Henryk Sienkiewicz
Die Familie Polaniecki
Henryk Sienkiewicz

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Siebenundfünfzigstes Kapitel

Vier Tage später, am Himmelfahrtsfeste Marias, an dem auch Frau Polanieckis Geburtstag gefeiert wurde, kamen Herr und Frau Bigiel, sowie Swirski nach Buczynek. Doch trafen sie Marynia nicht zu Hause, da sie sich mit Frau Emilie zur Vesper in die Kirche von Jasmien begeben hatte. Als Frau Bigiel dies erfuhr, ging sie mit der ganzen Kinderschar ihnen nach, und die Männer besprachen nun das Ereignis, von dem seit kurzem die ganze Stadt redete, nämlich den Selbstmordversuch Zawilowskis.

»Heute bin ich dreimal bei ihm gewesen,« sagte Bigiel, »doch die Dienerschaft Fräulein Zawilowskis hat den Befehl erhalten, niemand zuzulassen außer den Aerzten.«

»Und außer mir,« sagte Polaniecki, »Heute zum erstenmal durfte ich ihn nicht sehen, aber bisher verbrachte ich täglich einige Stunden bei ihm. Meiner Frau sagte ich, ich hätte die Zeit im Comptoir verbracht.«

»Sage mir, wie ist die Sache eigentlich zugegangen?« fragte Bigiel.

»Sie verhält sich folgendermaßen,« erklärte Polaniecki. »Ignaz hatte mir gesagt, er ginge in die Irrenanstalt zu seinem Vater, und ich war froh darüber, weil ich glaubte, es werde ihn von seinen Gedanken ablenken. Bis zum Thore begleitete ich ihn, und er versprach, am andern Tage zu mir zu kommen. Jetzt hat es sich gezeigt, daß er mich nur los werden wollte, um sich ungestört eine Kugel durch den Kopf schießen zu können.«

»Also entdecktest Du es nicht zuerst?«

»Nein. Auch hatte ich gar keine Ahnung davon. Daß Fräulein Zawilowski auf die Kunde von der rückgängig gewordenen Verlobung in die Stadt fuhr, war ein wahres Glück.«

»Sie erfuhr es durch mich und nahm sich die Nachricht sehr zu Herzen,« erklärte Swirski.

»Sie ist ein merkwürdiges Wesen,« sagte Polaniecki. »Wie und wo es geschah, erfuhr ich bis jetzt noch nicht, aber ich weiß, daß sie ihn zuerst aufgefunden, ihm Hilfe gebracht, eine ganze Schar von Aerzten zusammengerufen und ihn schließlich zu sich genommen hat.«

»Glauben die Aerzte, daß er am Leben bleibt?«

»Etwas Sicheres wissen sie bis jetzt noch nicht. Wahrscheinlich hat er beim Abfeuern die Waffe zu nieder gehalten, so daß die Kugel, nachdem sie in die Stirn gedrungen war, nach oben ging und unter der Hirnschale stecken blieb. Man fand sie, und zog sie mit leichter Mühe heraus, doch ob er am Leben erhalten wird, ob im bejahenden Falle sein Geist nicht gestört bleibt, ist fraglich. Einer der Aerzte befürchtet Störungen im Sprachvermögen.«

»Wegen dieser elenden Weiber,« stieß Swirski zornig hervor.

»Ueberlassen Sie sie der Gerechtigkeit Gottes!« sagte leise Professor Waskowski, der neben ihm saß.

»Und Du hast gar keinen Argwohn gehegt?« fragte Bigiel, sich an Polaniecki wendend.

»Nein! Selbstverständlich sah ich, daß er mit sich kämpfte, und als wir die Fahrt miteinander machten, zitterte er dermaßen, daß ich glaubte, er werde in Thränen ausbrechen. Doch er ist eine stolze Seele, er suchte sich zu beherrschen, und es gelang ihm.«

»Ich begreife, daß auch fromme Leute in solchen Momenten das Leben verwünschen,« bemerkte Swirski.

