Henryk Sienkiewicz
Die Familie Polaniecki
Henryk Sienkiewicz

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Sechstes Kapitel

Eine Woche später reiste er auch wirklich dorthin. Vor seiner Abreise erhielt er noch einen Brief von Frau Emilie, in dem sie ihn um Nachricht über seinen Aufenthalt in Krzemien bat, den er aber nicht mehr beantwortete, da er ihr alles mündlich auseinanderzusetzen gedachte. Am letzten Abend vor seinem Weggehen erfuhr er auch, daß sich Maszko tags zuvor nach Krzemien begeben habe, und diese Kunde beschäftigte ihn weit mehr, als er erwartet hatte. Er wiederholte sich zwar beständig, daß er all dies sicherlich schon in Wien vergessen haben werde, allein er irrte sich darin; die Ungewißheit darüber, ob Fräulein Plawicki sich für Maszko zu entscheiden vermöge, peinigte ihn ungemein. Rasch entschlossen schrieb er in Salzburg an Bigiel und bat diesen zum Schein um Auskunft über verschiedene Geschäftsangelegenheiten, in Wirklichkeit war es ihm aber nur darum zu thun, Näheres über Maszko zu hören. Den Erörterungen seines Reisegefährten Waskowski über das wechselseitige Verhältnis der verschiedenen Nationalitäten in Oesterreich und über die Aufgaben der modernen Völker im allgemeinen schenkte er nur geringe Aufmerksamkeit. Auf manche Fragen antwortete er überhaupt nicht, so sehr waren seine Gedanken von Marynia erfüllt.

Er sah ihr liebliches hübsches Gesicht vor sich, er sah ihre sanften Augen, ihre schlanke geschmeidige Gestalt, von der eine jungfräuliche Jugendfrische ausging. Deutlich erinnerte er sich ihres hellen Gewandes, ihrer kleinen Füße, der zarten, ein wenig von der Sonne verbrannten Hände und des dunklen Haares. Niemals hätte er gedacht, daß ein Mädchen, das er nur kurze Zeit gesehen, so lebendig in seiner Erinnerung existieren könne. Daraus erweise es sich am besten, so urteilte er, welch tiefen Eindruck sie auf ihn gemacht habe, und als er sich vergegenwärtigte, daß all das, was sich so lebhaft in seinem Gedächtnis wiederspiegelte, in den Besitz Maszkos kommen könnte, wollte er dem nicht Wort wissen. Seine erste Regung war, daß er dies verhindern müsse. Gleich darauf machte er sich aber auch wieder klar, wie wenig ihm ein solches Recht zustehe, da er erklärt hatte, auf Fräulein Plawicki verzichten zu wollen.

Polaniecki und Waskowski kamen frühzeitig am Morgen in Reichenhall an. Sie erkundigten sich selbstverständlich sofort nach der Wohnung von Frau Emilie, trafen aber bald darauf mit dieser selbst und Litka im Stadtparke zusammen. Frau Chwastowski, die Polaniecki nicht erwartet hatte, freute sich ungemein. Ihre Freude wurde jedoch getrübt. Litka, ihr Kind, welches asthmatisch und herzleidend war, regte sich über das Wiedersehen dermaßen auf, daß es heftiges Herzklopfen mit Atemnot bekam und nahezu ohnmächtig wurde.

Der Anfall ging jedoch rascher als gewöhnlich vorüber. Helle Heiterkeit strahlte aus dem Gesichtchen der Kleinen, und auf dem Wege nach Hause, während dessen Litka die Hand des Herrn StachVerkleinerungsform für Stanislaus. nicht losließ, schauten ihre sonst so düstern Augen freudig in die Welt. Von Zeit zu Zeit drückte sie seine Hand, als ob sie sich immer wieder versichern wolle, daß er bei ihr sei. Polaniecki fand keine Zeit, sich mit Frau Emilie auszusprechen, denn Litka, voll Stolz ihm Reichenhall zeigen zu können, schwatzte unaufhörlich und wurde nicht müde, ihn auf all das Schöne in der Stadt aufmerksam zu machen. Schließlich meinte sie: »Das ist übrigens noch gar nichts. Der Thumsee ist das Allerschönste. Dahin gehen wir morgen.« Und sich an ihre Mutter wendend, fügte sie hinzu: »Du erlaubst es doch, Mama, nicht wahr: ich kann jetzt sehr weit gehen, und das ist nicht einmal weit.« Ohne Polanieckis Hand freizugeben, stellte sie sich einen Augenblick vor ihn hin, schaute ihn prüfend an und wiederholte im herzlichsten Tone:

»Herr Stanislaw, Herr Stanislaw!«

Mit der rührenden Zärtlichkeit eines ältern Bruders flüsterte er ihr dann zu: »Mein Herzchen darf nicht so schnell gehen, sonst bekommt es abermals Atemnot.«

Da verzog Litka das Mündchen, als ob sie böse wäre, und rief: »Still, Herr Stach, still!«

Polaniecki schaute zwar Frau Emilie immer wieder bedeutungsvoll an, um ihr zu verstehen zu geben, daß er mit ihr zu reden wünsche, aber er erreichte anfänglich seinen Zweck nicht. Frau Emilie wollte die Fröhlichkeit Litkas nicht stören und überließ ihr daher den gemeinschaftlichen Freund. Erst als das Mittagessen, das im Grünen bei dem Gezwitscher der Vögel eingenommen wurde, zu Ende war und Waskowski dem Kinde von allerlei Vögeln und von der Vorliebe erzählte, die der heilige Franz von Assisi für diese Tiere gehabt, richtete Polaniecki an Frau Emilie die Bitte, mit ihm einen Gang durch den Garten zu machen.

»Gern,« antwortete sie. »Litka, bleibe einige Minuten mit Herrn Waskowski hier, wir kommen gleich zurück. – Nun, was haben Sie mir zu sagen?« wendete sie sich an Polaniecki, nachdem sie sich einige Schritte von dem Tische entfernt hatten.

Polaniecki begann zu erzählen, aber sei es, daß er sich Frau Emilie gegenüber in einem bessern Lichte zeigen wollte, sei es, daß er deren mimosenhafter Natur Rechnung trug, sei es endlich, daß der Gedanke an Marynia ihn weicher als gewöhnlich stimmte, genug, er stellte die Sache ganz anders dar, als sie in Wirklichkeit war. Er bekannte zwar seinen Streit mit Plawicki, allein er verschwieg, wie rücksichtslos er gegen Marynia aufgetreten war, lobte diese über die Maßen und schloß seinen Bericht mit den Worten: »Diese Schuld wäre fortwährend ein Gegenstand des Haders zwischen Herrn Plawicki und mir gewesen. Auf Fräulein Marynia hätte dies Verhältnis sicherlich unangenehm gewirkt. Ich nahm mir daher vor, meine Forderungen an einen Dritten abzutreten, und gerade vor meiner Abreise hierher cedierte ich meine Hypothek an Maszko.«

»Daran thaten Sie wohl. Zwischen Euch dürfen keine Geldgeschäfte stehen,« bemerkte Frau Emilie.

Aber Polaniecki schämte sich in diesem Augenblicke vor sich selbst, daß er eine solch naive Seele hinters Licht führen wollte, und rief: »Nein ich habe ganz schlecht gehandelt. Bigiel ist auch der Ansicht, daß dies nicht recht von mir gewesen ist. Maszko kann sie bedrängen, kann Krzemien unter den Hammer bringen. Nein, meine Gnädige, mein Verhalten ist nicht zu rechtfertigen und wird jeden Versuch einer Annäherung vereiteln. Niemals hätte ich in einer solchen Weise gehandelt, wenn ich nicht von der Ueberzeugung ausgegangen wäre, daß ich mir die ganze Angelegenheit ein für allemal aus dem Kopfe schlagen müsse.«

»Ach, durchaus nicht! Wie mögen Sie nur so reden! Ich glaube fast an eine Bestimmung, und ich bin überzeugt, daß die Vorsehung Euch für einander bestimmte.«

»Das begreife ich nicht. Wenn dem so wäre, hätte ich ja gar nicht nötig, auf irgend etwas bedacht zu sein. Fräulein Plawicki und ich, wir müßten unter jeder Bedingung ein Paar werden.«

»Ich habe eben den Verstand einer Frau und behaupte vielleicht etwas Unhaltbares, aber mir scheint, daß die Vorsehung alles so einrichtet, wie es am besten ist. Dies einzusehen, bleibt aber dem Menschen überlassen, der oftmals in seiner Blindheit das von sich weist, was ihm beschieden ist, und deshalb tief unglücklich wird.«

