Henryk Sienkiewicz
Die Familie Polaniecki
Henryk Sienkiewicz

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Sechsundfünfzigstes Kapitel

Am folgenden Morgen läutete Osnowski an Polanieckis Wohnung in Warschau, und beim Klang der Glocke ging dieser selbst, um zu öffnen. Seit dem vergangenen Abend befand er sich in großer Unruhe, denn er hatte sich gesagt, daß in Przytulow die Bombe jeden Tag platzen müsse, und jetzt zerbrach er sich vergeblich den Kopf darüber, welchen Zusammenhang die Katastrophe mit Zawilowski haben könne.

Bei der Begrüßung drückte ihm Osnowski so kräftig die Hand, wie man es in Ausnahmsfällen des Lebens gewöhnlich zu thun pflegt. Als Polaniecki ihn aufforderte, mit ihm in sein Privatzimmer zu gehen, sagte er: »Ihre Gattin befindet sich in Buczynek?«

»Ja,« antwortete Polaniecki, »wir sind ganz unter uns.«

Nachdem Osnowski auf einem Lehnstuhl Platz genommen hatte, neigte er sein Haupt herab und verharrte eine Zeitlang in Schweigen, wobei er mühsam Atem holte, da er ein wenig an Emphysem litt und ihm Aufregung und das Treppensteigen jetzt das Atemholen noch mehr als sonst erschwerten. Polaniecki wartete einige Zeit geduldig, schließlich aber überwog seine angeborene Lebhaftigkeit, und er fragte: »Was ist denn geschehen?

»Ein großes Unglück ist geschehen,« erwiderte Osnowski traurig. »Die Verlobung Zawilowskis ist zurückgegangen!«

»Weshalb denn?«

»Es ist soviel Unangenehmes dabei im Spiele, daß es vielleicht für Ignaz besser wäre, wenn er den wahren Sachverhalt nie erführe. Eine Zeit lang schwankte ich wirklich, ob ich schweigen solle, aber es geht nicht. Vielleicht helfen ihm Entrüstung und Abscheu das Unglück tragen. Die Verlobung hat sich gelöst, denn Fräulein Castelli ist eines solchen Menschen nicht würdig.«

Hier hatte Herr Osnowski aufs neue schwer Atem geholt, Polaniecki indessen, der ihm bisher wie betäubt zugehört hatte, rief abermals: »Ums Himmels willen, was ist denn geschehen?«

»Nun die beiden Damen sind schon vor drei Tagen mit Kopowski, dem Bräutigam Linetas, ins Ausland gereist.«

Polaniecki war von seinem Stuhle aufgesprungen, setzte sich aber sofort wieder. Einen Moment schaute er Osnowski an, dann sagte er, wie wenn er den Gedanken nicht fassen könne: »Kopowski! Also auch die Liebe von Fräulein Castelli?«

Doch Osnowski war allzusehr von seinen Erlebnissen in Anspruch genommen, als daß er über diese Frage überrascht gewesen wäre.

»Leider!« sagte er. »Sie wissen ja, ich bin verwandt mit den Damen; Sie begreifen daher, daß ich sie sehr gern schonen möchte. Aber was liegt jetzt daran. Die verwandtschaftlichen Bande sind zerrissen, und wenn Fräulein Castelli meine leibliche Schwester wäre, würde ich dasselbe von ihr sagen, was ich nun sage. Was Zawilowski anbelangt so treffe ich ihn möglicherweise nicht mehr, weil ich noch heute mit meiner Frau abreisen muß. Auch gestehe ich Ihnen, daß mir der Mut fehlt, mit ihm zu sprechen. Sie sind sein bester Freund und vermögen vielleicht den Schlag einigermaßen zu lindern. Nötig ist's jedenfalls, daß Ignaz alles erfährt, denn bei einem derartigen Unglück ist der Abscheu, der einem eingeflößt wird, das beste Heilmittel.«

Nun erzählte er Polaniecki das, was er im Treibhause mit angesehen.

