Henryk Sienkiewicz
Die Familie Polaniecki
Henryk Sienkiewicz

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Sechzigstes Kapitel

Die Trennung der Osnowskis, die in dem gesellschaftlichen Leben eine ziemlich hervorragende Stellung eingenommen hatten, und das große Vermögen, das Zawilowski so plötzlich zugefallen war, bildeten das Tagesgespräch in der ganzen Stadt. Die Leute, die geglaubt hatten, Fräulein Helene habe den jungen Verwandten zu sich genommen, um ihn zu heiraten, konnten sich kaum von ihrem Staunen erholen. Die merkwürdigsten Vermutungen wurden laut. Man munkelte, Zawilowski sei der Sohn des alten Krösus gewesen, er habe der Schwester mit einem Prozeß wegen des Testamentes gedroht, und diese habe es vorgezogen, auf alles zu verzichten, statt sich auf einen Skandalprozeß einzulassen. Manche behaupteten auch, die Sache sei durch Fräulein Ratkowski veranlaßt worden. Zwischen den Damen hätten unerhörte und empörende Auftritte stattgefunden, infolge deren die angesehenen Familien Fräulein Ratkowski nicht mehr empfingen. Andere wieder gaben zu verstehen, daß sie selbst in einem solchen Falle ganz anders gehandelt hätten und das große Vermögen jedenfalls zu gemeinnützigen Zwecken verwendet haben würden, mit einem Worte, es blieb nichts unerörtert, was Klatschsucht und Bosheit in ihren Bereich zerren können. Bald jedoch wurden die Gemüter durch ein neues Ereignis in Aufregung versetzt. Es verbreitete sich die Nachricht von einem Duell zwischen Osnowski und Kopowski, wobei ersterer verwundet worden sei. Letzterer kehrte auch bald in die Stadt zurück mit dem Ruhme eines Helden, der sowohl in Liebesgeschichten, wie im Waffengange außergewöhnliche Abenteuer bestanden hatte.

Osnowski, der in der That eine leichte Verwundung davongetragen hatte, ließ sich in Brüssel behandeln. Swirski erhielt kurz nach dem Duell einige Zeilen von ihm mit der Meldung, daß er sich ganz wohl fühle und Mitte des Winters nach Aegypten zu gehen beabsichtige, jedenfalls aber vorher noch nach Przytulow zurückkehren werde. Mit dieser Neuigkeit kam der Maler zu Polaniecki und sprach ihm die Befürchtung aus, daß Osnowskis Rückkehr möglicherweise eine neue Forderung Kopowskis bezwecke.

»Ich bin fest überzeugt,« bemerkte Swirski, »daß er nur deshalb verwundet worden ist, weil er es darauf ablegte, denn er suchte den Tod. Ich weiß, wie er schießt. Vor meinen Augen hat er einmal ein Zündhölzchen herabgeschossen, und ich bin überzeugt, Kopowski würde nicht mehr unter den Lebenden wandeln, wenn er ihn hätte toten wollen.«

»Das ist möglich,« erwiderte Polaniecki, »aber wenn er von einer Reise nach Aegypten spricht, hat er wohl kaum die Absicht, sich töten zu lassen. Im Gegenteil, mag er doch reisen und unsern Zawilowski mitnehmen.«

»Ja, das wäre gut. Zawilowski sollte sich die Welt auch ein bißchen ansehen. Ich will ihn jetzt aufsuchen. Wie befindet er sich denn?«

»Ich habe ihn heute noch nicht gesehen und werde Sie daher begleiten. All diese Tage her befand er sich ganz gut, aber es ist doch eine merkwürdige Veränderung mit ihm vorgegangen. Früher war er eine stolze, verschlossene Natur, jetzt ist er wie ein kleines Kind. Bei der kleinsten Unannehmlichkeit kommen ihm die Thränen.«

Einige Minuten darauf befanden sich die beiden unterwegs. »Ist Fräulein Helene noch immer bei Zawilowski?« fragte Swirski nach kurzem Schweigen.

