Henryk Sienkiewicz
Die Familie Polaniecki
Henryk Sienkiewicz

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Sechsundzwanzigstes Kapitel

Frau Kraslawski empfing Polaniecki zwar etwas verwundert über den frühen Besuch, erriet aber sofort, daß etwas Außergewöhnliches ihn herführte. Und ohne lange Umschweife berichtete er ihr, was vorgegangen war, dabei nur soviel beschönigend, als er für notwendig hielt, um Maszko in ihren Augen rein zu waschen.

Es entging ihm nicht, daß die alte Dame während seines Berichtes unausgesetzt ihre starren, glanzlosen Augen auf ihn gerichtet hielt. Als er geendigt hatte, sagte sie:

»In all dem ist mir etwas nicht klar, nämlich weshalb Herr Maszko den Eichenwald verkauft hat, der doch jedem Gute zur Zierde gereichen würde!«

»Der Wald ist zu weit entfernt von der Wohnung,« entgegnete Polaniecki, »und zudem nur ein Schaden für das Gut, denn unter seinem Schatten kann nichts gedeihen, und Maszko ist ein praktischer Mensch. Uebrigens that er es, offen gestanden, aus Freundschaft für mich. Wie Sie wissen, bin ich Kaufmann, ich brauchte Eichenholz, und Maszko gab mir davon ab, so viel er konnte.«

»Dann begreife ich aber nicht, weshalb jener junge Mann . . .«

»Wenn Sie den Rat Jamisz kennen,« unterbrach sie Polaniecki, »so kann dieser als nächster Nachbar von Jalbrzykow Sie darüber aufklären, daß der junge Mann als ein thörichter Mensch in der ganzen Gegend bekannt ist.«

»In dem Falle wäre ja Herr Maszko gar nicht verpflichtet gewesen, sich mit ihm zu schlagen.«

»Gnädige Frau,« bemerkte Polaniecki mit einem Anflug von Ungeduld, »in solchen Dingen haben wir andre Ansichten als Sie.«

»Gestatten Sie, daß ich ein paar Worte mit meiner Tochter spreche.«

Polaniecki hätte sich zwar am liebsten verabschiedet, da er aber Maszko irgend eine bestimmte Nachricht bringen wollte, sagte er: »Vielleicht haben Sie einen Auftrag für Herrn Maszko, ich gehe von hier aus zu ihm.«

»Gedulden Sie sich noch einen Augenblick,« entgegnete Frau Kraslawski.

Polaniecki blieb allein und wartete ziemlich lange, so lange, daß er anfing ungeduldig zu werden. Endlich erschienen beide Damen.

Das junge Mädchen in einer weißen Blouse mit Matrosenkragen war etwas nachlässig frisiert, kam aber Polaniecki, trotz einer leichten Röte um die Augen, recht hübsch vor. In ihrem ganzen Wesen lag eine gewisse Trägheit, eine gewisse anziehende Lässigkeit. Auf ihrem Gesicht war keinerlei Erregung zu bemerken.

Nachdem sie Polaniecki begrüßt hatte, sagte sie in kaltem, ruhigem Tone: »Haben Sie die Güte, Herrn Maszko mitzuteilen, daß die Kunde von dem Zweikampfe mich sehr erschreckt und betrübt habe. Ist die Wunde in der That leicht?«

»Zweifellos.«

»Ich habe Mama gebeten, zu Herrn Maszko zu fahren. Ich will sie begleiten und im Wagen auf Nachricht warten. Und so soll es täglich gehalten werden, bis er wieder völlig gesund ist. Sagen Sie dies Herrn Maszko.«

Hier überzog eine leise, kaum bemerkbare Röte ihr Antlitz, Polaniecki, dem ihre Worte völlig unerwartet kamen, blickte sie voll Verwunderung an. Sie erschien ihm jetzt beinahe schön, und als er sich gleich darauf entfernte, um zu Maszko zu gehen, dachte er: »Diese beiden sind doch besser, als sie scheinen. Ja, das junge Mädchen hat sogar ein Herz. Maszko hat dies bis jetzt nicht erkannt und wird angenehm überrascht sein. Wenn Frau Kraslawski ihn besucht, wird sie all seine Bischöfe und hohen Würdenträger sehen und wird schließlich an Maszkos hohe Abkunft glauben.«

Mit diesen Gedanken beschäftigt, war er in Maszkos Wohnung angelangt, mußte aber einen Augenblick warten, da gerade ein neuer Verband angelegt wurde. Kaum hatte sich indessen der Arzt entfernt, als Maszko ihn zu sich bitten ließ und ohne weitere Begrüßung fragte: »Nun, bist Du dort gewesen?«

