Henryk Sienkiewicz
Die Familie Polaniecki
Henryk Sienkiewicz

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Sechsunddreißigstes Kapitel

Polaniecki war noch immer in Ungnade bei Frau Osnowski, denn so oft sie bei Swirski mit ihm zusammentraf, sprach sie nur so viel mit ihm, wie die Höflichkeit und der gute Ton erforderten. Polaniecki bemerkte dies wohl, und obwohl er sich zuweilen selbst fragte: »Was will sie denn von mir?« dachte er doch unwillkürlich darüber nach, was geschehe, wenn er sich in Wirklichkeit um ihre Gunst bemühte.

Noch ein gemeinsamer Ausflug in die Katakomben des hl. Kalixtus wurde unternommen, denn Polaniecki wollte ihre Artigkeit nicht unerwidert lassen und sie ebenfalls zu einer Wagenpartie einladen. Doch auch dieses Zusammensein ward nicht zur Versöhnung benützt. Sie sprachen nur das Nötigste miteinander, und dieser Zwang ärgerte ihn schließlich. Doch sagte er sich, all dies werde ein Ende nehmen, sobald ihr Porträt vollendet sein werde.

Da Swirski keine Zeit verlieren wollte, befand sich das Osnowskische Ehepaar immer noch im Atelier, wenn Marynia und Polaniecki kamen.

Eines Tages nun, als Marynia gerade ihren Platz der Staffelei gegenüber einnahm, erkundigte sich Frau Osnowski, während sie ihren Hut vor dem Spiegel aufsetzte, bei Marynia und Polaniecki nach der Opernvorstellung am vergangenen Abend, worauf sie, sich an letzteren wendend, sagte:

»Jetzt bitte ich Sie, mich zum Wagen zu begleiten.«

Sie warf ihren Kragen über und begann die Bänder zu suchen, die am Futter angebracht waren.

»Ich kann wegen der Handschuhe die Bänder nicht finden, erbarmen Sie sich meiner,« sagte sie im Vorzimmer plötzlich stehen bleibend.

Polaniecki that, was sie verlangte, und dabei mußte er sie fast umarmen.

»Warum zürnen Sie mir?« fragte sie leise sich ihm vertraulich zuneigend, »das ist nicht schön! Ich habe ja eine Freundesseele so nötig. Was habe ich Ihnen denn gethan?«

Inzwischen hatte er die Bänder gefunden, er trat etwas zurück, und mit der Zufriedenheit eines Menschen, der sich seines Triumphes bewußt ist und ihn recht ausnützen will, antwortete er auf geradezu impertinente Weise:

»Sie haben mir nichts gethan und können mir überhaupt nichts thun.«

Wie ein Ball im Lawn Tennis ward ihm diese Unhöflichkeit zurückgegeben.

»Das ist wohl möglich bei Leuten, die ich zuweilen gar nicht sehe.«

Schweigend begaben sie sich dann zum Wagen.

»So verhält es sich also,« dachte Polaniecki, während er ins Atelier zurückkehrte. »Bei ihr kann man demnach so weit gehen, wie man will.«

Und wieder überlief es ihn heiß vom Kopf bis zu den Füßen.

Während er seine Gattin betrachtete, verglich er unwillkürlich die beiden Frauen miteinander, und er sagte sich: »Auf Marynia kann man bauen, sie würde sich eher ein Leid anthun, als vom Pfade der Pflicht abweichen.«

Seltsam! Unzweifelhaft lag darin eine große Anerkennung; gleichzeitig aber auch eine gewisse, mitleidige Gereiztheit.

Und während er sich im Atelier befand, weilten seine Gedanken meist bei Frau Osnowski. Er meinte, sie werde es in Zukunft vermeiden, ihm auch nur die Hand zu reichen, doch zeigte es sich bald, daß er sich wieder irrte. Denn weil sie ihm beweisen wollte, daß sie sich aus ihm und seinen Worten nichts mache, war sie ihm gegenüber höflicher als zuvor.

Herr Osnowski zeigte eine beleidigte Miene und wurde mit jedem Tag eisiger, wahrscheinlich infolge einiger Bemerkungen Anetkas.