»Ja. Er nahm sich ihre Absicht abzureisen so zu Herzen, daß es ihr leid that. Sie wollte im Anfange nur eine Woche zugeben, und nun ist schon die zweite verstrichen.«

»Was will sie denn eigentlich beginnen?«

»Sie spricht sich keinem gegenüber aus. Meiner Ansicht nach will sie in irgend einen Orden eintreten und dann ihr Lebenlang für Ploszowski beten.«

»Und Fräulein Ratkowski?«

»Sie ist wieder bei Frau Mielnicki.«

»Sehnte sich Zawilowski sehr nach ihr?«

»Die ersten Tage wohl, dann aber sprach er gar nicht mehr von ihr.«

»Wenn er sie binnen Jahresfrist nicht heiratet, mache ich ihr nochmals einen Antrag. Das ist eines der Mädchen, das sicherlich mit der Zeit den lieben wird, dessen Frau es geworden ist.«

»So viel ich weiß, wünscht Fräulein Helene, daß er die Ratkowski heiratet. Wie das alles wohl enden wird?«

»Wie dies enden wird? Ich bin überzeugt, er heiratet sie, und meine Pläne sind wieder zu nichte gemacht. Dann aber heirate ich nie!«

»Von meiner Frau hörte ich schon von einem solchen Entschlusse Ihrerseits sprechen. Aber sie lachte über Ihre Einbildung.«

»Das ist durchaus keine Einbildung. Ich habe einfach kein Glück!« erklärte Swirski. »Ach, da ist Frau Maszko,« fügte er hinzu, als eine Equipage mit Frau Kraslawski und Frau Maszko in der Richtung der Anlagen an ihnen vorbeifuhr.

Das Wetter war schön, aber kühl, und Frau Maszko schien so damit beschäftigt, ihre Mutter in einen Shawl zu hüllen, daß sie den Gruß der beiden Herren gar nicht bemerkte und somit auch nicht erwiderte.

»Vorgestern stattete ich den Damen einen Besuch ab,« ergriff Swirski nach kurzem Schweigen wieder das Wort, »Frau Maszko ist doch eine sehr gute Frau.«

»Sie ist jedenfalls eine sehr gute Tochter,« bemerkte Polaniecki.

»Davon habe ich mich während meines Besuches überzeugt; aber wie dies einem alten Skeptiker so häufig geht, schoß mir der Gedanke durch den Kopf, sie spiele die Rolle einer guten Tochter. Sie haben gewiß schon beobachtet, daß Frauen oftmals deshalb etwas Gutes thun, weil sie glauben, hübsch dabei auszusehen.«

Mittlerweile waren die beiden Herren an ihrem Bestimmungsort angekommen. Zawilowski empfing sie mit großer Freude, und als er hörte, daß Swirski nach Italien zu reisen beabsichtige, bat er eifrig, sich ihm anschließen zu dürfen.

»Aha,« dachte der Maler, der Bitte sofort willfahrend, »dann steckt Dir Fräulein Ratkowski doch nicht im Kopfe.«

»Aber,« sagte er, »ich kann jetzt nicht lange dort bleiben, denn ich habe hier einige Porträts zu malen und außerdem versprach ich Herrn Polaniecki zur Taufe zurück zu sein. Nun,« wandte er sich hierauf zu letzterem, »was soll es werden, die Taufe eines Sohnes oder einer Tochter?«

»Es ist mir ganz einerlei,« erwiderte Polaniecki, »wenn nur alles gut abläuft.«

Da nun Zawilowski und Swirski ihren Reiseplan berieten, verabschiedete er sich und ging aufs Bureau. Er hatte die ganze Korrespondenz vom Tage zuvor durchzusehen, schloß sich daher in sein Privatkabinett ein, las alle Briefe durch und notierte sich die, welche einer sofortigen Erledigung bedurften. Nach einiger Zeit störte ihn jedoch ein erst seit kurzem engagierter Diener, der ihm meldete, eine Dame wünsche dringend, ihn zu sprechen.

Polaniecki erschrak. Ohne zu wissen warum, kam ihm die Idee, es könne niemand anders als Frau Maszko sein, und in der Erwartung peinlicher Auseinandersetzungen und aufregender Scenen überfiel ihn heftiges Herzklopfen.

Wie angenehm überrascht war er aber, als er Plötzlich Marynia vor sich sah.

»Nun,« rief sie, »was sagst Du – habe ich Dir nicht eine Ueberraschung bereitet?«

Polaniecki sprang mit dem Gefühle der Erleichterung empor, und, ihre Hände ergreifend, führte er sie abwechselnd an die Lippen.