»Wohl möglich! Es ist übrigens immer eine schwierige Aufgabe, gegen die eigene Ueberzeugung zu handeln. Der Verstand ist doch auch eine Gabe, die uns von Gott verliehen ward. Wer bürgt mir zudem dafür, daß Fräulein Marynia mich heiraten würde!«

»Zu meinem großen Staunen habe ich seit Ihrem Besuch in Krzemien noch keine Nachricht von ihr erhalten. Da wir nun aber jede Woche einmal schreiben, muß morgen ein Brief eintreffen. Weiß Marynia, daß Sie hier in Reichenhall sind?«

»Nein. Als ich in Krzemien war, wußte ich selbst noch nicht, wohin ich gehen werde.«

»Das ist gut. Nun wird sich Marynia gewiß ganz aufrichtig äußern. Sie ist überhaupt eine durchaus aufrichtige Natur.«

Der erste Tag verlief den Freunden auf das angenehmste. Ehe man am Abend voneinander schied, wurde für den folgenden Tag, der Bitte Litkas gemäß, ein Ausflug an den Thumsee verabredet. Waskowski und Polaniecki stellten sich schon gegen neun Uhr in der Frühe vor der Villa ein, in der Frau Emilie mit Litka wohnte. Letztere saßen bereits, zu dem Ausflug gerüstet, auf der Veranda und sahen so reizend aus, daß es sogar Waskowski auffiel.

Mutter und Tochter bildeten den Gegenstand der Bewunderung für ganz Reichenhall. Jene mit ihrem engelhaften, vergeistigten Antlitz konnte als die Verkörperung der höchsten Mutterliebe gelten, diese mit den großen, düsterblickenden Augen, dem blonden Goldhaar und dem zarten Gesichtchen machte weit eher den Eindruck eines künstlerischen Gebildes, als eines lebenden Wesens. Der Dekadent Bukacki nannte sie einmal ein aus Nebel gewebtes, kaum von der Morgenröte berührtes Geschöpf. Ihre Krankheit und ihre daraus entspringende Empfindsamkeit erhöhten noch das Ueberirdische ihrer Erscheinung. In ihrer fast blinden Liebe schlug die Mutter dem Kinde keine Bitte ab, dessen gutangelegte Natur schützte es aber vor übergroßer Verwöhnung.

Polaniecki war den beiden aufrichtig zugethan. In Warschau pflegte er sie einigemale in der Woche zu besuchen, gab aber damit in einer Stadt, in welcher der Ruf einer Frau weniger geschont wird, als irgendwo sonst in der Welt, Anlaß zu allerlei Klatschereien.

Frau Chwastowski war im wahrsten Sinn des Wortes rein wie ein Kind und schien nichts von all dem Schlimmen zu ahnen, was um sie her vorging, ja, sie war sogar von einer solch kindlichen Unbefangenheit, daß sie nicht einmal die Notwendigkeit einsah, den Schein zu wahren. Wen Litka liebte, den empfing sie freudig in ihrem Hause. Mehrere Bewerber hatte sie abgewiesen und ihnen kein Hehl daraus gemacht, daß sie außer ihrer Tochter nichts weiter in der Welt bedürfe. Schließlich ließ man sie in Frieden: Polaniecki hatte sich in den Ideengang dieser Frau so vollständig eingelebt, daß er sie stets nur mit den Augen eines Freundes betrachtete, daß der Gedanke an sie noch niemals durch die kleinste Versuchung getrübt worden war. So bemerkte er auch jetzt nach einem Ausruf Waskowskis:

»In der That, beide sehen märchenhaft schön aus.«

Als er Frau Emilie begrüßte, sagte er ihr ähnliche Worte, aber in einer Weise, als ob er gar nichts anderes sagen könne.