»Wie geht es Dir, wie hast Du geschlafen?«

»Gut. Aber was liegt daran? Bist Du dort gewesen?«

»Ja, in einer Viertelstunde wird Frau Kraslawski kommen, um Dich zu besuchen. Das Fräulein will unten im Wagen auf Nachricht über Dein Befinden warten. Auch läßt sie Dir sagen, die Kunde von Deiner Verwundung habe sie sehr erschreckt, sie fühle sich sehr unglücklich darüber. Siehst Du Maszko . . . Sie hat mich sehr für sich eingenommen. Doch jetzt muß ich gehen, ich habe nicht viel Zeit.«

»Warte noch einen Augenblick. Ich habe kein Fieber, und wenn Du dies nur sagst, weil Du um mich besorgt bist . . .«

»Wie langweilig Du bist,« unterbrach ihn Polaniecki. »Ich gebe Dir mein Wort, daß ich die Wahrheit gesprochen habe und daß Dein Mißtrauen gegen Deine Braut nicht berechtigt gewesen ist.«

Maszko legte sich in die Kissen zurück und schwieg einige Zeit, dann sagte er, gleichsam zu sich selbst: »Ich könnte sie wirklich lieb gewinnen.«

»Sie verdient es,« versetzte Polaniecki, »doch leb' wohl. Ich muß mich von Waskowski verabschieden.«

Er ging in einen Blumenladen, kaufte ein Bouquet und befahl, es zu Fräulein Plawicki zu bringen. Der Gedanke, mit welcher Freude Marynia die Blumen aufnehmen und mit welch klopfendem Herzen sie den Abend erwarten werde, bereitete ihm soviel Vergnügen, daß er, nach einem unterwegs eingenommenen Mittagsmahle, in bester Laune bei Waskowski anlangte.

»Ich komme, Ihnen lebewohl zu sagen,« begann er, »wann reisen Sie?«

»Ich mußte ein paar Tage zugeben, mein Lieber,« erwiderte Waskowski, »denn wie Du weißt, sorge ich während des Winters für einige arme Kleinen.«

»Für kleine Arier, welche einem das Portemonnaie aus der Tasche stehlen.«

»O nein, es sind gute Seelen, aber ohne Aufsicht kann ich sie nicht lassen. Ich mußte mich nach einem Stellvertreter umsehen, der hier in meiner Wohnung wohnen soll.«

»Und der hier auch braten soll. Wie können Sie es in einer solchen Hitze aushalten?«

»Ich habe ja keinen Rock an, und Du gestattest wohl, daß ich so bleibe. Ein wenig heiß ist's freilich, aber die geflügelten Kleinen brauchen Wärme.«

Polaniecki schaute umher. Im Zimmer befanden sich wenigstens ein halbes Dutzend Goldammern, Haubenlerchen, Meisen und Zeisige, ohne die Sperlinge, die augenscheinlich an ständige Fütterung gewöhnt, am Fenster saßen. Der Professor hielt nur die Vögel im Zimmer, die er den Vogelhändlern abgekauft hatte, die Sperlinge hingegen ließ er nicht herein, denn er behauptete, daß es eine Kränkung wäre, die einen aufzunehmen und die andern fortzuscheuchen. Die im Zimmer befindlichen Vögel hatten Käfige, welche an den Wänden und in den Fensternischen aufgehängt waren, aber sie befanden sich nur des Nachts darin, während des Tages flogen sie mit lautem Gezwitscher umher, ihre Spuren auf den Büchern und Manuskripten zurücklassend, welche auf dem Tische und in allen Winkeln lagen.

Obwohl Polaniecki diese Behausung genau kannte, zuckte er dennoch die Achseln und sagte: »Das ist alles sehr schön und gut, aber daß Sie den Vögeln gestatten, hier herumzufliegen, ist bei Gott allzuviel.«

»Das ist die Schuld des heiligen Franz von Assisi,« entgegnete Waskowski, »denn durch ihn lernte ich diese Kleinen lieben. Ich habe auch ein paar Tauben, aber das sind Ofenhocker.«

»Sie werden wohl Bukacki treffen,« sagte Polaniecki. »Ich hatte einen Brief von ihm. Hier ist er.«

»Kann ich ihn lesen?«

»Deshalb brachte ich ihn mit.«

Waskowski las und, als er geendet hatte, sagte er: »Ich habe ihn von jeher gerne gehabt, diesen Bukacki. Er ist eine gute Seele, aber weißt Du, es fehlt ihm hier.«

Und Waskowski schlug sich mit der Hand an die Stirne.