Eindrücke ganz andrer Art sollten indessen das Erlebnis bald vollständig im Gedächtnis Polanieckis verwischen. Bukacki, der sich schon lange krank fühlte, klagte über Schmerzen im Hinterkopfe und über ein Nachlassen all seiner Kräfte. Sein Humor kam nur noch von Zeit zu Zeit zum Durchbruch. Eines Morgens erhielt Polaniecki ein mit unsicherer Hand geschriebenes Billet, das die Worte enthielt.

»Mein Lieber! seit gestern Nacht bin ich im Abfahren begriffen. Wenn Du es mitansehen willst, komme zu mir, besonders dann, wenn Du nichts Besseres zu thun hast.« Ohne Marynia etwas von diesem Briefe mitzuteilen, eilte Polaniecki sofort zu dem Kranken. Er traf ihn im Bette und einen Arzt bei ihm, der sich aber bald entfernte.

»Du hast mich außerordentlich erschreckt,« sagte Polaniecki. »was fehlt Dir denn?«

»Oh, nichts von Bedeutung, nur so ein kleines Schlägchen auf der linken Seite.«

»Spaße doch nicht!«

»Es ist mein voller Ernst, meine Zeit ist gekommen. Ich habe keine Kraft mehr in der linken Hand und im linken Fuß, und ich kann nicht aufstehen. So bin ich heute früh erwacht. Anfangs dachte ich, ich hätte die Sprache verloren, und fing an zu deklamieren: »Per mi si va . . .« Aber wie Du siehst, ist es nicht der Fall, die Sprache ist geblieben, und jetzt ringe ich auch nach Klarheit der Gedanken.«

»Bist Du sicher, daß es ein Schlaganfall gewesen ist? Vielleicht ist's nur eine vorübergehende Steifheit.«

»Was ist das Leben – ach, nur ein Augenblick,« fing Bukacki an zu deklamieren, »ich kann mich nicht rühren, nicht bewegen, und es wird bald zu Ende sein, oder es wird anfangen. Vielleicht ziehst Du diesen Ausdruck vor.«

»Das wäre schrecklich, aber ich glaube nicht daran. Es kommt ja oft vor, daß man für einige Zeit steif wird.«

»Ja, ›es giebt unangenehme Augenblicke im Leben,‹ sagte eine Karausche, als die Köchin ihr mit dem Messer die Schuppen abschabte. Ich gestehe, im ersten Moment erschrak ich recht. Hast Du je das Gefühl gehabt, daß Dir die Haare zu Berge stehen? Zu den angenehmsten gehört es gerade nicht. Doch jetzt bin ich wieder ins Gleichgewicht gekommen, und mich dünkt, daß ich mit diesem Schlaganfall schon zehn Jahre lebe. ›Alles ist Gewohnheit,‹ sagte der Rötling, als er in der Pfanne schmorte. Ich schwatze viel, nicht wahr, aber ich habe keine Zeit mehr zu verlieren. In wenigen Tagen wird's zu Ende gehen.«

»Du schwatzest wirklich thörichtes Zeug. Nach einem Schlaganfall kann man noch dreißig Jahre leben.«

»Ja, sogar vierzig. Ein Schlaganfall ist ein Luxus, den sich manche Leute erlauben dürfen, aber nicht solche wie ich. Für einen kräftigen Menschen, der einen starken Nacken, starke Schultern und Waden hat, mag es ein Ausruhen nach einer lustigen Jugend und eine geeignete Gelegenheit zum Nachdenken sein; aber nicht für mich. Erinnerst Du Dich, wie Du einmal über meine Waden lachtest? Ich sage Dir, damals war ich ein wahrer Elefant im Vergleich zu dem, was ich jetzt bin. Es ist nicht wahr, daß jeder Mensch ein Körper ist – ich bin nur eine Linie – eine Linie, die spurlos in der Unendlichkeit aufgeht.«

Polaniecki widersprach ihm natürlich, doch Bukacki entgegnete: »Ach, gieb Dich zufrieden, ich weiß ganz gut, daß in einigen Tagen eine Gehirnlähmung folgen wird. Gesagt habe ich es noch niemand, obwohl ich es seit einem Jahre erwarte und seit einem Jahre medizinische Bücher lese. Ein zweiter Anfall wird das Ende herbeiführen.«