»Im ersten Augenblick verlor ich vollständig den Kopf,« setzte er hinzu. »Wahrlich, ich bin kein gewaltthätiger Mensch, aber warum ich ihm nicht die Knochen entzwei geschlagen habe, weiß ich nicht, vielleicht erinnerte ich mich, daß er mein Gast war, kurz, ich verlor den Kopf und entfernte mich. Aber bald darauf kehrte ich wieder zurück und forderte ihn auf, mit mir zu kommen. Ich bemerkte, daß er bleich, aber entschlossen aussah, und nun erklärte ich ihm, daß er sich unwürdig benommen, daß er die Gastfreundschaft ehrenhafter Leute mißbraucht habe, daß Lineta eine Nichtswürdige sei, für die ich nicht genug Worte der Verachtung finden könne, daß ihr Verlöbnis mit Zawilowski aufgelöst sei, und daß ich ihn – Kopowski zwingen werde, sich mit ihr zu vermählen, wenn ich auch bis zum Aeußersten gehen müßte. Nun zeigte es sich aber, daß längst schon ein Einverständnis zwischen den beiden geherrscht haben mußte, denn er erwiderte mir, daß er sich in Lineta verliebt habe und jeden Augenblick bereit sei, sich mit ihr zu vermählen. Was Zawilowski anbelange – zweifellos wiederholte Kopowski nur die Worte, welche ihm von Lineta vorgesagt worden waren, denn von selbst wäre er nicht darauf gekommen mir dies zu sagen – so sei er zwar bereit, ihm Satisfaktion zu geben, allein er habe nicht nötig, Rücksicht auf ihn zu nehmen und überhaupt keine Verpflichtung gegen ihn. Was indessen zwischen der Tante und Lineta vorgegangen war, weiß ich nicht, es genügt, daß erstere, bevor ich noch mit Kopowski zu Ende gekommen war, über mich herfiel wie eine Furie, meiner Gattin und mir vorwarf, wir hätten Lineta nicht gestattet, dem Zug ihres Herzens zu folgen, wir hätten ihr Zawilowski aufgedrängt, obwohl sie ihn nicht liebe. Lineta hätte Nächte hindurch geweint, und eine unglückliche Ehe würde ihr das Leben kosten. So ging es vielleicht eine Stunde weiter. Wir seien schuld, bloß sie und ihre Nichte seien ohne Schuld und Fehl.

Hier rieb Osnowski seine Stirn und fuhr fort: »Ach mein Herr, ich bin sechsunddreißig Jahre alt geworden, ohne zu wissen, was weibliche Unvernunft und Verkehrtheit heißen will. Diese Fähigkeit, alles zu wenden und zu drehen, wie es einem paßt, geht über meine Begriffe. Ich kenne doch den wahren Sachverhalt. Auch weiß ich, mein Dazwischentreten allein hat die beiden Damen zu der Ueberzeugung gebracht, daß mit Zawilowski alles aus ist und ihnen nur Kopowski bleibt. Aber sie verstehen es vortrefflich, aus schwarz weiß, aus weiß schwarz zu machen; und zudem gebricht es ihnen an moralischem Mut, an Wahrheitsliebe und an Unparteilichkeit . . . Ueber diesen maßlosen, bodenlosen Egoismus muß man mir staunen . . . Meinethalben könnte sie der Teufel holen, wenn es sich nicht um Ignaz handelte. Freilich mit solch einer Frau wäre er unglücklich geworden; doch welch ein Schlag wird dies für einen so exaltierten, jungen Mann sein! Und diese Lineta? Ein Mädchen, das sich so hoher Bestrebungen vermaß. Vor wenigen Wochen erst hat sie ihr Wort gegeben . . . Sie die Braut eines Zawilowski! Wahrlich, das ist zum Verrücktwerden.«

»Wann ist dies geschehen?« fragte Polaniecki.

»Schon drei Tage sind vergangen, seitdem sie miteinander nach Scheveningen reisten. Sie verließen uns noch am nämlichen Tage. Seinen Paß hatte Kopowski schon bereit. Da sieht man, daß man bei aller Dummheit doch schlau sein kann. Hatte er doch vorgegeben, er bewerbe sich um meine Cousine Stefeia Ratkowski. Oh, wie ist der arme Ignaz zu beklagen! . . . Besser ist es freilich, daß er an diese . . . Lineta noch nicht gebunden ist.«

»Weshalb haben Sie uns nicht früher benachrichtigt?« fragte Polaniecki.

»Weshalb? Weil meine Frau erkrankte. Sie bekam Nervenanfälle . . . Sie können sich gar nicht vorstellen, wie sehr sie sich die Sache zu Herzen nahm, und das ist kein Wunder. Eine solche Frau! Daß es auch gerade in unserm Hause passieren mußte! Bei ihrer Feinfühligkeit war das ein gehöriger Schlag. Im ersten Augenblick dachte ich, sie werde ernstlich erkranken, und auch jetzt sage ich noch, gebe Gott, daß die Nervenerschütterung keine schlimmen Folgen hat!«

Polaniecki schaute Osnowski aufmerksam an, kaute an seinem Schnurrbart, erwiderte aber kein Wort. Dieser fuhr fort: »Ich ließ selbstverständlich den Arzt holen. Auch befanden sich Stefeia Ratkowski, sowie die gute Frau Maszko glücklicherweise noch bei uns; und beide nahmen sich meiner Aneta so liebevoll an, daß ich ihnen mein ganzes Leben hindurch dankbar sein werde. Frau Maszko gilt für kalt, und doch ist sie seelengut.«

»Meiner Ansicht nach wäre all dies nicht vorgefallen, wenn der alte Zawilowski unserm Freunde Vermögen hinterlassen hätte,« sagte Polaniecki, da die Wendung, die das Gespräch genommen, ihm peinlich war.