»Meine liebe Marynia,« sagte er, »das ist wirklich eine Ueberraschung! Was brachte Dich auf den Gedanken, hierher zu kommen?«

Mit diesen Worten holte er ihr einen Fauteuil herbei und bat sie, Platz zu nehmen. Sein strahlendes Gesicht bewies übrigens am beredtesten, welche Freude ihm ihre Gegenwart bereitete.

»Ich habe Dir etwas Merkwürdiges mitzuteilen,« sagte Marynia, »und da ich ohnedies Verschiedenes zu besorgen hatte, habe ich Dich gleich überfallen. Wer glaubtest Du, daß es sei? Beichte mir sofort.«

So sprechend drohte sie ihm lächelnd mit dem Finger, und er erwiderte: »Was soll ich Dir beichten? In einem Geschäfte sprechen die verschiedensten Personen vor. Dich habe ich aber am wenigsten erwartet. Was willst Du mir sagen?«

»Lies einmal diesen Brief, den ich erhalten habe.«

Voll Spannung ergriff er das Schreiben und las folgendes:

»Meine liebe, teure Frau Polaniecki! Es wird Sie wohl im ersten Momente überraschen, daß ich mich an Sie wende, aber Sie, die Sie ja bald Mutter werden, können es gewiß verstehen, was im Herzen einer Mutter vorgeht (wenn sie auch nur eine Tante ist), die das Unglück ihres Kindes sieht. Glauben Sie mir, es handelt sich für mich um nichts anders als um eine, wenn auch nur zeitweise Linderung des Schmerzes meines unglücklichen Kindes, weil ich an all dem, was geschehen, die Hauptschuld trage. Vielleicht werden Sie auch über diese Worte staunen, aber dem ist so. Ich trage die Hauptschuld, denn ich durfte, weil ein schlechter, verderbter Mensch den Moment benutzte, in dem Lineta von einem Unwohlsein befallen wurde, um sie mit seinen unwürdigen Lippen zu berühren, nicht den Kopf verlieren. Mitschuldig ist freilich auch Jozio Osnowski, der aus der Heiratsfrage eine Kabinettsfrage machte und wohl auf solche Weise Kopowski los werden wollte. Gott möge ihm verzeihen, daß er sich auf Kosten fremden Glückes zu schützen suchte. Ach, liebe Frau Polaniecki, ich hielt auch im ersten Augenblick die Heirat mit jenem Nichtswürdigen für den einzigen Ausweg, da Lineta nicht mehr das Recht hatte, Ignaz' Frau zu werden. Ich schrieb ihm sogar mit Absicht, sie folge ihrer Herzensstimme, wenn sie jenem ihre Hand reiche, denn ich dachte, daß daraufhin Ignaz ihren Verlust leichter überwinden werde, und ich wollte seinen Schmerz lindern . . . Lineta und Kopowski! Gott der Barmherzige ließ es nicht dazu kommen. Lineta hat das Vertrauen zu den Menschen und zum Leben verloren. Sie weiß nicht einmal, daß ich diesen Brief schreibe. Wenn Sie, meine Liebe, es sehen würden, wie sie das alles mit ihrer Gesundheit bezahlen mußte und wie schrecklich sie von der That des Herrn Zawilowski mitgenommen wurde, würden Sie Mitleid mit ihr haben. Er hätte das nicht thun dürfen, wenn auch nur aus Rücksicht für das arme Kind, aber ach, die Männer denken in solchen Fällen nur an sich. Sie ist doch an all dem so unschuldig wie ein neugebornes Kind, und ich kann es nicht mit ansehen, wie sie immer mehr dahinschwindet und wie sie sich grämt, weil sie die unschuldige Urheberin seines Unglücks wurde und weil sie sein Leben verdorben hat. Gestern hat sie mich mit Thränen in den Augen gebeten, ich möchte doch im Falle ihres Todes Mutterstelle an Ignaz vertreten und mich seiner wie eines Sohnes annehmen. Jeden Tag jammert sie darüber, er werde ihr wohl fluchen, und mir bricht das Herz, denn der Arzt sagte, er könne für nichts stehen, wenn dieser Zustand noch länger andauere. Gott ist barmherzig, aber erbarmen auch Sie sich einer gramgebeugten Mutter. Lassen Sie mir von Zeit zu Zeit Nachricht über Ignaz zukommen; schreiben Sie mir, ich bitte Sie darum, er sei gesund, ruhig, er habe das Erlebte vergessen und fluche ihr nicht – damit ich ihr den Brief zeigen und ihr ein wenig Linderung verschaffen kann. Ich fühle, daß ich nur bei halbem Verstande bin, während ich dieses Schreiben verfasse, aber Sie verstehen, was in mir vorgeht. Ich werde täglich beten, daß Eure Tochter, wenn Euch der Himmel eine Tochter schenken sollte, glücklicher werde als meine Lineta.«

»Nun, was denkst Du davon?« fragte Marynia.