»Das ist in der That köstlich,« rief Polaniecki. »Stellen Sie sich vor, Herr Professor, seit einigen Tagen höre ich es nun beständig mit an, wie immer einer vom andern sagt: ihm fehlt hier etwas –!«

»Ein wenig trifft es auch zu!« erwiderte Waskowski lächelnd. »Und weißt Du, was das heißen will? Nun, es rührt von der Geistesverwirrung her, die bei uns, den Slaven, häufiger vorkommt als im Westen, weil wir die Jüngsten unter den Ariern sind, und Verstand und Herz bei uns noch nicht das richtige Gleichgewicht erlangt haben. Wir, die Jüngsten von den Ariern, fühlen am lebhaftesten, nehmen uns alles am meisten zu Herzen, und geben uns mit wahrem Feuereifer dem hin, was das Leben uns bietet. Was für wunderliche Naturen sind wir doch! Die deutschen Studenten z. B. kneipen sehr viel, aber dies hindert sie weder zu arbeiten, noch praktische Menschen zu werden, sobald jedoch der Slave diese Mode annähme und zu kneipen begänne, würde er zugrunde gehen. Und so ist's in allem. Wenn der Deutsche auch ein Pessimist ist, wenn er auch ganze Bände darüber schreibt, daß das Leben uns nur Verzweiflung bringe – er wird doch nach wie vor sein Bier trinken, Kinder aufziehen, Geld ansammeln, seinen Garten bebauen und ruhig auf seinen Kissen schlafen. Der Slave hingegen hängt sich entweder auf, oder er stürzt sich in ein tolles, zügelloses Leben und erstickt schließlich im Kot. Mein Lieber, ich habe Leute gekannt, die aus allzu großem Interesse für die Bauern damit endigten, daß sie sich dem Branntweingenuß hingaben. Uns allen fehlt das Maß, denn jede neue Idee wird nur zu rasch erfaßt. Dazu gesellt sich noch die Eitelkeit. Wollen wir nicht immer gesehen und bewundert werden? Dieser Bukacki z. B. steckt bis über die Ohren in Skepticismus, Pessimismus, Buddhismus, Dekadentismus – was weiß ich, in was noch, und glaubst Du vielleicht, daß er sich glücklich fühlt? Was für wunderliche Naturen sind doch die Slaven! Sie nehmen sich alles so sehr zu Herzen und sind doch Komödianten. Im Grunde liebt man sie, möchte aber gleichzeitig über sie lachen und weinen!«

Polaniecki erinnerte sich an ein Gespräch über den Pessimismus, das er vor Jahren mit einigen jungen Belgiern gehabt, und wobei er sich überzeugt hatte, daß die aufgestellten Theorien ihm die Lebensfreude störten, jenen aber nicht. Deshalb entgegnete er jetzt: »Was sie sagen, ist ganz richtig. Aehnliches habe ich auch erfahren, und darum wird uns alle der Kuckuck holen.«

Waskowski drückte seine Stirn an die gefrorenen Scheiben und sagte: »Nein, wir sind zu anderem bestimmt. Der Eifer und die Leichtigkeit, womit es sich eine neue Idee zu eigen macht, befähigen gerade unser Volk zu der Mission, welche Christus der slavischen Welt zuerteilt hat.« Hier zeigte Waskowski ein durch die Vögel beflecktes Manuskript und sagte geheimnisvoll: »Siehst Du, das nehme ich mit auf die Reise. Es enthält die Arbeit meines ganzen Lebens . . . Wünschest Du, daß ich Dir daraus vorlese?«

»Bei Gott, ich habe keine Zeit. Es ist schon spät.«

»Wahrhaftig! Es dunkelt bereits. Deshalb will ich Dir nur noch einige Worte sagen: ich hege die feste Ueberzeugung, daß die Slaven noch eine große Mission zu erfüllen haben.«

Hier hielt Waskowski inne, rieb sich mit der Hand die Stirne und sagte: »Wie wunderlich ist doch die Zahl drei . . . Wie viel Geheimnisvolles ist doch darin enthalten.«

»Sie wollten von der Mission der Slaven sprechen,« sagte Polaniecki ungeduldig.