»Wohl möglich,« versetzte Osnowski, »doch unterliegt es für mich keinem Zweifel, daß Linetas Instinkte sie stets zu einem solchen Manne wie Kopowski hinzogen, wenn sie auch ihren ehemaligen Verlobten heiraten würde, falls er unermeßlich reich wäre. Gegen die Natur läßt sich nicht ankämpfen. Lineta ist zu oberflächlich, als daß sie einen Zawilowski wirklich liebte und verstünde. Doch ward ihr solange eingeredet, daß sie höhere Bestrebungen habe, bis sie es selbst glaubte. Eitelkeit, Rücksicht auf die Meinung der Leute waren es, die sie zu Ignaz hinzogen.« Hier hielt Osnowski wieder inne, fuhr aber gleich darauf fort: »Den Kummer und die Bestürzung Ihrer Gattin kann ich mir gut vorstellen, aber Sie hätten sehen sollen, wie die meinige es aufnahm . . . Und diese Frau Maszko . . . Ja, die Frauen sind sehr verschieden . . .« Osnowskis Stimme bebte vor Rührung.

Polaniecki hingegen konnte sich nicht genug darüber wundern, daß ein Mensch, der so scharf zu beobachten, so richtig zu urteilen verstand, dabei so naiv sein konnte, und beinahe hätte er laut aufgelacht, als Osnowski auch von der Entrüstung Frau Maszkos sprach. Noch nie zuvor hatte er die Ironie des Lebens so tief empfunden wie jetzt.

»Sie werden also Zawilowski nicht aufsuchen?« fragte er.

»Ich habe, wie gesagt, nicht den Mut dazu. Heute kehre ich nach Przytulow zurück, denn wir wollen ins Ausland reisen. Ich muß meine Gattin so bald wie möglich fortbringen aus dieser Gegend, erstens weil sie mich selbst unter Thränen darum bat, und zweitens weil Luftveränderung nur einen heilsamen Einfluß auf ihre Gesundheit ausüben kann. An Sie habe ich nun eine Bitte. Daß ich Ignaz sehr zugethan bin, ihn sehr schätze, wissen Sie. Schreiben Sie mir, wie der Aermste den Schlag aufgenommen hat.«

»Schicken Sie mir Ihre Adresse, und ich werde Ihnen genauen Bericht über alles erstatten,« erklärte Polaniecki. »Wenn aber mir die schwere Ausgabe zufällt, dem Freunde mitzuteilen, was vorgefallen ist, so haben Sie die Güte, mir diese Aufgabe einigermaßen zu erleichtern. Erzähle ich ihm das, was vorgefallen ist, so wird er glauben, ich hätte den Sachverhalt nicht genau wiedergegeben. In solchen Fällen klammert sich ja der Mensch an einen Strohhalm, deshalb setzen Sie sich hin, und schreiben Sie ihm einen Brief zur Bestätigung dessen, was ich sage. Sonst wäre er möglicherweise imstande, seiner ehemaligen Braut nachzureisen. Einen derartigen Brief betrachte ich als unbedingt notwendig.«

»Sie haben recht, ganz recht!« erwiderte Osnowski, sich an den Schreibtisch setzend.

»Welche Ironie des Schicksals,« dachte Polaniecki, erregt im Nebenzimmer hin- und hergehend. »Was ist denn diese Lineta Castelli mit ihrer schönen Gestalt und den Instinkten einer Kammerzofe, diese ›Auserwählte Gottes‹, wie sie Waskowski erst gestern nannte? Was ist Frau Bronicz und dieser Osnowski mit seinem unerschütterlichen Glauben an Aneta; was ist Frau Maszko mit ihrer Entrüstung? Schauspieler sind es in einer lächerlichen Komödie, worin der eine den andern oder sich selbst betrügt, nichts als Betrüger und Betrogene, nichts als Lügner, Verblendete, Verirrte.« Mit einem Male sagte er sich, er sei der Letzte, der den Stab über Fräulein Castelli brechen dürfe. War er etwa besser als sie? Oder weniger strafbar? Sie verriet einen Mann um eines Dummkopfes willen, er verriet seine Frau einer geistlosen Puppe wegen. Sie folgte den Instinkten einer Putzmacherin, er denen eines Pavians. Sie täuschte ein vertrauensvolles Herz, er brach nicht nur sein Wort, sondern auch seinen Eid. Hatte er also die Befugnis, sie zu verdammen? Und wenn er sie nicht zu rechtfertigen vermochte, wenn er zugab, daß solch ein Geschöpf nicht das Weib Zawilowskis werden dürfe, mit welchem Rechte war er dann der Gatte Marynias? Verurteilte er Fräulein Castelli und wollte er konsequent sein, so mußte er sich von Marynia trennen. – Dazu war er aber nie und nimmermehr imstande. Jetzt erst ward ihm völlig klar, daß er sich, gleich einem von der menschlichen Gesellschaft ausgestoßenen Verbrecher, des Rechtes verlustig gemacht hatte, sich auf die Moralgesetze zu berufen. Schließlich wandten sich seine Gedanken wieder Zawilowski zu. »Wie wird der Beklagenswerte die Nachricht aufnehmen? Wie wird er sie ertragen?« fragte er sich. Ignaz stand ihm nahe, und dessen Unglück rührte ihn tief.