»O ja!« sagte Waskowski, sich die Stirne reibend, gleichsam zu sich selbst, »ich habe auch schon solche Menschen kennen lernen. Es giebt ja deren genug, die nicht aus innerem Drange zu Gott beten, sondern gewissermaßen aus Verzweiflung, weil der Atheismus in die Brüche gegangen ist. Wer nicht glaubt, daß über uns ein barmherziger Vater waltet, der seine Hand auf jedes Unglücklichen Haupt legt, wer sich als Höchstes nur ein unzugängliches, unerforschliches und gleichgültiges Wesen vorzustellen vermag, das ebenso gut das Absolute oder das Nirwana genannt werden kann, dem ist dies Wesen bloß ein Begriff, den man nicht lieben oder verehren kann, und wenn das Unglück kommt, verwünscht man das Leben.«

»Schon gut,« erwiderte Swirski mit wegwerfender Ironie, »aber mittlerweile liegt Zawilowski mit zerschmettertem Schädel auf seinem Schmerzenslager, während die Schuldigen sich ganz wohl fühlen.«

»Woher wissen Sie denn, daß sie sich wohl fühlen?« fragte Waskowski.

»Meinetwegen mag sie der Teufel holen!«

»Und ich sage Ihnen, daß sie sich unglücklich fühlen. Ungestraft darf niemand Recht und Gerechtigkeit mit Füßen treten. Sie werden sich gegenseitig einzureden suchen, daß sie nicht anders handeln konnten, allein es wird ihnen nicht gelingen, sich vor sich selbst zu rechtfertigen.«

»Hol sie der Teufel!« rief Swirski abermals.

»An den Sündern, nicht an den Gerechten übt Gott Barmherzigkeit,« fügte Waskowski hinzu.

Indessen hatte sich Bigiel mit Polaniecki unterhalten. Ersterer pries die Güte und den Mut Helene Zawilowskis.

»Daß sie sich allen möglichen Klatschereien aussetzt, unterliegt keinem Zweifel,« sagte er.

»Darum kümmert sie sich nicht,« entgegnete Polaniecki – »auf die Menschen nimmt sie keine Rücksicht und verlangt auch nichts von ihnen, auch ist sie eine stolze Seele. Für Zawilowski hegt sie eine große Zuneigung, und seine That mußte sie außerordentlich erschüttern. – Haben Sie schon von der Geschichte Ploszowskis gehört?«Die Geschichte Ploszowskis findet sich in dem Roman »Ohne Dogma« von dem gleichen Autor.

»Ich kannte ihn persönlich,« antwortete Swirski. – »Sein Vater war der erste, der mir einst in Rom verkündete, daß ich meinen Weg machen werde. – Fräulein Helene galt, glaube ich, für die Verlobte Ploszowskis.«

»Sie war nicht mit ihm verlobt, liebte ihn aber sehr. Sicher ist auch, daß sie seit seinem Tode anders geworden ist. Für ein so frommes Wesen mußte sein Selbstmord furchtbar sein. Und nun kommt die Geschichte mit Zawilowski dazu. Als ich gestern bei ihr war, sah sie mehr einer Sterbenden als einer Lebenden gleich – so müde und überwacht erschien sie mir. Und es sind doch Leute genug da, welche den Kranken pflegen können. Fräulein Ratkowski sagte mir, Fräulein Helene habe seit vier Tagen kaum eine Stunde geschlafen.«

»Fräulein Ratkowski?« fragte Swirski.