»Wohl, dies steht in innigem Zusammenhang damit. Wie Du weißt, giebt es drei Welten in Europa: die romanische, germanische und slavische. Die beiden ersten haben ihre Mission schon erfüllt. Die Zukunft gehört der dritten.«

»Und was hat diese dritte zu thun?«

»Die gesellschaftlichen Verhältnisse, Recht und Gesetz, das Leben des Einzelnen ist auf die christliche Lehre gegründet. Es giebt Leute, die glauben, das Christentum gehe seinem Ende entgegen. Aber nein, das ist keineswegs der Fall. Die erste Periode ist zu Ende, die zweite beginnt nun. Christus lebt wohl unter den einzelnen Menschen, aber er wird nicht als historische Person betrachtet – verstehst Du? – Ihn in die Geschichte einzuführen, das ist die Mission, welche die Slaven zu erfüllen haben, nur sind sie sich noch nicht klar darüber, und man muß ihnen erst die Augen öffnen.«

Polaniecki schwieg, denn er wußte nichts zu sagen. Waskowski aber fuhr fort: »Das ist's, worüber ich während meines ganzen Lebens nachdachte, und das habe ich in diesem Werke ausgesprochen. (Hier zeigte er auf das Manuskript.) Diese Mission ist darin dargethan.«

»Und indessen läßt die Goldammer ihre Spuren darauf zurück,« dachte Polaniecki. Laut aber sagte er: »Und Sie hoffen durch die Herausgabe eines solchen Werkes . . .«

»Nein, große Hoffnungen setze ich nicht darauf, denn ich bin ein zu unbedeutender, zu schwacher Mensch. Was ich thue, bewirkt nicht mehr als ein ins Wasser geworfener Stein, aber es werden Ringe, es werden Kreise daraus. Mag dann ein Auserwählter kommen . . . Was bestimmt ist, das wird sich erfüllen . . . Seiner Mission kann man sich nicht entziehen . . . Weißt Du, die menschliche Natur muß ihrer Bestimmung gemäß handeln und kann nicht gewaltsam verändert werden. Was gut für den einen ist, kann schlimm für den andern sein. Vergeblich redest Du Dir auch ein, daß Du nur Geld erwerben willst, Du mußt thun, was Dir die innere Stimme eingiebt.«

»Das thue ich auch, denn ich verheirate mich jetzt . . . das heißt, ich verheirate mich, wenn ich nicht abgewiesen werde.«

Waskowski umarmte ihn. »Möge Gott Deinen Wunsch erhören und Dich segnen! Es war der Wunsch des Kindes. Das weiß ich. Erinnerst Du Dich meines Ausspruches, daß auch es eine Mission zu erfüllen habe, und daß es vorher nicht sterben werde? Möge Gott Marynia erleuchten und Euch beide glücklich machen. Sie hat ein Herz wie Gold!«

»Und ich wünsche Ihnen glückliche Reise und eine erfolgreiche Mission!«

»Dir wünsche ich, was Du Dir selbst wünschest.«

»Was ich mir selbst wünsche?« rief Polaniecki fröhlich aus. »Nun so ein halbes Dutzend kleiner Missionäre.«

»Du bist immer ein Schalk gewesen,« entgegnete Waskowski. »Nun aber eile, spute Dich. Ich komme noch zu Euch!«

Polaniecki entfernte sich rasch und stieg in eine Droschke, um zu den Plawickis zu fahren. Unterwegs stellte er sich immer wieder vor, was Marynia sagen, wie sie sich ausdrücken werde.

Marynia hatte ihn augenscheinlich erst später erwartet, denn die Zimmer waren noch nicht erleuchtet, obgleich der letzte Schein der Sonne draußen erloschen war.

»Haben Sie die Blumen und den Brief erhalten?«

»Ja!«

»Und können Sie erraten, weshalb ich sie sandte?«

Marynias Herz klopfte so heftig, daß sie unfähig war, eine Antwort zu geben.

Polaniecki fragte weiter, in abgerissenen Worten: »Wollen Sie sich dem Willen Litkas fügen? Wollen Sie die Meine werden?«

»Ja,« erwiderte Marynia leise.

Von der Empfindung erfüllt, daß er ihr danken müsse, rang er vergeblich nach Worten. Er drückte nur immer stärker ihre Hände und beide festhaltend zog er das junge Mädchen allmählich näher zu sich heran, umschlang sie leidenschaftlich, und seine Lippen suchten die ihren. Aber sie wandte den Kopf ab, so daß er nur die Haare über ihren Schläfen berühren konnte. Während eines kurzen Augenblickes waren nur ihre beschleunigten Atemzüge zu hören, dann entzog sich Marynia seiner Umarmung.