Mittlerweile hatte Osnowski den Brief beendigt, und während er die Thüre öffnete, sagte er: »Ich habe ihm auf vorsichtige Weise den ganzen Sachverhalt mitgeteilt. Möge ihm Gott Kraft verleihen! Jetzt muß ich aber gehen, denn Aneta erwartet mich. Gott gebe, daß wir uns zu glücklicheren Zeiten wiedersehen. Meinen besten Gruß an Ihre Frau.«

Wenige Minuten, nachdem Osnowski sich entfernt hatte, ward an der Vorthüre die Glocke gezogen, und Polaniecki vernahm es mit Herzklopfen; denn im ersten Moment dachte er nicht anders, als daß es Zawilowski sei. Er atmete erst wieder auf, als er Swirskis Stimme im Vorzimmer hörte, obwohl er sich so matt und müde fühlte, daß er am liebsten allein geblieben wäre. Doch beschloß er dem Freunde alles mitzuteilen. Während dieser ihm zuhörte, rief er einmal über das andere: »Welch ein Unglück! Gott schütze den Armen« – oder auch: »Da soll doch gleich ein Donnerwetter dreinschlagen!« wobei er vor Zorn seine Herkulesfäuste schüttelte. Da Polaniecki sich sagte, man dürfe Zawilowski nicht allein lassen, bat er Swirski, an seiner Statt Frau Emilie nach Buczynek zu geleiten und sein Ausbleiben Marynia gegenüber durch Geschäftsangelegenheiten zu erklären. Bereitwillig ging Swirski auf diese Bitte ein. Die beiden begaben sich miteinander zu Frau Emilie, die sie in sehr leidendem Zustande antrafen. Ihr Gesicht war völlig durchsichtig geworden, die Augen lagen tief in ihren Höhlen. Beim Gehen mußte sie sich auf zwei Stöcke stützen, denn ihre Füße gehorchten ihr nicht mehr. Ehemals war sie durch Arbeit wieder dem Leben gewannen worden, jetzt löste die Krankheit sie von allem Irdischen los, ihre Gedanken verweilten nur bei ihren Erinnerungen, wie aus einer bessern Welt schaute sie auf das Getriebe der Menschen herab. Daß sie wenig litt, hielten die Aerzte für ein schlimmes Zeichen. Und sie, die in ihrem Berufe mit den verschiedenartigsten Krankheiten vertraut geworden, wußte, daß sie verloren, oder vielmehr daß die Rettung außerhalb des Bereiches menschlicher Macht lag. Als Polaniecki nach ihrem Befinden fragte, erwiderte sie, die Augenlider mit Anstrengung hebend: »Ich kann nicht mehr gut gehen, doch fühle ich mich wohl.«

Ihr war in der That wohl, obgleich ihr Gewissen sie nicht ganz frei sprach von Fehl. Denn trotz ihrer Ueberzeugung, eine Fahrt nach Lourdes könne ihr die Gesundheit zurückgeben, mochte sie sich nicht von Litkas Grabe trennen. Auch fühlte sie eine wahre Sehnsucht nach dem Tode und wußte doch nicht, ob es ihr erlaubt sei, etwas zu vernachlässigen, was zur Erhaltung ihres Lebens diene, und hauptsächlich ob sie das Recht habe, sich der Gnade Gottes zu entziehen, darüber empfand sie eine tiefe Unruhe.

Jetzt war sie schon zur Reise bereit und freute sich über die Aussicht, Marynia wiederzusehen.

Nachdem verabredet worden, daß Swirski sie um fünf Uhr abholen solle, entfernten er und Polaniecki sich wieder, um ein Frühstück einzunehmen; denn trotz der Teilnahme, die er für Zawilowskis Geschick hegte, war der Maler so hungrig wie ein Wolf.

»Ich möchte Sie noch um etwas bitten,« sagte Polaniecki, nachdem sie im Restaurant Platz genommen hatten: »Wollen Sie Fräulein Helene von dem Geschehenen in Kenntnis setzen und sie zugleich ersuchen, meiner Frau gegenüber nichts davon zu erwähnen?«

»Gewiß!« erwiderte Swirski, »ich werde mich zu diesem Zweck nach Jasmien begeben. Empfängt sie mich nicht, so schreibe ich auf meine Karte, daß ich ihr etwas mitzuteilen habe, und falls sie dann hierherfahren will, begleite ich sie.«

Hierauf fragte er: »Hat Ihnen Osnowski nicht mitgeteilt, ob Fräulein Ratkowski die Reise mitmacht oder in Przytulow bleibt?«

»Nein, er erwähnte nichts davon. Gewöhnlich hält sich Fräulein Ratkowski bei einer alten Verwandten auf. Vielleicht reist das junge Mädchen aber mit, weil Frau Osnowski leidend ist. Dies engelreine Wesen bekam nämlich Herzkrämpfe aus Entsetzen über das, was vorgefallen ist.«

»Ach so,« sagte Swirski. »Fräulein Ratkowski ist Kopowski wegen eingeladen worden nach Przytulow. Da er nun um eine andere angehalten hat, wird sie schwerlich dort bleiben. Bei Gott,« rief er plötzlich, »das ist doch fabelhaft. Mit Ausnahme Frau Osnowskis sind alle verliebt in diesen Einfaltspinsel.«