»Ich glaube erstens,« antwortete Polaniecki, »daß die Kunde über das veränderte Geschick Zawilowskis zu ihnen gedrungen ist, und zweitens ist meiner Ansicht nach dieser Brief zwar an Deine Adresse gerichtet, in Wirklichkeit aber für Ignaz bestimmt.«

»Das ist möglich. Dieser Brief macht nicht den Eindruck der Aufrichtigkeit. Aber sie können trotzdem sehr unglücklich sein.«

»Froh wird es ihnen wohl nicht zu Mute sein. Osnowski hatte recht, als er schrieb, für Frau Bronicz sei dies alles ein schwerer Schlag gewesen. Und weißt Du auch, was mir Swirski über Fräulein Castelli sagte? Er bemerkte sehr zutreffend, nach all dem, was vorgegangen sei, werde sich nur ein Dummkopf oder ein Mensch ohne jeglichen moralischen Wert dazu entschließen können, sie zu heiraten. Das sehen sie wohl selbst ein, und das wird sie bedrücken. Es ist auch möglich, daß sich das Gewissen bei ihnen regt, aber es ist doch merkwürdig, wieviel Schlauheit aus diesem Briefe spricht. Zeige ihn ja nicht Ignaz!«

»Nein, selbstverständlich nicht,« erwiderte Marynia, die ganz auf seiten Fräulein Ratkowskis stand.

Polaniecki aber, den Gedanken, die ihn seit lange beschäftigten, Worte verleihend, bemerkte: »Es existiert eine gewisse Logik, kraft derer das Böse seine Strafe erhält; jene ernten daher nur, was sie gesät haben. Das Böse gleicht einer Welle; sie bricht sich am Ufer, erneuert sich aber immer wieder.«

Marynia zeichnete sinnend mit dem Schirm Figuren auf den Fußboden, dann hob sie ihre kindesreinen Augen zu ihrem Gatten empor und sagte: »Es ist ja wahr, mein lieber Stach, daß das Böse wieder Böses hervorbringt; wenn sich aber der Sünder in Trauer und Gram verzehrt, begnügt sich der liebe Gott mit der Sühne und straft nicht.«

Selbst wenn Marynia gewußt hätte, was ihm fehlte, und sich bemüht haben würde, seinen Schmerz zu lindern und ihm Mut einzuflößen, hätte sie ihm nichts Besseres sagen können als diese wenigen, einfachen Worte. Polaniecki lebte seit einiger Zeit in der beständigen Furcht, es werde ihn ein Unglück treffen. Wie Balsam war ihm daher ihr Ausspruch, daß der Sünder Vergebung erlangen könne. Wie hatte er sich gegrämt! Niemals war er frei von Kummer gewesen! Und doch fühlte er, daß, wenn dies eine Sühne sein könnte, er sofort noch doppelt soviel Kummer und Gram auf sich genommen haben würde. Jetzt drängte es ihn, diese edeldenkende und reine Frau, die ihm so viel Gutes gab, in die Arme zu schließen, aber er unterließ es aus einer gewissen Unsicherheit, die er jetzt stets ihr gegenüber fühlte. So führte er jetzt nur ihre Hand an die Lippen und sagte: »Du hast recht und bist engelsgut.«

Hocherfreut über dieses Lob, lächelte ihm Marynia zu und schickte sich zum Gehen an.

Nachdem sie weggegangen war, trat Polaniecki ans Fenster und folgte ihr mit den Blicken, wie sie sich langsamen Schrittes entfernte. In diesem Augenblicke fühlte er mit größerer Macht als je zuvor, daß sie für ihn das teuerste Wesen auf der Welt war, daß er nur sie liebte und sie bis zu seinem Tode lieben werde.


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