Wenige Minuten später brachte der Diener die Lampe. Jetzt erschrack Polaniecki über seine Kühnheit und blickte Marynia ängstlich an. In der Meinung, sie zürne ihm, war er bereit, sie um Verzeihung zu bitten, aber mit Verwunderung bemerkte er, daß sich keine Spur von Zorn in ihrem Gesichte ausdrückte. Ihre niedergeschlagenen Augen, die glühenden Wangen ließen erkennen, daß sie nur die süße Bangigkeit des liebenden Weibes empfand, das etwas opfern muß, aber aus freiem Willen nachgiebt, weil es liebt und sich dazu verpflichtet fühlt.

Ein lebhaftes Gefühl der Dankbarkeit ergriff Polaniecki, als er sie so vor sich sah. Voll Ehrfurcht führte er ihre Hand wieder an die Lippen und sagte: »Ich weiß, ich bin Ihrer nicht würdig – Worte darüber zu verschwenden ist nutzlos. Aber Gott ist mein Zeuge, daß ich alles für Sie thun möchte, was in meiner Macht steht.«

Mit feuchten Augen blickte Marynia ihn an. »Wenn Sie nur glücklich sind!« erwiderte sie.

»Mit Ihnen werde ich glücklich werden. In Krzemien schon, vom ersten Augenblicke an erkannte ich dies. Aber dann – Sie wissen ja, wie alles kam. Ich glaubte, Sie wollten sich mit Maszko verheiraten, und dies schmerzte mich tief.«

»Auch ich habe Unrecht gethan und bitte um Verzeihung . . . mein lieber Herr Stach . . .«

»Erst heute sagte der Professor: Marynia hat ein Herz wie Gold,« rief Polaniecki feurig aus. »Und es ist wahr, ein Kleinod, ein Schatz bist Du – Geliebte.«

Sie schaute ihn gerührt an.

»Jetzt habe ich wenigstens einen Lebenszweck,« setzte er hinzu. »Wissen Sie, daß ich heute schon einmal hier gewesen bin?«

»Ich bin so besorgt wegen des Duells gewesen – und so unglücklich. Ist nun in der That alles beigelegt?«

»Ich gebe Ihnen mein Wort darauf.«

Hier wurden sie von Plawicki in ihrer Unterhaltung gestört.

»Ei, Ihr seid ganz allein?« rief er aus.

Marynia ging ihm entgegen, legte beide Hände auf seine Schultern, und ihm die Stirn zum Kusse darbietend, versetzte sie: »Ja, wir haben uns verlobt, Papa.«

Herr Plawicki fuhr ein wenig zurück und fragte: »Was sagst Du?«

»Ich sage,« erwiderte sie, ihm ruhig in die Augen schauend, »daß Herr Stanislaus mich zur Frau haben will, und daß ich sehr, sehr glücklich bin.«

Polaniecki umarmte Herrn Plawicki und bemerkte: »Ja, wenn Sie es gestatten, Oheim.«

»Meine Kinder!« rief jetzt Plawicki und mit wankenden Schritten auf das Sopha zugehend, ließ er sich schwer darauf nieder. »Erlaubt!« erklärte er, »die Rührung . . . Aber es ist nichts; achtet nicht auf mich – meine Kinder . . . Wenn es Euer Wunsch ist – segne ich Euch von ganzem Herzen.«

Er segnete sie und ward nun vollständig von Rührung übermannt, denn Marynia liebte er wirklich. Seine Stimme versagte ihm jeden Augenblick, und die beiden jungen Leute hörten nur abgerissene Worte und Sentenzen wie: »Irgend einen Winkel bei Euch, – für den armen Alten, der sein ganzes Leben hindurch gearbeitet und sich abgemüht hat . . . um des einzigen Kindes willen.«

Sie verstanden es aber, ihn auf eine Art zu beruhigen, daß er binnen einer halben Stunde Polaniecki auf die Schultern klopfte und sagte: »Du Straßenräuber! Du dachtest an Marynia, und ich glaubte, Du . . .« Das Uebrige flüsterte er Polaniecki ins Ohr. Dieser errötete vor Aerger und sagte:

»Ihnen kann ich dies zulassen, wenn aber ein andrer wagte, mir eine solche Bemerkung zu machen . . .«

»Nun, nun!« beruhigte ihn Plawicki lächelnd: »ohne Feuer giebt's keinen Rauch.«

An demselben Abend fragte Marynia, als Polaniecki sich von ihr verabschiedete: »Wollen Sie mir eine Bitte gewähren?«

»Was Sie wünschen.«

»Einst gelobte ich mir, wenn je ein solcher Tag komme, wie der heutige, mit Ihnen zusammen Litkas Grab zu besuchen.«

»Mein geliebtes Mädchen!« sagte Polaniecki.