Polaniecki lächelte ironisch und nickte mit dem Kopfe. Im schwebten die Worte auf den Lippen: »Nein, ohne Ausnahme, ohne Ausnahme . . .«

»Ja für Werke des Phidias haben sie kein Verständnis, aber ein Modejournal wird von ihnen bewundert,« setzte der Maler hinzu. »Erinnern Sie sich, was ich Ihnen sagte, als Sie mich nach der Familie Bronicz fragten? Canaillen seien es, prinzipienlose und charakterlose Canaillen –, Geistesparvenüs, nichts weiter. Herr Bronicz war ein großer Dummkopf, und dessen Frau kennen Sie; Gott hat es wirklich gut gemeint mit mir, denn wenn sie gewußt hätten, daß ich im Besitze gewisser Staatspapiere bin, wären sie entgegenkommender gegen mich gewesen, und jetzt würde es mir schlimm ergehen . . . Nun werde ich mit Zawilowski ins Ausland reisen, denn das Leben hier habe ich satt.«

Als sie das Restaurant verlassen hatten und sich auf der Straße befanden, fragte Swirski: »Was haben Sie nun vor?«

»Ich muß Zawilowski aufsuchen.«

»Wo glauben Sie ihn zu treffen?«

»Bei seinem Vater. Andernfalls warte ich zu Hause auf ihn.«

In diesem Augenblicke näherte sich Zawilowski dem Restaurant. Der Maler gewahrte ihn zuerst.

»Da kommt er!« sagte er. »Falls Sie ihm jetzt alles mitteilen, gehe ich, denn ein Zeuge ist unnötig dabei.«

»Sie haben recht,« antwortete Polaniecki.

Als Zawilowski sie erblickte, eilte er ihnen mit heiterer Miene entgegen.

»Meinem Vater geht es besser,« rief er, ihnen die Hand reichend, etwas atemlos. »Selbstverständlich fahre ich heute noch nach Przytulow.«

Swirski reichte ihm nochmals die Hand und entfernte sich schweigend.

Verwundert schaute ihm der junge Mann nach.

»Habe ich Herrn Swirski durch irgend etwas beleidigt?« fragte er.

Dabei sah er Polaniecki ernst, fast finster an und bemerkte erst jetzt dessen traurige Miene.

»Was bedeutet das?« setzte er nun hinzu. »Ist etwas vorgefallen?«

»Lieber Herr Ignaz,« begann Polaniecki seinen Arm nehmend in erregtem Tone, »ich habe Sie von jeher nicht nur als außergewöhnliches Talent, sondern auch als außergewöhnlichen Charakter betrachtet. Leider muß ich Ihnen schlimme Neuigkeiten mitteilen, doch bin ich überzeugt, Sie werden genug Stärke finden, um sich vom Unglück nicht zu tief beugen zu lassen.«

»Was ist denn geschehen?« sagte Zawilowski, dessen Gesichtsausdruck sich vollständig verändert hatte.

Polaniecki hielt eine Droschke an. »Steigen wir ein!« sagte er, und: ›Auf die Brücke‹, befahl er dem Kutscher, dann zog er Osnowskis Brief hervor und überreichte ihn Zawilowski.

Dieser riß hastig das Couvert auf und begann zu lesen. Polaniecki schlang den Arm um ihn und wandte den Blick nicht von seinem Antlitz ab. Erstaunen, Unglauben, etwas wie Betäubung und vor allem ein grenzenloser Schmerz malte sich darauf, während er las. Er wurde totenbleich, offenbar empfand er sein Unglück, ohne es recht fassen zu können, denn er schaute Polaniecki wie geistesabwesend an und fragte mit unsicherer Stimme:

»Wie ist das möglich? . . . Wie war sie dazu imstande?«

Er nahm den Hut ab und fuhr sich mit der Hand durch die Haare.

»Was Ihnen Osnowski geschrieben hat, weiß ich nicht genau,« erklärte Polaniecki, »aber an der Thatsache selbst läßt sich nichts ändern. Auch hat es keinen Zweck, sie anders hinzustellen, als sie wirklich ist. Haben Sie den Mut, sich zu sagen, daß geschehene Dinge nicht mehr zu ändern sind. Es wäre ja schade um Sie, denn Sie sind viel mehr wert als die andern alle; und es giebt noch genug Leute, die Sie wirklich schätzen und lieben. Daß Sie sich unglücklich fühlen, begreife ich, und einen leiblichen Bruder könnte es nicht mehr schmerzen, als mich. Aber es ist nun einmal geschehen . . . Mein lieber Ignaz . . . Lineta ist mit ihrer Tante schon abgereist. Gott weiß wohin. Auch Herr Osnowski und seine Gattin haben Przytulow verlassen. Was in Ihnen vorgeht, kann ich mir denken, aber Gott hat Sie zu großen Dingen bestimmt und verlieh Ihnen sicherlich auch mehr Kraft als andern. Sie sind das Salz der Erde und Sie haben ganz besondere Pflichten gegen sich und Ihre Nebenmenschen. Wohl weiß ich, daß es schwer ist, ohne Klage auf alles, was man liebt, zu verzichten, und wer könnte dies von Ihnen verlangen, allein Sie am wenigsten dürfen sich der Verzweiflung überlassen, mein armer, armer Ignaz.«

So sprach Polaniecki mit teilnahmsvollen, herzlichen Worten zu ihm. Aber auch Vernunftgründe machte er geltend, um ihn zu trösten.

