Henryk Sienkiewicz
Die Familie Polaniecki
Henryk Sienkiewicz

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Neunundfünfzigstes Kapitel

Am Nachmittage begab sich Polaniecki zu Fräulein Helene. Zawilowski trug noch eine schwarze Binde über der Stirn, über deren Mitte ein breites Pflaster lief, das die Wunde bedeckte. Die Worte kamen ihm noch schwer, er schielte noch ein wenig, aber im allgemeinen besserte sich sein Zustand von Tag zu Tag, und der Arzt versicherte, daß auch diese Symptome verschwinden würden.

In dem Augenblick, als Polaniecki eintrat, saß der Kranke am Tisch in dem großen Lehnstuhle, in dem früher der alte Zawilowski stets gesessen war, und hörte mit halb geschlossenen Augen auf die Gedichte, die ihm Fräulein Ratkowski vorlas.

Beim Anblick des Eintretenden legte sie das Buch weg.

»Guten Tag, gnädiges Fräulein,« grüßte Polaniecki. »Wie geht's, Ignaz? – Ich sehe, daß ich Sie beim Vorlesen gestört habe, gnädiges Fräulein. Was lesen Sie denn so eifrig?«

»Die Gedichte von Herrn Zawilowski.«

»Du hörst Deine eigenen Gedichte?« bemerkte Polaniecki lachend. »Nun, wie gefallen sie Dir?«

»Ich höre sie mit einer Empfindung,« erklärte Zawilowski, »als ob sie gar nicht die meinen wären.«

Und nach einer kurzen Pause fuhr er fort, indem er sehr langsam sprach und von Zeit zu Zeit nach den Worten suchte: »Aber ich werde wieder schreiben, nur muß ich erst wieder ganz ich selbst sein.«

Dieser Gedanke beschäftigte ihn offenbar sehr, und Fräulein Ratkowski bemerkte, als ob sie ihm Mut einflößen wollte: »Und ebenso schöne und in ganz kurzer Zeit.«

Er lächelte ihr dankbar zu und schwieg stille. In diesem Augenblick trat Fräulein Helene ein, und Polaniecki die Hand reichend, sagte sie: »Wie froh bin ich, daß Sie kamen. Ich möchte einen Rat von Ihnen haben.«

»Ich stehe zu Ihren Diensten.«

»Bitte, kommen Sie mit mir.« Sie ging mit ihm in ein andres Zimmer, bat ihn, Platz zu nehmen, setzte sich ihm gegenüber, blieb aber dann einige Minuten stille, wie um ihre Gedanken zu sammeln.

Polaniecki bemerkte, da sie gegen das Licht saß, zum erstenmal einige silberne Fäden in ihrem hellen Haare, und dabei war sie doch noch keine dreißig Jahre alt.

»Ich möchte Sie eigentlich nicht um einen Rat bitten,« begann sie endlich, »sondern um einen Beistand bei meinem Verwandten. Ich weiß, daß Sie sein wirklicher Freund sind, und dabei haben Sie mir auch so viel Mitgefühl beim Tode meines Vaters gezeigt, daß ich Ihnen ewig dankbar sein werde. Jetzt will ich daher offener mit Ihnen sprechen, als ich dies je einem andern gegenüber gethan hätte. Aus persönlichen Gründen, die ich nicht berühren will und von denen ich Ihnen bloß sagen kann, daß sie sehr schmerzlicher Art sind, beschloß ich, mir ein neues Leben zu schaffen, ein Leben, das für mich erträglicher sein würde. Ich hätte das schon gern früher gethan, doch so lange mein Vater lebte, war mir dies nicht möglich. Dann kam das Unglück. Ich hielt es für meine Pflicht, mich des letzten Verwandten anzunehmen, der unsern Namen trägt, für den ich eine wahre, herzliche Freundschaft hege; jetzt ist er aber, Gott sei Dank, gerettet. Und da Gott ihm ungewöhnliche Geistesgaben verliehen und ihn zu großen Dingen bestimmt hat, so soll er diese Gaben frei entfalten können.«

Hier hielt sie inne, als ob sie über etwas nachdenke, gleich darauf fuhr sie aber fort:

»Durch seine Genesung ist meine letzte Aufgabe erledigt, und ich darf meine früheren Pläne wieder ins Auge fassen. Ich muß nur noch vorher über das große Vermögen, das mein Vater hinterließ und das für mein zukünftiges Leben nutzlos ist, meine Bestimmungen treffen. Wenn ich es als mein persönliches Eigentum betrachten könnte, würde ich vielleicht teilweise auf eine andere Weise darüber verfügen, da ich jedoch das Vermögen als der Familie gehörig betrachte, so darf ich es nicht für mir genehme Zwecke bestimmen, solange jemand lebt, der zu der Familie gehört und unsern Namen trägt. Ich will Ihnen nicht verhehlen, daß mich auch die Zuneigung zu meinem Vetter beeinflußt, ich glaube jedoch, daß ich vor allem das thue, wozu mich mein Gewissen drängt. Dabei erfülle ich auch den letzten Wunsch meines Vaters, den er nicht mehr niederschreiben konnte, und der darin bestand, Ignaz einen Teil des Vermögens zu sichern. Für mich behalte ich zwar nicht so viel, wie mein Vater mir zudachte, aber jedenfalls mehr, als ich nötig habe. Der Rest soll Ignaz zufallen. Die Schenkungsurkunde ist schon aufgesetzt worden. Ignaz erhält dieses Haus, Jasmien, ein Haus in dem Kutuoschen Bezirk, die Posenschen Güter und alles Kapital mit Ausnahme des Anteiles, den ich mir vorbehalte, und einer gewissen Summe, die ich für Fräulein Ratkowski bestimme. Es handelt sich jetzt darum, Ignaz diese Urkunde zu übermitteln. Ich fragte zwei Aerzte, ob es ihm nicht schaden könne. Beide versicherten mich aber, ich dürfe ruhig mein Vorhaben ausführen, eine gute Nachricht könne nur vorteilhaft auf seine Gesundheit wirken. Das ist mir sehr angenehm, denn ich möchte keine Zeit verlieren.«

Hier lächelte sie resigniert. Polaniecki aber, ihre Hand mit unverhohlener Rührung drückend, fragte: »Mein teueres Fräulein, was haben Sie vor? Ich frage nicht aus Neugierde!«

»Jeder Mensch hat das Recht, sich unter göttlichen Schutz zu stellen,« entgegnete sie, eine direkte Antwort vermeidend. »Was nun Ignaz betrifft, so wird er zwar durch das Geld nicht verdorben werden, aber er ist noch jung und unerfahren. Er beginnt das Leben neu und unter ganz veränderten Bedingungen, und deshalb wollte ich Sie bitten, sich seiner anzunehmen. Sie sind ein edler Mensch und sein Freund. Schützen Sie ihn vor schlechten Menschen, vor allem aber bewahren Sie den Dichter in ihm, halten Sie die Liebe zur Arbeit in ihm wach. Mir ist es nicht bloß um die Rettung seines Lebens zu thun, sondern auch um die seiner reichen Geistesgaben. Er soll schreiben, er soll der Menschheit das leisten, was manche unterließen, die Gott zum Ruhme und zum Nutzen der Menschen schuf, und die sich und ihre Talente zu Grunde gerichtet haben.«

Ihre Lippen wurden plötzlich schneeweiß, sie ballte krampfhaft die Hände, die Stimme versagte ihr. Es war, als ob die lang zurückgehaltene Verzweiflung mit einem Schlage alle Schranken durchbreche. Bald jedoch fand sie ihre Selbstbeherrschung wieder, und bloß die geballten Hände zeugten dafür, welche Anstrengung ihr das kostete.

