Henryk Sienkiewicz
Die Familie Polaniecki
Henryk Sienkiewicz

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Fünfzehntes Kapitel

Von dem neuen Anfall, der noch heftiger als die vorhergegangenen aufgetreten war, konnte sich die arme Litka lange nicht erholen. Tagsüber lag sie jetzt auf einem Ruhebett im Salon. Am ruhigsten und zufriedensten war sie, wenn Polaniecki bei ihr saß und sie mit ihm und mit der Mutter von allem plauderte, was ihr durch den Kopf ging. Marynia gegenüber verhielt sie sich gewöhnlich sehr still, dagegen ließ sie bisweilen lange Zeit unverwandt ihren Blick auf ihr ruhen und schaute dann sinnend empor, wie wenn sie sich etwas klar machen wolle. Gar häufig schien sie in tiefes Nachdenken versunken zu sein, und als sie eines Nachmittags mit der Mutter allein war, richtete sie sich plötzlich, wie aus dem Schlafe auffahrend, empor und rief:

»Mütterchen, setze Dich ein wenig zu mir her auf das Sofa.«

Frau Emilie erfüllte die Bitte; die Kleine schlang die Arme um ihren Hals, lehnte das blonde Köpfchen an ihre Schulter und flüsterte zärtlich, aber kaum hörbar:

»Ich möchte Dich etwas fragen, weiß aber nicht, wie ich mich ausdrücken soll.«

»Um was handelt es sich denn, Herzchen?«

Litka schwieg einen Augenblick, dann sagte sie:

»Mama, wie ist das eigentlich, wenn man jemand liebt?«

»Wenn man jemand liebt, Litka?« Frau Emilie wiederholte die Frage, weil sie nicht recht begriff, worauf das Kind hinzielte.

»Ja, Mütterchen.«

»Man wünscht dann, daß dieser Jemand gesund bleibe, ganz so wie ich wünsche, daß Du gesund wärest.«

»Und was noch?«

»Und man wünscht, daß er sich glücklich fühle, daß es ihm gut in der Welt ergehe, und wenn ihn etwas Schlimmes trifft, wünscht man, für ihn leiden zu können.«

»Und was noch?«

»Man wünscht, immer mit ihm zusammen zu sein, so wie ich mit Dir zusammen bin – und man wünscht, daß man von ihm so geliebt werden möge, wie Du mich liebst.«

»Jetzt verstehe ich es,« rief Litka, tief aufatmend, »ich habe stets gedacht, daß es so sein müsse.«

»So, mein Herzchen?«

»Denn weißt Du, Mama, ich hörte ja schon in Reichenhall – erinnerst Du Dich am Thumsee – Herr Stach liebe Marynia, und jetzt weiß ich, wie unglücklich er sein muß, weil er nie davon spricht.«

»Regst Du Dich nicht zu sehr auf?« fragte Frau Emilie.

»O durchaus nicht! – Jetzt verstehe ich alles. Er möchte, daß sie ihn liebt, aber sie liebt ihn nicht, und er möchte, daß sie immer bei ihm wäre, aber sie wohnt bei ihrem Vater und will ihn nicht heiraten.«

»Will nicht seine Frau werden . . .«

»Und er grämt sich darüber, nicht wahr, Mamachen?«

»Gewiß, mein Kind.«

»Jetzt verstehe ich alles. Wenn sie aber seine Frau würde, könnte sie ihn dann lieben lernen?«

»Sicherlich, Herzchen. Er ist doch ein solch lieber, guter Mensch.«

»Ja, ja, das weiß ich jetzt alles.«

Das Kind schloß die Augen, und Frau Emilie blieb während einiger Minuten unbeweglich sitzen, damit es einschlafe, aber nach einiger Zeit begann es aufs neue zu fragen:

»Und wenn er sich mit Marynia verheiratet, würde er dann aufhören, uns zu lieben?«

»Nein, Litka, er würde uns auch lieb behalten.«

»Aber Marynia hätte er doch noch lieber?«

»Marynia stünde ihm dann freilich näher als wir; weshalb erkundigst Du Dich aber so eingehend darüber?«

»Ist das unrecht?«

»Nein, durchaus nicht! Nur fürchte ich, daß Du Dich ermüdest.«

»O nein, o nein! Ach, ich denke so häufig an Herrn Stach. Aber nicht wahr, Mamachen, Du sagst Marynia nichts davon.«