»Wir müssen das Unglück von uns abschütteln,« sagte er, »und ruhig der Zukunft entgegengehen; dann lassen wir es weiter und weiter hinter uns zurück, und obwohl wir den Schmerz noch lange mit uns herumtragen, verblaßt er doch allmählich in der Erinnerung, weil wir nicht in der Vergangenheit leben.« All dies enthielt eine gewisse Wahrheit, änderte indessen nichts an der Thatsache, von der Osnowskis Brief handelte. Dies Faktum allein existierte jetzt für Zawilowski; was er vernahm, war nur leerer Schall in seinen Ohren und bedeutete so wenig für ihn wie das Gerassel der eisernen Brücke, worüber sie gerade fuhren. Was er dachte und fühlte, war tieftraurig, dabei hatte er die Empfindung, daß er sich niemals mit seinem Schicksal aussöhnen werde, es niemals ruhig hinnehmen könne – und daß er gleichwohl vollständig machtlos sei. An etwas anderes vermochte er jetzt nicht zu denken. Er konnte sich auch seinen Verlust noch nicht klar machen, war sich seines Schmerzes noch nicht recht bewußt, begriff noch nicht, daß die Grundpfeiler seines Lebens erschüttert waren. Nur das eine war offenbar, daß Lineta ihn nicht liebte, daß sie ihm den Abschied gegeben und sich mit Kopowski verlobt hatte. Jenseits der Brücke fuhr der Wagen etwas langsamer, während er einer Ochsenherde auswich, die in die Stadt getrieben wurde und mit lautem Gestampfe an ihnen vorüberzog. Polaniecki sprach immer weiter, und Zawilowski hörte die Worte: Swirski, Ausland, Italien, Kunst; aber er verstand nicht, daß Swirski der Name eines Bekannten war, daß Polaniecki eine Reise für ihn plante, wenn er vom Ausland, von Italien redete; denn er selbst sagte in dem Augenblick zu Lineta: »Das alles mag ja sein, aber was soll aus mir werden? Wie konntest Du vergessen, daß ich Dich so unendlich liebte?« Ihn dünkte jetzt während eines kurzen Momentes, wenn er ihr gegenüberstünde und ihr vorstellte, daß man auf andere Rücksicht nehmen müsse, dann würde sie vielleicht zu weinen anfangen und an seine Brust sinken. »Wir beide sind ja so fest aneinander geknüpft,« sprach er weiter, »ich bin ja noch derselbe, der ich gewesen, ich bin Dein eigen.« – Und plötzlich überlief ihn ein Zittern, die Adern auf seiner Stirne schwollen an, seine Augen füllten sich mit Thränen. Polaniecki war tief erschüttert, er schlang den Arm um Zawilowski und küßte ihn. Damit fühlte dieser sich wieder in die Wirklichkeit zurückversetzt.

»Ich kann es ihr nicht sagen,« dachte er, »denn ich werde sie nie mehr sehen. Sie ist ja abgereist mit Kopowski, ihrem Verlobten.« Bei diesem Gedanken kam ihm die ganze Größe seines Unglücks zum Bewußtsein, und er sagte sich, wenn Lineta gestorben wäre, würde sein Verlust geringer sein. Daß er sie aus dem Herzen reißen müsse, wenn er sich nicht selbst verachten wollte, fühlte er wohl, aber trotzdem wußte er auch, daß seine Liebe niemals aufhören werde. Mit eins begriff er die ganze Größe seines Unglückes und erkannte, daß dies mehr war, als er zu ertragen vermochte.

»Reise mit Swirski nach Italien und suche Deines Schmerzes Herr zu werden, mein Lieber!« fuhr Polaniecki fort. »Es muß ja sein! Die Welt ist groß, und es giebt noch so viel Schönes, das uns das Leben wert macht. Dir steht die Welt offen. Dir besonders. Wenn Du neue Eindrücke empfängst, wirst Du von Deinem Schmerze abgezogen werden und Linderung fühlen. Deine Gedanken werden nicht ewig um den nämlichen Punkt kreisen. Swirski kann Dir Italien zeigen, Du wirst sehen, welch angenehmer Gesellschafter er ist, welch neue Gesichtskreise er Dir eröffnet. Ein Mensch wie Du muß die Kraft einer Perlmuschel haben und alles in Perlen verwandeln. Als wahrer Freund rate ich Dir, so bald wie möglich abzureisen. Versprich es mir! Wenn meine Frau mit Gottes Hilfe alles glücklich übersteht, kommen wir im Frühling vielleicht auch nach Italien. Du wirst sehen, welch schöne Tage wir dann zusammen verleben. Nun, bist Du einverstanden?«

»Ja!« antwortete Zawilowski, der nur die letzten Worte vernommen hatte und gar nicht wußte, wovon die Rede war.

