Henryk Sienkiewicz
Die Familie Polaniecki
Henryk Sienkiewicz

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Sechzehntes Kapitel

Am folgenden Tage erbot sich Marynia, bis zur völligen Genesung der Kleinen zu Frau Emilie überzusiedeln, und da Litka diesen Vorschlag unterstützte, mußte Frau Emilie darauf eingehen. Thatsächlich brach sie fast zusammen vor Erschöpfung; der Zustand des kranken Kindes erforderte eine unaufhörliche Wachsamkeit, da jeder Augenblick einen neuen Anfall herbeiführen konnte. Einer Dienerin konnte die Pflege nicht anvertraut werden, denn, mochte sie auch noch so anhänglich sein, wer stand dafür, daß sie nicht gerade in einem Augenblick einschlafen würde, in dem eine rasche Hilfe unbedingt nötig war. Eine ständige Anwesenheit Marynias war daher thatsächlich eine außerordentliche Wohlthat für die gebeugte Mutter.

Was Herrn Plawicki anbetraf, so zog es dieser vor, im Restaurant statt zu Hause zu speisen, folglich machte er keinerlei Schwierigkeiten. Marynia begab sich indessen täglich zu ihm, um sich nach seinem Befinden zu erkundigen und die Haushaltung in Ordnung zu halten, in der übrigen Zeit teilte sie sich mit Frau Emilie in die Wartung des kranken Kindes.

Polaniecki und Marynia sahen sich nun fast täglich, da jener jede Minute, die er sich vom Geschäft freimachen konnte, bei Frau Emilie verbrachte und all die Leute empfing oder vielmehr abwies, die regelmäßig kamen, um sich nach dem Befinden Litkas zu erkundigen.

Nun lernte er Marynia als Pflegerin aufrichtig schätzen und bewundern. Selbst Frau Emilie legte nicht mehr Zärtlichkeit für die Kranke an den Tag und verstand es nicht besser, mit ihr umzugehen. Gar bald zeigte Marynias Gesicht die Spuren des Nachtwachens und der fortwährenden Angst und Sorge. Sie sah bleich und abgespannt aus, tiefe Ringe bildeten sich unter ihren Augen, allein nichtsdestoweniger schien ihre Kraft mit jeder Minute zu wachsen. Bei der Pflege, die sie Litka angedeihen ließ, bewies sie so viel Anmut und Güte, solche Ruhe und Zartheit, daß das Kind trotz des Grolles, den es in seiner Seele gegen Marynia hegte, sie immer lieber gewann und mit fieberhafter Sehnsucht auf ihre Rückkehr harrte, wenn sie sich auf einige Stunden zu ihrem Vater begeben hatte.

Der Zustand der Kleinen besserte sich übrigens täglich. Der Arzt erlaubte ihr, aufrecht zu sitzen, ein wenig im Zimmer hin und her zu gehen oder sich in den Lehnstuhl zu setzen, der an warmen Tagen an die offene Balkonthüre gestellt wurde, so daß sie die Straße überblicken und die vorüberkommenden Leute und Wagen beobachten konnte.

Polaniecki, Frau Emilie und Marynia leisteten ihr dann häufig Gesellschaft. Die Vorgänge auf der Straße gaben reichlichen Stoff zur Unterhaltung. Oftmals schien zwar die Kleine ganz in Gedanken versunken zu sein, allein die kindliche Natur gewann gewöhnlich die Oberhand, und alles unterhielt sie, die herbstlichen Sonnenstrahlen, die auf den Dächern, den Häusern und den Schaufenstern spielten, die geputzten Menschen und die sich heiser schreienden Händlerinnen. Das in dem Getriebe der Großstadt pulsierende, urwüchsige Leben verfehlte nicht, auf die Kleine anregend, erfrischend einzuwirken. Zuweilen gingen ihr aber auch wunderliche Gedanken durch den Kopf, und einmal als ein schwerer Wagen vorüberfuhr, auf dem man in Kübeln gepflanzte Citronenbäume transportierte, die tüchtig gerüttelt wurden, sagte sie:

»Diese Bäume haben kein Herzklopfen. Leben Bäume lange, Herr Stach?« fragte sie hierauf, indem sie ihre Augen erwartungsvoll auf Polaniecki richtete.

»Sehr lange. Manche leben tausend Jahre.«

»Oh dann wünschte ich ein Baum zu sein. Mama was für ein Baum möchtest Du sein?«

»Eine Birke!«

»Dann möchte ich eine kleine Birke sein, und mein Mütterchen könnte eine große sein, und wir würden ganz nahe beisammen wachsen. Möchten Sie auch eine Birke sein, Herr Stach?«

»Wenn ich ganz in der Nähe der kleinen Birke wachsen könnte.«

Allein Litka schüttelte ungläubig das Köpfchen und erklärte: »Oh nein. Ich weiß jetzt alles. Ich weiß, in wessen Nähe Herr Stach wachsen möchte.«

Marynia wurde verlegen. Polaniecki hingegen begann das blonde Köpfchen zu streicheln und murmelte: »Mein geliebtes Mäuschen, mein liebes, liebes Kind!«

Litka lehnte sich mit geschlossenen Augen in ihren Stuhl zurück. Zwei große Thränen stahlen sich unter ihren Lidern hervor und rannen langsam über ihre Wangen. Allein gleich darauf zeigte ihr liebreizendes Gesichtchen wieder ein sonniges Lächeln.

»Ich liebe Mama über alles,« erklärte sie, »und ich liebe Herrn Stach, und ich liebe Marynia.«


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