»Ich glaube, Litka schaut auf uns hernieder und betet für uns.«

»Ja, sie ist unsre kleine Schutzheilige.«

»Gute Nacht!«

»Gute Nacht. Auf Wiedersehen morgen,« sagte er, ihre Hände küssend, »und übermorgen, und so weiter, bis« . . . Etwas leiser fügte er hinzu: »bis zu unsrer Vermählung.«

Polaniecki entfernte sich.

Verworrene Gedanken beschäftigten ihn, eigentümliche Empfindungen durchzogen seine Seele, wobei der eine Eindruck vorherrschte, daß sich etwas Ungewöhnliches ereignet hatte, daß sein Schicksal nun entschieden, die Zeit der Ueberlegung, des Schwankens vorüber war, und daß er ein neues Leben beginnen mußte.

In dieser Nacht schlief er wenig, stand aber am andern Morgen doch munter und erfrischt auf, und nachdem er Toilette gemacht, eilte er in sein Comptoir, um Bigiel zuerst die Neuigkeit mitzuteilen.

Der Freund umarmte ihn, erörterte die Angelegenheit mit seiner gewöhnlichen Gemütsruhe und sagte schließlich: »Das ist das Klügste, was Du in Deinem ganzen Leben gethan hast.« Und auf den mit Papieren bedeckten Schreibtisch zeigend, fügte er hinzu: »Hier sind einige Verträge über Geschäftsabschlüsse. Sie scheinen mir vorteilhaft zu sein, aber das Geschäft, das Du jetzt gemacht hast, ist noch besser.«

»Nicht wahr?« rief Polaniecki freudig erregt.

»Ich eile, es meiner Frau mitzuteilen,« erklärte Bigiel. »Das kann ich mir nicht versagen. Und gehe Du nur auch. Bis zu Deinem Hochzeitstage und während des Honigmonats werde ich Dich vertreten.«

»Gut,« versetzte Polaniecki, »ich will es nun Maszko ankündigen, und dann besuche ich mit Marynia Litkas Grab.«

»Das seid Ihr dem armen Kinde schuldig.«

Unterwegs kaufte Polaniecki abermals Blumen, schickte sie mit der Nachricht ab, daß er sogleich nachfolgen werde, und begab sich dann zu Maszko.

Unter der Obhut Frau Kraslawskis hatte sich dieser ziemlich erholt, und er erwartete jetzt wieder ihre Ankunft.

Als er die Neuigkeit vernommen, drückte er Polaniecki mit einer gewissen Rührung die Hand und erklärte: »Ich sage Dir nur das eine: ob sie mit Dir glücklich sein wird, weiß ich nicht, aber daß Du mit ihr glücklich wirst, ist gewiß.«

»Die Frauen sind besser als wir,« bemerkte Polaniecki. »Nach Deinen letzten Erlebnissen bist Du wohl auch dieser Ansicht.«

»Ich gestehe Dir, ich habe mich bis jetzt noch nicht von meiner Verwunderung erholt. Meine Braut und meine Schwiegermutter sind sehr gut, aber ein gewisses, geheimnisvolles Etwas, das sie umgiebt . . .«

Hier stockte Maszko, wie wenn er schwanke, ob er weiter reden solle.

»Nun?« fragte Polaniecki.

»Du bist verschwiegen und hast mir zudem schon solche Freundschaftsbeweise gegeben, daß ich kein Geheimnis mehr vor Dir haben kann. Denke Dir, nachdem Du Dich gestern entfernt hattest, erhielt ich einen anonymen Brief – wie Du weißt, herrscht ja hier der edle Brauch, anonyme Briefe zu schreiben – mit der Nachricht, daß Papa Kraslawski noch lebe.«