»Gott sei Dank!« rief Polaniecki. »Wir wollen nun in die Stadt zurückkehren und den Abend miteinander verbringen. Ich muß mich in Geschäftsangelegenheiten zwei Tage hier aufhalten.«

Die Sonne war schon dem Untergange nahe, und er befahl dem Kutscher umzuwenden. Es war einer von den schönen Tagen, wie sie häufig am Ende des Sommers vorkommen. Ueber der Stadt lag ein feiner, goldener Dunst. Die Dächer und Kirchtürme strahlten im Sonnenglanze, und sich scharf abzeichnend, schienen sie sich förmlich darin zu baden.

Eine Zeitlang schwiegen die beiden.

»Willst Du mit mir gehen, oder wollen wir uns zuerst in Deine Wohnung begeben?« fragte Polaniecki, als sie in die Stadt kamen.

Das Leben in den Straßen hatte Zawilowski offenbar aus seinen Träumen erweckt, denn er schaute Polaniecki ruhig an und sagte: »Ich bin seit gestern nicht zu Hause gewesen, weil ich bei meinem Vater übernachtete. Vielleicht sind aber Briefe für mich eingetroffen, und darnach möchte ich mich umsehen.«

Zawilowskis Voraussetzung war richtig. In seiner Wohnung fand er ein Schreiben aus Berlin von Frau Bronicz vor. Hastig riß er das Couvert auf und begann zu lesen.

»Man sollte meinen, daß seine Hoffnung noch nicht ganz entschwunden ist,« dachte Polaniecki, während er des Freundes Gesicht beobachtete, das fortwährend den Ausdruck wechselte.

Als Zawilowski zu Ende gelesen hatte, stützte er den Kopf in die Hände und blickte vor sich nieder. Dann aber fuhr er empor und reichte Polaniecki den Brief mit den Worten: »Da lies!«

Polaniecki las, wie folgt:

»Ich weiß, daß Sie Ihr Gefühl für Lineta als ein wahres betrachtet haben und daß Ihnen im ersten Moment das, was geschehen ist, wie ein Unglück vorkommen wird, aber glauben Sie mir, es ward uns auch nicht leicht, uns zu dem entscheidenden Schritt zu entschließen. Sie haben vielleicht Lineta nicht genügend schätzen lernen, denn was wissen die Männer zu schätzen? Doch sollten Sie sie wenigstens so weit kennen, um zu wissen, wie viel Ueberwindung es sie kostet, andern eine Unannehmlichkeit zu bereiten – doch was ist zu machen? Es ist Gottes Wille, und es wäre eine Sünde, ihm nicht zu willfahren. Wir beide folgen der Stimme unseres Gewissens, und Lineta ist zu ehrlich, um Ihnen ohne wirkliche Neigung die Hand zu reichen. Das, was geschehen ist, geschah durch Gottes Fügung, zu Ihrem und Linetas Wohl, denn wenn sie ohne Liebe Ihre Gattin würde, wie könnte sie dann den Versuchungen widerstehen, denen solch ein Wesen in Anbetracht der Verderbtheit der Welt ausgesetzt ist? Sie haben Ihr Talent, meine Nichte hingegen hat nur ihr Herz, das durch Zwang gebrochen würde, und wenn Sie jetzt meinen, Sie seien getäuscht worden, so fragen Sie sich gewissenhaft selbst, wessen Schuld größer ist. Sie haben Lineta viel Leid zugefügt, denn Sie haben sie tyrannisiert, ihr nicht gestattet, dem natürlichen Drange ihres Herzens zu folgen. In Ihrem Egoismus wollten Sie Linetas Glück und Leben opfern, denn ich bin überzeugt, unter solchen Umständen hätte sie kein Jahr leben können. Möge Ihnen der Allmächtige vergeben, wie wir beide Ihnen vergeben haben, und mögen Sie wissen, daß wir heute für Sie gebetet haben und eine Messe bei der heiligen Ludwiga für Sie lesen ließen.

Linetas Ring wollen Sie gefälligst in die Villa Osnowski schicken, der Ihrige wird Ihnen durch Fräulein Ratkowski zugestellt werden, weil Herr und Frau Osnowski auf der Reise sind. Nochmals, Gott verzeihe Ihnen und nehme Sie in seine Obhut.«

»Das ist unerhört!« rief Polaniecki.

»Kann man die Wahrheit so verdrehen? Kann sich die Liebe so verwandeln? Das habe ich nicht gewußt!« erwiderte Zawilowski in traurigem Tone.