Er schwieg einen Augenblick, fuhr aber dann fort: »Meinst Du vielleicht, daß es mir leid sei? Bedenke, ich bin so allein, wie ein von der Hand abgeschnittener Finger. Ich habe niemand auf der Welt . . . Hier und sogar in Warschau müßten mich bezahlte Menschen pflegen. Welch ein Leben wäre das, wenn ich gelähmt daläge und keine mitfühlende Seele bei mir hätte . . . Und verlöre ich dann auch noch die Sprache, so könnte ja der erste beste Wärter mich ins Gesicht schlagen, so oft es ihm beliebt. Und noch eins mußt Du wissen. Im ersten Moment erschrak ich freilich über den Schlaganfall, doch in meinem schmächtigen Körper wohnt eine stolze Seele. Daß ich mich nicht vor dem Tode fürchte, sagte ich Dir schon einmal, und ich fürchte mich auch nicht.«

Polaniecki legte beruhigend seine Hand auf die gelähmte seines Freundes und sagte herzlich: »Mein lieber Adzio, glaube nicht, daß wir Dich hier so liegen lassen, und sage nicht, Du hättest niemand. Du hast mich und meine Frau, Swirski, Waskowski und Bigiel. Für uns bist Du kein Fremder, ich nehme Dich mit nach Warschau, bringe Dich in ein Krankenhaus; wir werden Dich pflegen, und ins Gesicht soll Dich kein Wärter schlagen, erstens, weil ich ihm sonst die Knochen entzwei bräche, und zweitens, weil es bei uns barmherzige Schwestern giebt und auch Frau Emilie eine ist.«

Bukacki war mehr gerührt, als er zeigen wollte. Seine Augen wurden feucht, und erst nach längerm Schweigen sagte er: »Du bist ein guter Junge . . . Weißt Du auch, daß Du ein Wunder hervorgebracht hast? Dir danke ich es, daß ich noch einen Willen, einen Wunsch hege. Ja, ich möchte sehr gern nach Warschau zurückkehren und bei Euch allen sein, ja, in Warschau, das wäre schön!«

»Vorerst müssen wir Dich aber hier in ein Krankenhaus, in gute Pflege bringen. Swirski wird wohl wissen, welches das beste ist. Inzwischen überlasse mir alles, ich werde das Nötige besorgen.«

»Mache was Du willst,« antwortete Bukacki, wieder neue Hoffnung schöpfend.

Nun schrieb Polaniecki an Swirski und Waskowski. Nach einer halben Stunde erschienen beide, und noch an demselben Vormittag ward ihr Freund in einem hellen, freundlichen Zimmer des Krankenhauses untergebracht.

»Welch milde und warme Farben,« sagte er auf die hellen Wände blickend, »das ist hübsch.« Sich zu Polaniecki wendend, fügte er dann hinzu: »Komme heute abend wieder, aber jetzt gehe zu Deiner Frau.«

Polaniecki verabschiedete sich. Zu Hause angelangt, machte er Marynia mit dem Vorgefallenen bekannt. Natürlich bat sie ihn sofort, sie am andern Morgen zu Bukacki mitzunehmen. Am nächsten Tage, bald nach dem Frühstück, begaben sie sich zu dem Kranken, den Professor Waskowski unterdessen nicht verlassen hatte.

Der Besuch Marynias überraschte und erfreute Bukacki sehr. Diesseits des Flusses noch eine Landsmännin zu sehen, das habe er nicht erwartet, sagte er.

Allein trotz seiner sichtlichen Rührung brummte er dennoch.

»Wie romantisch Ihr seid, das ist ja geradezu unvernünftig, sich mit einem so verknöcherten Alten wie ich abzugeben. Wozu denn? Damit zwingt Ihr mich, Euch noch vor dem Tode dankbar zu sein, – und ich bin Euch dankbar, aufrichtig dankbar.«

Marynia suchte ihm die Todesgedanken auszureden und sprach ruhig von seiner Uebersiedelung nach Warschau wie von einer Sache, deren Ausführung nicht den mindesten Zweifel zulasse. Sie gab ihm Ratschläge, wie er sich dann in der Heimat einzurichten habe, und er lauschte begierig ihren Worten.

Am nämlichen Tage besuchte ihn auch Herr Osnowski und zeigte soviel Wärme und Herzlichkeit, als ob er ein leiblicher Bruder Bukackis wäre. Letzterer hatte all dies nicht erwartet und nicht darauf gerechnet.