»Das kann ja ebensogut nur eine Klatscherei sein.«

»Vielleicht, vielleicht auch nicht. Möglicherweise lebt er in Amerika. Ich empfing den Brief während Frau Kraslawskis Anwesenheit, doch sagte ich ihr nichts davon; erst nach einiger Zeit, als sie mich bei der Besichtigung der Porträts über meine verwandtschaftlichen Beziehungen auszuforschen begann, fragte ich sie, wie lange sie schon Witwe sei? Darauf erwiderte sie nur: ›Ich stehe mit meiner Tochter seit neun Jahren allein in der Welt, aber dies ist eine traurige Geschichte, von welcher ich heute nicht sprechen will.‹ Du begreifst, daß ich nicht weiter fragen konnte.«

»Ja, und was nun?«

»Ich glaube, wenn der Vater wirklich noch am Leben ist, muß er eines jener Individuen sein, von denen man nicht gerne spricht.«

»Dann wäre das Geheimnis schon längst herausgekommen.«

»Die Damen lebten einige Jahre im Auslande. Uebrigens ändert dies meine Absicht in keiner Weise. Falls Herr Kraslawski in Amerika lebt und nicht hierherkommt, verhält es sich gerade so, wie wenn er nicht existierte. Jetzt hege ich die Hoffnung, daß meine Heirat zustande kommt, denn Leute, die etwas zu verbergen haben, sind weniger anspruchsvoll.«

»Verzeihe meine Indiskretion,« sagte Polaniecki seinen Hut nehmend, »aber es handelt sich um mein Kapital und um das Geld der Plawickis, weißt Du denn gewiß, daß Frau Kraslawski Geld hat?«

»Es scheint, daß sie ein beträchtliches Vermögen besitzt, denn sie sagte mir einigemale, ihre Tochter habe nicht nötig, bei einem Manne auf Reichtum zu sehen. Auch steht ein eiserner Kassenschrank in ihrer Wohnung, und sie führen ein großes Haus. Ich kenne in Warschau fast alle Juden und Nichtjuden, welche Geld ausleihen, und weiß gewiß, daß sie niemand einen Groschen schuldig sind. Bekannt ist Dir ja, daß sie eine hübsche Villa nicht weit von der Bigiels besitzen. Vom Kapital leben sie sicherlich nicht, denn dafür sind sie zu klug.«

»Bestimmte Zahlen kannst Du aber nicht angeben?«

»Ich machte einmal einen schwachen Versuch etwas zu erfahren, und da erfuhr ich, daß sie zweimalhunderttausend Rubel, wenn nicht mehr, besitzen.«

Polaniecki verabschiedete sich, und eine halbe Stunde später fuhr er mit Marynia auf den Kirchhof. Es war ein trüber, grauer Tag, aber so warm wie im Frühling. Auf dem Friedhofe floß der geschmolzene Schnee von den Gräbern herab, so daß der gelbe, halbverfaulte Rasen sichtbar war. An den Kreuzen und den blätterlosen Aesten der Bäume hingen schwere Tropfen, die Polaniecki und Marynia zuweilen von einem Windstoße ins Gesicht getrieben wurden. Der Sturm zerrte an ihren Kleidern, und gegen ihn ankämpfend kamen sie nur langsam vorwärts.

Endlich standen sie an Litkas Grab. Auch hier war alles modrig, düster, nur halb bedeckt von dem geschmolzenen Schnee.

Der Gedanke, daß das teure Kind, das ehemals so sorgfältig behütet und bewacht worden, jetzt in der feuchten Erde verscharrt lag, dünkte Polaniecki unerträglich. So oft er Litkas Grab besucht hatte, war er in einem heftigen seelischen Zwiespalt vom Kirchhof zurückgekehrt. Auch jetzt, in diesem Augenblick konnte er sich, trotz der Gegenwart Marynias, der qualvollen Gedanken nicht erwehren; es erschien ihm geradezu furchtbar, sich mit dem Bewußtsein zufrieden geben zu müssen, daß das Kind unter ihm in der Erde lag und der Verwesung entgegenging.

Wieder erschien ihm das ganze Leben, die Liebe und alles Streben völlig eitel und nutzlos. »Wenn es keine Barmherzigkeit im Leben giebt – wozu es sich dann noch erschweren, wozu lieben, wozu sich verheiraten? Daß man Kinder bekommt, sich mit jedem Blutstropfen an sie kettet, um dann ratlos zuzusehen, wie sie von einer blinden, thörichten, grimmigen Macht gewürgt werden, wie das Lamm vom Wolfe, und an ihrem Grabe mit dem Gedanken zu stehen, daß sie in der feuchten Erde modern.«

Bei seinen frühern Besuchen war der Kirchhof Polaniecki wie das Nirwana erschienen, worin alles Leben, aber auch alles Unglück in ewigen, lindernden Schlummer versinkt. Heute war kein Frieden hier zu finden.