In den nächsten, auf dieses Gespräch folgenden Tagen war Litka auffallend schweigsam, beobachtete aber Marynia noch mehr als sonst. Zuweilen ergriff sie deren Hände und sah das junge Mädchen in einer Weise an, als ob sie in seinem Innern lesen wolle, zuweilen auch, wenn Marynia und Polaniecki bei ihr waren, ließ sie ihre Blicke abwechselnd von der einen zu dem andern schweifen und schloß dann die Augen. Beide kamen jetzt täglich, manchmal sogar mehrere Male im Tage, um bei der Pflege Litkas Frau Emilie zu unterstützen, die seit Wochen die Nächte schlaflos verbrachte, da sie um nichts in der Welt jemand anders bei ihrem Kinde wachen ließ und die während des Tages nur dann schlief, wenn Litka darauf bestand. Trotzdem aber die arme Mutter sehen mußte, daß der Zustand der kleinen Kranken kein günstiger war, und ihr Herz vor Angst beinahe brach, schien sie sich doch keine Rechenschaft über die Gefahr abzulegen, in der ihr Kind schwebte, und ließ sich stets wieder von dem Arzte beruhigen, der von Polaniecki darum gebeten worden war, aber auch momentan selbst nicht an eine schlimme Wendung der Krankheit glaubte. Litka gegenüber zeigte Frau Emilie, ebenso wie Polaniecki und Marynia, ein stets heiteres, lächelndes Gesicht, aber die Kleine hatte nach und nach gelernt, auf alles so genau zu achten, daß die Unruhe der Mutter ihr nicht entging.

Als daher eines Vormittags Polaniecki allein bei ihr war, damit beschäftigt, einen großen Ballon aus Taffet, den er ihr mitgebracht hatte, aufzublasen, begann das Kind plötzlich:

»Herr Stach, ich sehe immer wieder, wie sich das Mütterchen darüber grämt, daß ich krank bin.«

Polaniecki hielt sofort in seiner Beschäftigung inne und erklärte:

»Was dem Kinde nicht alles einfällt! Was sich in diesem Köpfchen nicht alles abspielt! Uebrigens ist es doch sehr natürlich, daß Deine Mama Dich gesund haben möchte.«

»Warum sind aber auch alle andern Kinder gesund, und nur ich allein bin fortwährend krank?«

»Sind die kleinen Bigiels nicht krank gewesen, hat nicht eins nach dem andern den Keuchhusten gehabt? Das ganze Haus glich ja mehrere Monate hindurch einem Lazarett. Und hatte Jozio nicht die Masern? Alle Kinder oder wenigstens die meisten Kinder sind fortwährend krank, und das ist alles, was man von ihnen hat.«

»Das sagen Sie nur so, Herr Stach! Manche Kinder sind wohl krank, aber sie werden auch wieder gesund.« Hier schüttelte sie das Köpfchen. »Nein,« fuhr sie dann leise fort, »das ist etwas ganz anderes. Ich muß ja jetzt fast ununterbrochen liegen, weil ich sonst Herzklopfen bekomme. Und als vorgestern auf der Straße gesungen wurde und Mama nicht am Fenster war, schaute ich ein wenig hinaus und sah ein Leichenbegängnis – und mir kam der Gedanke, daß ich gewiß auch sterben müsse.«

»Litka, was schwatzest Du für närrisches Zeug!« rief Polaniecki, der rasch den Ballon wieder aufzublasen begann, um seine Bewegung zu verbergen und zugleich der Kleinen zu zeigen, wie wenig Bedeutung er ihren Worten beilege.