»Ja! Ich vergaß es zu sagen. Sie erfuhr das traurige Ereignis aus den Zeitungen und begab sich noch an dem nämlichen Tage zu Fräulein Zawilowski, um sich mit ihr in die Pflege zu teilen. Die Arme sieht auch eher wie ein Schatten, als wie ein lebendes Wesen aus.«

»Fräulein Ratkowski?« wiederholte Swirski. Und er gedachte ihrer Worte: »Ich habe schon gewählt, und wenn ich auch niemals glücklich sein werde, will ich mir wenigstens später nicht vorwerfen, daß ich nicht aufrichtig gewesen sei.« Jetzt erst ward ihm die Bedeutung und die Tragik dieser Worte klar. Alle weltlichen Rücksichten hintansetzend, ohne sich um das Gerede der Leute zu kümmern, war das junge Mädchen an das Lager des Selbstmörders geeilt. Die Sache war sonnenklar.

»Welch blinder Thor ich gewesen bin!« dachte Swirski.

Eine tiefe Sehnsucht nach Helene Ratkowski bemächtigte sich seiner.

»Du hast fehlgeschossen. Du Narr!« sagte er sich. »Im Grunde geschieht Dir recht. Jeder andere hätte Mitleid mit ihr gefühlt. Du hingegen hast angenommen, sie liebe jenen Dummkopf, sie thue nur so, als ob sie höhere Bestrebungen habe, und sei eine oberflächliche Natur. Du hast ihr vor Frau Polaniecki und deren Gatten Uebles nachgeredet, hast einem so holden, unglücklichen Wesen Unrecht zugefügt, und nicht einmal aus Schmerz über die Abweisung, sondern nur aus verletzter Eigenliebe. Darum geschieht Dir recht, ganz recht. Du bist ein Esel, bist ihrer nicht wert. Nun, die Geschichte ist aus, und ich reise in den Orient. Ein Licht wie in Aegypten giebt es ja sonst nirgends in der Welt . . . Wie unschätzbar ist ein solch ehrliches, rechtschaffenes Weib! Durch ihre Abweisung sogar hat sie gut auf mich eingewirkt, indem sie meine Theorien über die Frauen über den Haufen warf. Aber ich muß das arme Mädchen sprechen, ich muß ihr sagen, was ich von ihr denke.«

In der That begab er sich am folgenden Tage zu Fräulein Helene. Auf seine dringenden Bitten hin wurde er angenommen, und in dem Glauben, daß nur freundschaftliche Teilnahme ihn herführe, forderte sie ihn auf, ihr in das Krankenzimmer zu folgen. Dort in dem verdunkelten Gemache, woraus ihm schon von weitem ein penetranter Geruch von Jodoform entgegenströmte, lag Zawilowski mit verbundenem Kopfe. Neben seinem Lager standen jetzt seine treuen Pflegerinnen, deren Wangen die Spuren durchwachter Nächte trugen, und die in der That eher Schatten als Menschen glichen. Zawilowski, dessen Mund offen stand, dessen geschwollene Augenlider unter der Bandage sichtbar waren, hatte sich furchtbar verändert und sah gealtert aus. Swirski hatte ihn sehr lieb gewonnen, fühlte auch nicht weniger Mitleid mit ihm als Polaniecki und Osnowski, nichtsdestoweniger machte ihm aber der Anblick des Verwundeten vornehmlich einen widrigen Eindruck. – Wie entsetzlich hat er sich zugerichtet! dachte er, und sich zu Fräulein Helene wendend, fragte er leise: »Kam er noch nicht zum Bewußtsein?«

»Nein,« erwiderte sie im Flüstertone.

»Was sagt denn der Arzt?«

Fräulein Zawilowski gab ihm durch eine Bewegung ihrer abgemagerten Hand zu verstehen, daß man noch nichts Sicheres wisse, und setzte dann leise hinzu: »Nun sind es schon fünf Tage.«

»Das Fieber ist zurückgegangen,« bemerkte Fräulein Ratkowski.