Marynia hatte ihr Gebet beendigt und sagte leise: »Jetzt muß ihre Seele bei uns sein.« Dann begann sie, das Grab mit den Kränzen aus Immergrün zu schmücken, die sie vor dem Kirchhofsthore gekauft hatten.

Polaniecki fühlte in der That, daß Litka bei ihnen war. Sie selbst löste sich in Staub auf, aber etwas von ihr lebte weiter, ein Teil ihrer Gedanken, ihres Willens, ihrer Gefühle. Daß er Marynia jetzt näher getreten war, sich mit ihr verlobt hatte, daß sie vereint durchs Leben gehen wollten, daß sie vielleicht Kinder bekamen, welche auch liebten und Nachkommenschaft hatten, was war dies anderes, als ein Teil der Toten, die, in die Unendlichkeit übergehend, sich wieder erzeugte in der unsterblichen Reihe der Erscheinungen? Wie kam es, daß aus sterblichen Wesen eine unsterbliche und unendliche Energie hervorging? Marynia mit ihrem schlichten Glauben hatte die Antwort darauf gefunden – Polaniecki aber nicht.

Und Marynia hatte recht. Litka befand sich bei ihnen. Polaniecki fuhr es jetzt durch den Sinn, wie unfaßbar die Annahme ist, daß vielleicht alle Gedanken des Menschen, sein Willen und all seine Liebe eine hundertmal weniger greifbare, hundertmal feinere Materie als der Aether ist, eine Materie, woraus irgend ein Astralgeist sich emporhebt, der selbstbewußt und ewig, vielleicht bis zur Unendlichkeit in ein immer trefflicheres, reineres Dasein übergeht.

In dem in der Mitte des Kirchhofes stehenden Glockenturme läutete es zu einem Begräbnisse. Polaniecki reichte Marynia den Arm, und sie gingen dem Thore zu. Unterwegs sagte Marynia, die augenscheinlich fortwährend an Litka gedacht hatte: »Jetzt bin ich überzeugt, daß wir glücklich sein werden.«

Innig schmiegte sie sich an ihn. Der Wind wurde jetzt so mächtig, daß sie nur mühsam dagegen ankämpfen konnten. Ein Windstoß wehte ihren Schleier in Polanieckis Gesicht.

Er drückte den Arm der Geliebten fester an sich, und die Ueberzeugung überkam ihn, daß sie ihm wenigstens das Leben verschönern konnte, wenn sie auch nicht fähig war, ihn mit dem Schreckbild des Todes auszusöhnen.

Nachdem sie in den Wagen gestiegen waren, ergriff er Marynias Hand und ließ sie auf der ganzen Fahrt nicht wieder los. Neuer, frischer Mut beseelte ihn, denn er empfand, daß alles, was ihm bisher gemangelt hatte, durch dies holde, herzensgute Mädchen ausgefüllt, und durch sie alles wieder erweckt werden konnte, was in ihm erstorben gewesen. Mein Weib! Mein Weib! wiederholte er unaufhörlich in seinem Innern, während er sie anschaute, und ihre lieben, ehrlichen Augen antworteten ihm: »Ich bin die Deine!«

Als sie zu Hause anlangten, war Herr Plawicki noch nicht von seinem Morgenspaziergang zurückgekehrt. Polaniecki setzte sich an Marynias Seite und unter dem Einfluß der Gedanken, die ihm unterwegs durch den Sinn gegangen waren, bemerkte er: »Du sagtest, Litka befinde sich bei uns, und Du hattest recht. Bisher kehrte ich immer wie zerschlagen vom Kirchhof zurück, aber jetzt bin ich froh, daß wir dort gewesen sind.«

»Mir ist zu Mute, wie wenn wir eingesegnet worden wären,« versetzte Marynia.

Da ergriff er abermals ihre Hand und sagte: »Wenn Du die Ueberzeugung hast, daß wir glücklich sein werden, wozu das Glück noch länger hinausschieben? Geliebtes Herz, ich glaube an eine frohe Zukunft; verzögern wir daher unsere Vermählung nicht länger. Ein neues Leben hebt für uns an, laß uns rasch damit beginnen.«

»Beschließe darüber, wie Du willst. Von ganzem Herzen bin ich die Deine.«

Nun zog er sie zu sich heran, sein Mund suchte den ihren, und jetzt wandte sie ihr Gesicht nicht ab, sondern bot ihm freiwillig die Lippen.


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