Polaniecki, ihre Seelenqual bemerkend, hielt es für das Ratsamste, ihre Gedanken auf etwas anderes zu bringen, und sagte daher: »Das wird in der That eine große Veränderung in Ignaz' Leben hervorbringen, aber auch ich hoffe, daß es zu seinem Besten sein wird. Wäre es aber nicht besser, gnädiges Fräulein, wenn Sie diese Schenkung auf ein oder wenigstens auf ein halbes Jahr hinausschieben würden?«

»Weshalb denn?«

»Ich weiß nicht, ob Sie schon erfuhren, daß die Verlobung Fräulein Castellis mit Kopowski gelöst wurde und daß infolgedessen die Lage jener Damen eine ungemein peinliche ist. Bei dem Bruche mit Ignaz war die öffentliche Meinung schon gegen sie, und jetzt sind ihre Namen wieder in aller Mund. Es wäre für sie eine Rettung, wenn sie sich mit Ignaz aussöhnen könnten, und daß sie dies sicher versuchen werden, wenn sie von Ihrer Schenkung hören, das unterliegt keinem Zweifel. Meiner Ansicht nach würde aber Ignaz nach so kurzer Zeit und von seiner Krankheit geschwächt nicht lange widerstehen können.«

Fräulein Helene hörte mit zusammengezogenen Brauen auf Polanieckis Worte, nachdem sie jedoch einen Augenblick das Gehörte überlegt hatte, entgegnete sie: »Da stimme ich nicht mit Ihnen überein; ich glaube, Ignaz hat schon anders gewählt.«

»Ich errate Ihren Ideengang, aber bedenken Sie, er hing mit solch maßloser Liebe an jenem Mädchen, daß er ihren Verlust nicht überleben wollte.«

In diesem Augenblick geschah etwas, was Polaniecki nicht erwartet hatte; Fräulein Helene sprang auf, streckte ihre hageren Arme empor und rief:

»Nun, und wenn dem so wäre . . . Wenn es für ihn kein andres Glück gäbe . . . Ach, mein lieber Freund, ich weiß, daß er das nicht thun dürfte, allein es giebt Verhältnisse, die stärker sind als der Mensch, und es giebt Dinge, die unbedingt nötig sind, um das Leben wünschenswert zu machen. Und zudem . . .«

Polaniecki blickte voll Verwunderung auf die Sprechende, diese jedoch fuhr nach kurzer Pause fort:

»Zudem kann jeder Mensch sich bessern, so lange er lebt.«

»Ich ahnte nicht, daß ich etwas Aehnliches von ihr hören würde,« dachte Polaniecki, laut aber sagte er: »Wenn Sie die Sache so auffassen, wollen wir zu Ignaz gehen.«

Zawilowski nahm die Nachricht zuerst mit Staunen und dann mit einer gewissen Freude auf, jedoch schien es bloß eine äußerliche Freude zu sein. Man hätte glauben können, er sehe mit Hilfe des Verstandes ein, welches Glück ihm zugefallen war, er sage sich, er müsse sich darüber freuen, allein sein Herz blieb unbeteiligt dabei. Dies Herz kam erst zum Vorschein, als er mit der größten Anteilnahme und Bekümmernis Fräulein Helene ausfrug, was sie zu thun beabsichtige. Sie antwortete ausweichend und erwähnte nur im allgemeinen, sie werde sich von der Welt zurückziehen, ihr Entschluß stehe schon lange fest; dagegen beschwor sie ihn, seine Fähigkeiten nicht brachliegen zu lassen, die Hoffnungen nicht zu täuschen, die sie, die seine Freunde auf ihn setzten. Sie sprach wie eine Mutter mit ihm, und er küßte ihre Hände und wiederholte mit Thränen in den Augen immerfort:

»Ich werde wieder schreiben, sobald ich wieder ich selbst bin.«

Fräulein Helene teilte ihm mit, sie betrachte sich von jetzt an in diesem Hause als Gast und gedenke noch höchstens zwei Tage zu bleiben.

Zawilowski wollte aber nichts davon hören, sondern bat so lange, bis sie, um ihn nicht aufzuregen, versprach, noch acht Tage zuzugeben. Dadurch beruhigt, benahm er sich jetzt so ausgelassen wie ein kleiner Junge, der seinen Willen durchgesetzt hat.

Gegen Abend wurde er jedoch mit einem Male nachdenklich, ergriff das auf dem Tisch liegende Buch, betrachtete es aufmerksam und sagte schließlich:

»Ich werde wieder schreiben, sobald ich wieder ich selbst bin.«

Für Polaniecki wurde es jetzt Zeit, sich zu verabschieden. Noch am gleichen Abend kehrte Fräulein Ratkowski in ihre frühere Wohnung bei Frau Mielnicki zurück.


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