»Höre, Ignaz,« bemerkte Polaniecki, dem sich unwillkürlich jetzt immer das trauliche »Du« auf die Lippen drängte, »hier kommt nicht nur Dein Unglück, sondern Deine Selbstachtung ins Spiel. Deshalb mußt Du ihnen zeigen, daß Du Dich nicht grämst.«

Eine Zeit lang herrschte tiefes Schweigen, dann begann Polaniecki, dem der Brief nicht aus dem Sinne gekommen war, plötzlich wieder:

»Das übersteigt doch alle menschlichen Begriffe! – Swirski kehrt noch heute von Buczynek zurück und verbringt den Abend bei mir,« fügte er hierauf hinzu. »Willst Du nicht auch kommen, und das Nötige über Euere Reise mit ihm besprechen?«

»Nein!« entgegnete Zawilowski, »ich habe versprochen, mich nach der Rückkehr von Przytulow wieder bei meinem Vater einzufinden. Ich muß nun zu ihm gehen. Morgen früh werde ich zu Dir kommen.«

Der Wunsch, allein zu sein, legte ihm diese Worte in den Mund. Polaniecki hingegen meinte, die Beschäftigung mit dem Kranken werde den jungen Mann derart in Anspruch nehmen, daß Ermüdung und Schlafbedürfnis sich allmählich einstellen müßten, und riet ihm daher nicht ab, die Nacht in der Anstalt zu verbringen. Doch beschloß er, ihn dorthin zu begleiten.

Erst vor dem Thore trennten sie sich. Zawilowski verweilte aber nicht lange und kehrte wieder nach Hause zurück, sobald er sich nach dem Befinden seines Vaters erkundigt hatte.

Nachdem er Licht angezündet, las er nochmals Frau Broniczs Brief durch, und sein Gesicht mit den Händen bedeckend, verlor er sich in tiefes Sinnen. Trotz allem, was er von Osnowski und Polaniecki erfahren, hatte er sich bisher gewisser Zweifel, geheimer Hoffnungen nicht erwehren können, und in einzelnen Momenten geglaubt, alles sei ein böser Traum. Erst Frau Bronicz' Schreiben brachte ihm völlige Klarheit. Ja, für ihn war Lineta verloren, für ihn gab es keine Aussicht mehr auf eine frohe Zukunft, für ihn gab es kein Glück mehr. Kopowski war der Auserwählte, ihn selbst hatte man zur Vereinsamung verdammt, und außer der Demütigung empfand er auch eine entsetzliche Leere. Zudem kam ihm unwillkürlich der Gedanke, daß Lineta ihn gerne seines Talentes beraubt und es auf ihren Verlobten übertragen hätte, wenn sie dazu imstande gewesen wäre. Existierte er denn überhaupt noch für sie? Und er sann darüber nach, was er wohl verbrochen habe, daß man ihn ohne Gnade, ohne die geringste Rücksicht geopfert, ihn mit Füßen getreten hatte, wie ein giftiges Insekt. Er gedachte des Verlobungsfestes, er erinnerte sich, wie sie in seinen Armen gebebt, als er ihr »gute Nacht« gewünscht hatte. »Jetzt liegt sie vielleicht bebend in Kopowskis Armen!« sagte er sich. Bei diesem Gedanken biß er mit den Zähnen in sein Taschentuch, um nicht vor Schmerz und Wut laut aufzuschreien. Dann griff er wieder nach dem Briefe, als ob er darin die Lösung des Rätsels zu finden hoffe. Er las nochmals, »daß es Gottes Wille sei!« »daß er sich fragen möge, wessen Schuld größer sei,« – »daß er Lineta viel Leid zugefügt habe« – »daß ihm aber verziehen werde« – »und daß eine Messe für ihn gelesen worden sei.«

»Ist denn das möglich?« fragte sich Zawilowski. »Was habe ich denn verschuldet?«

Plötzlich fühlte er, daß seine Begriffe sich verwirrten, daß er zwischen Wahrheit und Lüge, zwischen dem Bösen und dem Guten, zwischen Recht und Unrecht nicht mehr zu unterscheiden vermochte. Mit Lineta hatte er sich selbst verloren, er fand keinen festen Grund mehr unter seinen Füßen; Verstand, Bewußtsein und das Leben schienen dahinzuschwinden . . . Daß er seine Nitecka stets mehr als das Leben lieben, ihr niemals Böses wünschen werde, wußte er noch, doch sonst war alles in ihm zerstört von der Wucht des Unglückes.

Lange Zeit saß er noch schweigend da, und die Kerze war schon zur Hälfte herabgebrannt, als er aus seinen Träumereien auffuhr.

Nun geschah etwas Außergewöhnliches mit ihm.

Ihm war, als ob er mit einem Schiffe vom Lande wegfahre, und dabei hatte er die Empfindung – wie es gewöhnlich in solchen Fällen vorkommt – daß nicht er, sondern die Küste, an der er bisher geweilt, sich entferne. Sein ganzes Ich, seine Gedanken, Wünsche, Hoffnungen, Bestrebungen, sogar seine Liebe, sogar Lineta, ihr Verlust – alles Wirrsal und die Leiden, die er erduldet, erschienen ihm jetzt als etwas Fremdes, Losgelöstes, das ausschließlich zu jener Küste gehörte. Und allmählich entschwand sie ihm, wurde immer kleiner, glich immer mehr einem Phantome, einem Traumbilde, und er entfernte sich mit dem Gefühle, daß er nie mehr in diese fremde Welt zurückkehren könne, daß er nie mehr zurückkehren wolle, daß alles, was ihm geblieben, zu einer andern Welt gehöre, die sich vor ihm eröffnete in geheimnisvoller Unendlichkeit, um ihn aufzunehmen.


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