Aber das Kind spann seine Gedanken weiter: »Ich habe zuweilen solche Beklemmungen und solches Herzklopfen . . . Mama will, daß ich dann immer das Gebet spreche: ›Unter deinen Schutz und Schirm‹, und ich sage es auch, weil ich mich so furchtbar fürchte, zu sterben. Ich weiß, daß es im Himmel schön ist, aber ich wäre doch nicht mehr bei meinem Mütterchen, sondern ganz allein auf dem Kirchhof . . . Ja, und des Nachts . . .«

Polaniecki legte plötzlich den Ballon weg, setzte sich zu Litka auf das Ruhebett und ihre Hände ergreifend sagte er: »Litka, wenn Du Mama liebst, wenn Du mich liebst, denke nicht an solche Dinge. Du regst Dich nur dabei auf, und es würde Deine Mama sehr schmerzen, wenn sie wüßte, mit welch dummen Gedanken Du Dein Köpfchen anfüllst.«

Litka faltete bittend die Hände: »Lieber Herr Stach,« bat sie, »nur noch eines will ich fragen, nur noch eines – sonst nichts mehr.«

Er strich ihr zärtlich über das blonde Köpfchen. »Nun, so frage, Mäuschen. Wenn es nur etwas Vernünftiges ist.«

»Würden Sie mich sehr betrauern, Herr Stach?«

»Siehst Du, wie schlimm Du bist!«

»Lieber, lieber Herr Stach, antworten Sie mir!«

»Welch gottloses Kindchen Du bist! Ich soll Dir antworten? Du weißt doch, wie ich Dich liebe, wie innig ich Dich liebe! Gott schütze Dich! Niemand auf der Welt würde Dich so betrauern wie ich! Nun schweigst Du aber endlich einmal stille, Du kleiner Plagegeist.«

»Ja, nun werde ich ganz still sein, lieber Herr Stach,« erklärte Litka, indem sie ihre glänzenden Augen voll Dankbarkeit auf ihren Freund richtete.

Erst in dem Momente, da Frau Emilie kam und er sich zum Weggehen anschickte, fragte die Kleine ängstlich: »Sind Sie mir aber auch nicht böse, Herr Stach?«

»Nein, Litka,« antwortete Polaniecki.

Als er ins Vorzimmer trat, hörte er leise an die Thüre klopfen, da Frau Emilie die Klingel hatte abnehmen lassen. Er öffnete und sah Marynia vor sich stehen. Nachdem sie sich gegenseitig begrüßt hatten, fragte das junge Mädchen: »Wie geht es Litka heute?«

»Wie gewöhnlich.«

»Ist der Doktor hier gewesen?«

»Ja. Er konnte nichts Neues finden. Gestatten Sie, daß ich Ihnen helfe!«

So sprechend, wollte er ihr den Mantel abnehmen; als sie aber seine Hilfe ablehnte, da, das Herz noch ganz erfüllt von dem Gespräche mit Litka, war's mit seiner Selbstbeherrschung zu Ende.

»Ich wollte nur das einfache Gebot der Höflichkeit erfüllen,« erklärte er in bitterm Tone. »Ich bin gegen jede Dame artig und würde jeder andern Dame auf die gleiche Weise den Mantel abgenommen haben. Sie dürfen mir glauben, ich denke jetzt an nichts weiter als an Litka.«

Er hatte sich in einen solchen Ingrimm hineingeredet, daß die überraschte Marynia ganz erschreckt vor ihm stand, ihm demütig erlaubte, ihr den Mantel abzunehmen, und sich, zu ihrem großen Erstaunen, nicht einmal über seine Worte verletzt fühlte, sondern sich eingestehen mußte, daß nur ein aufrichtiger, guter und empfindungsvoller Mensch so sprechen könne.

Gerade sein energisches Vorgehen übte auf ihre sanfte weibliche Natur eine große Wirkung aus, und seit ihrem Zusammensein in Krzemien hatte Polaniecki keinen solchen Eindruck mehr auf sie hervorgebracht, nie zuvor sie so mächtig an die Zeit erinnert, da sie miteinander in dem Garten von Krzemien umhergewandelt waren. Daß durch diesen Vorgang ihr wechselseitiges Verhältnis dauernd günstig beeinflußt werde, ließ sich zwar nicht annehmen, aber jetzt erhob sie die verwunderten Augen zu ihm und sagte: »Ich bitte Sie um Verzeihung.«

Polaniecki hatte sich unterdessen wieder etwas gefaßt und schämte sich seines Benehmens.

»Ich muß um Verzeihung bitten,« erwiderte er daher, »Litka sprach heute mit mir von ihrem Tode, und das hat mich dermaßen aufgeregt, daß ich mir keinen Rat weiß. Sie werden das begreiflich finden und mir vergeben.«

Mit diesen Worten drückte er ihr die Hand und ging.


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