Swirski erbot sich, den Damen in der Pflege behilflich zu sein, aber Fräulein Zawilowski wies ihm mit einem Blicke den jungen Arzt, den er noch nicht bemerkt hatte und der im Hintergrunde des Zimmers an einem Tische saß, worauf sich ein Waschbecken, sowie Verbandzeug befand. Der Doktor schlief, augenscheinlich hatte ihn die Ermüdung übermannt, während er auf einen seiner Kollegen wartete, der ihn ablösen sollte.

»Wir haben zwei Aerzte, von denen sich einer immer hier aufhält,« erklärte Fräulein Ratkowski. »Auch sind wir genügend mit Wärterinnen versorgt, die sich gut auf Krankenpflege verstehen.«

»Trotzdem scheinen Sie sich zu sehr anzustrengen.«

»Jetzt handelt es sich nur um den Kranken!« antwortete sie, auf Zawilowski blickend.

Swirskis Augen hatten sich indessen besser an die Dunkelheit gewöhnt, und er sah nun deutlich das starre Gesicht des Leidenden, seine fast schwarzen Lippen. Sein lang ausgestreckter Körper lag ruhig da, nur seine hageren Finger bewegten sich unruhig hin und her und zerrten an der Bettdecke.

»In ein paar Tagen wird man ihn hinaustragen, so wahr es einen Gott im Himmel giebt,« dachte Swirski.

Trotzdem sagte er, um den beiden Mädchen nicht den Mut zu nehmen:

»Solche Wunden führen entweder schleunigen Tod herbei oder sie werden geheilt.«

Fräulein Helene erwiderte kein Wort, allein ihr Gesicht verzog sich krampfhaft, und ihre Lippen wurden weiß.

Swirski war gekommen, um eine wohlgesetzte Rede an Fräulein Ratkowski zu halten, er hatte ihr gestehen wollen, wie falsch er sie beurteilt, er hatte ihr seine Verehrung aussprechen, sie um ihre Freundschaft bitten wollen, aber jetzt, im Angesicht des am Tode Liegenden erkannte er sofort, daß alles, was er zu sagen beabsichtigte, unwichtig, kleinlich, und daß es überhaupt nicht an der Zeit sei, derartige persönliche Angelegenheiten zu erörtern.

So drückte er denn schweigend zuerst Fräulein Helenens, dann Fräulein Ratkowskis Hand an seine Lippen und atmete tief aus, als er das Zimmer des Unglücklichen verlassen hatte.

Bei all seinem Mitgefühl konnte er sich einer gewissen Empörung nicht erwehren.

»Er schoß sich eine Kugel durch den Kopf, weil ihm sein Talent und alles andere auf der Welt vollständig gleichgültig war,« murmelte er vor sich hin, »und jene armen Seelen quälen sich seinethalben und zittern um sein Leben.« Eine Art Eifersucht und Mitleid mit sich selbst überkamen ihn.

»Hättest Du Dir, unbekümmert um Dein Talent, ebenfalls ein Stückchen Blei durch den Schädel gejagt, so würde kein Mensch für Dich sorgen,« dachte er.

In weiteren Erwägungen wurde er durch Herrn Plawicki gestört, der ihm an einer Straßenecke begegnete und ihn anhielt.

»Ich komme gerade von Karlsbad zurück,« sagte er. »Zum Teufel auch! Was für hübsche Frauen sind dort . . . Polaniecki sprach ich schon, ich weiß auch, daß meine Tochter gesund ist – aber er sieht schlecht aus.«

»Er hat viel Aufregung und Kummer . . . Sie haben doch wohl schon von Zawilowski gehört?«

»Gewiß! Gewiß! – Und was sagen Sie dazu?«

»Daß es ein großes Unglück ist.«

»Ja, aber ein Unglück ist es auch, daß die Menschen heutzutage keine Grundsätze mehr haben. Dies kommt von den neuen Erfindungen, und von Eurem Atheismus, Hypnotismus, Socialismus. Die Jugend ist gegenwärtig aller Grundsätze bar. – Darin ist die Ursache zu allem Elend zu suchen!«


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