aus freiem Willen gehandelt. Fräulein Ratkowski blieb ja nach wie vor dasselbe süße, stille und vertrauenerweckende Wesen, weshalb beglückte ihn der Gedanke nicht mehr, daß sie sein so lange ersehntes »Frauchen« werden sollte, und warum blieb ihm im Grunde seiner Seele ein Gefühl der Enttäuschung zurück? Er liebte Fräulein Ratkowski nicht, dies war die beste, einfachste Antwort auf alle Fragen, die er sich stellte.

Swirskis Verwunderung machte schließlich großer Trauer Platz. Er fühlte, zu welch heißer Liebe er fähig wäre, und daß er nicht so liebte, wie er hätte lieben können. Unwillkürlich kamen ihm Fräulein Castelli und Zawilowski in den Sinn, und er sah wieder dessen verklärtes Gesicht vor sich, wie er es in Przytulow so häufig gesehen hatte. Da erwachte in ihm plötzlich wieder der Künstler, der selbst dann über den gewöhnlichen Menschen den Sieg davon zu tragen pflegt, wenn der gewöhnliche Mensch auch über die persönlichsten Dinge nachgrübelt. Er vergaß vollständig seiner selbst und Fräulein Ratkowskis, und dachte darüber nach, was wohl dem Gesichte Zawilowskis die große Eigentümlichkeit verleihe. Vielleicht eine gewisse Exaltation, die daraus spricht! Ja, doch wirkt noch etwas anderes, noch etwas Wesentlicheres mit! Und plötzlich zuckte er zusammen. Merkwürdig, dachte er, das ist ein tragischer Kopf.


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