Als spät am Abend Polaniecki noch einmal zu ihm kam und sie sich allein befanden, sagte er: »Ich muß Dir gestehen, nie habe ich es mehr gefühlt, daß ich aus dem Leben eine elende Farce gemacht, es wie ein Narr vergeudet habe, als jetzt. Und wenn mir die Methode, die ich anwandte, wenigstens behagt hätte, aber auch das war nicht der Fall. Wie thöricht ist doch der moderne Mensch! Wie oft zersplittert er sich, verbirgt ängstlich alles Gute, das in ihm ist, und wird schließlich zum Clown . . . Sich selbst die Nichtigkeit des Lebens mehr einzureden, als man sie empfindet, wie wunderlich ist das?«

»Lieber Freund,« sagte Polaniecki, »quäle Dich doch nicht immer mit solchen Gedanken, wenigstens jetzt nicht.«

»Du hast recht. Aber darüber nachsinnen muß ich doch, denn so lange ich gesund war, spottete ich über alles, that, als ob mir nichts am Leben läge, – und jetzt vertraue ich Dir unter dem Siegel der Verschwiegenheit an, daß ich noch keine Lust habe zu sterben.«

»Du kannst noch lange leben.«

»Ach, laß nur gut sein. Deine Frau hat es mir zwar eingeredet, – aber ich glaube doch nicht daran – und mir ist gar trübselig zu Mute. – Ich habe mich selbst zu Grunde gerichtet. Mit Dir möchte ich noch manches besprechen . . . Ob meiner eine Abrechnung wartet oder nicht, weiß ich ja nicht . . . Offen sage ich Dir, ich weiß es nicht, und doch empfinde ich eine merkwürdige Unruhe, als ob ich mich vor etwas fürchten müßte . . . Zu Hause, bei meinen Landsleuten, habe ich mich auch gar nicht nützlich gemacht, und ich hätte es so gut thun können! Eine wahre Angst befällt mich bei diesen Gedanken; – ich gebe Dir mein Wort darauf! Merkwürdig, nicht wahr? Ich habe mein Brot umsonst gegessen, und jetzt . . . kommt der Tod! . . . Wenn es eine Strafe giebt und wenn sie meiner harrt, so wäre es dafür . . . ja, mir ist nicht leicht zu Mute.«

Obwohl Bukacki all dies in seinem gewöhnlichen sorglosen Ton äußerte, malte sich doch eine große Unruhe auf seinem Gesichte, und auf seiner Stirn standen Schweißtropfen.

»Was Dir alles in den Sinn kommt! Laß es doch gut sein, Du schadest Dir nur!«

Doch Bukacki fuhr fort: »Ich habe ein ziemlich großes Vermögen, möge es statt meiner arbeiten. Ich vermache Dir einen Teil und den Rest verwende für gemeinnützige Zwecke. Du und Bigiel, Ihr seid praktische Leute . . . Ueberlegt Euch die Sache einmal, denn ich weiß nicht, wieviel Zeit mir noch bleibt. Willst Du?«

»Ich werde thun, was Du wünschest.«

»Ich danke Dir. Wie merkwürdig sind diese Selbstvorwürfe . . . Aber das Bewußtsein einer Schuld kann ich nicht von mir abschütteln. Angenehme Empfindungen sind das nicht . . . Vor dem Tode wenigstens sollte man etwas Tüchtiges leisten . . . Er ist so furchtbar ernst, . . . dunkel wie die Nacht . . . ohne jeden Lichtschimmer . . . Und man muß verwesen, verfaulen. Bist Du eine gläubige Seele?«

»Ja!«

»Und ich kann weder ja noch nein sagen. Wie mit andern Dingen, so habe ich auch mit dem Nirwana gespielt. Weißt Du, ohne dies Schuldbewußtsein wäre ich viel ruhiger. Ich hatte keinen Begriff davon, daß es mir derart zusetzen könne. Mich dünkt, ich sei eine Biene, die die Gemeinheit begangen hat, ihren eigenen Stock zu berauben. – Nun wenigstens hinterlasse ich etwas Vermögen. Einen Teil davon habe ich vergeudet, aber nicht viel – meist für Bilder, die ich Dir auch vermache – ach, wie gern möchte ich jetzt noch leben, ein Jahr wenigstens, oder nur so lange, um nicht hier zu sterben.«

Einen Augenblick blieb er in Sinnen verloren, dann fuhr er fort: »Eins weiß ich jetzt . . . Mag es uns noch so schlecht gehen im Leben, weil wir selbst viele Fehler machen, das Daheim ist doch süß.«

Erst spät in der Nacht verließ ihn Polaniecki.


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