Die Freundin lächelte zufrieden, galt doch das Lob auch Litka, und ihr Kleid ein wenig vom Wege aufnehmend, bemerkte sie:

»Ich bekam heute früh einen Brief und nahm ihn für Sie mit.«

»Erlauben Sie, daß ich ihn lese?«

»Gewiß, hier ist er.«

Sie waren mittlerweile auf den nach dem Thumsee führenden Waldweg gelangt. Frau Emilie, Waskowski und Litka gingen voran, Polaniecki folgte ihnen langsam nach, ganz in die Lektüre des Briefes versunken, der folgendermaßen lautete:

»Meine liebe Emilie! Heute erhielt ich Dein liebes Schreiben, und ich beeile mich, Deine Fragen sofort zu beantworten, drängt es mich doch, meine Gedanken mit Dir auszutauschen. Herr Polaniecki reiste Montag, also nach zwei Tagen ab. Bei seiner Ankunft empfing ich ihn sehr freundlich, wie ich alle unsere Gäste empfange, ohne etwas dabei zu denken. Am andern Tage, es war Sonntag, und ich hatte freie Zeit, verbrachten wir fast den ganzen Nachmittag miteinander, weil Papa zu Jamiszs ging. Was soll ich Dir von unserm Zusammensein erzählen: Welch ein sympathischer, herzlicher und aufrichtiger Mensch ist er! Aus der Art, wie er von Dir, wie er von Litka spricht, entnahm ich sogleich, daß er ein gutes Herz besitzt. Wir wandelten lange im Garten umher, und als er am Teich den alten Kahn ins Wasser ziehen wollte, verletzte er sich an der Hand, so daß ich ihm die Wunde verbinden mußte. Ich habe mich ausgezeichnet mit ihm unterhalten. Er redete so interessant, daß ich förmlich an seinem Munde hing. Ach, meine liebe Emilie, ich schäme mich, es zu bekennen, aber mein armer Kopf schmerzte mich an diesem Abend. Du weißt doch, wie einsam ich hier lebe, wie sehr ich mit Arbeit überhäuft bin und wie selten ich mit interessanten Menschen zusammenkomme. Mich dünkte, es sei ein Fremdling aus einer andern, schöneren Welt erschienen. Er gefiel mir nicht nur ungemein, sondern er nahm mich durch seine Herzlichkeit in einer Weise gefangen, daß ich nicht einschlafen konnte, daß ich fortwährend an ihn dachte. Am andern Tage geriet er mit Papa in heftigen Streit und auch ich bekam einen Teil ab. Gott weiß, wie viel ich darum geben würde, wenn diese schlimme Geschichte glücklich beigelegt wäre. Im ersten Moment war ich schwer bekümmert, und wenn dieser abscheuliche Mensch wüßte, wie viele Thränen ich schon seinetwegen vergossen habe, müßte er Mitleid für mich empfinden. Nach und nach machte ich mir aber klar, daß Herr Polaniecki zwar sehr heftig sei, daß aber Papa auch nicht recht habe, und meine Empörung schwand mehr und mehr. Höre im Vertrauen, was mir eine Stimme fortwährend zuflüstert: ›Er wird seine auf Krzemien eingetragene Hypothek nicht cedieren, er wird sicherlich wieder hierher kommen.‹ Wenn er sich auch im Zorn von Papa trennte, das thut nichts. Papa selbst nimmt sich wenigstens scheinbar solche Dinge niemals zu Herzen. Ob diese äußere Ruhe aber auch seinen innersten Gefühlen entspricht, möchte ich dahingestellt sein lassen. In mir hat sich Herr Polaniecki eine aufrichtige Freundin erworben; ich werde alles thun, was in meinen Kräften steht, um gleichzeitig mit dem Verkaufe von Magierow die Ursachen des unseligen Mißverständnisses, überhaupt diese abscheuliche Geldangelegenheit aus dem Wege zu schaffen. Dann muß er zurückkommen, um das ihm Zugehörende in Empfang zu nehmen – nicht wahr? Vielleicht ist's doch möglich, daß ich ihm ein klein wenig gefallen habe. Ein Mensch von lebhaftem Temperament läßt sich eben leicht hinreißen, das ist nicht zu verwundern. Sage ihm aber nichts darüber, wenn Du ihn siehst, und schilt ihn ja nicht aus. Da sei Gott vor! Ich weiß selbst nicht warum, aber die Zuversicht verläßt mich nicht, daß er weder Papa, noch mir, noch meinem geliebten Krzemien eine Kränkung zufügen wird, und ich glaube, daß es sicherlich besser um die Welt stünde, wenn alle Menschen ihm ähnlich wären. Grüße Litka. Ich umarme Dich aufs herzlichste. Schreibe mir ausführlich, wie es ihr geht, und liebe mich so innig, wie ich Dich liebe!«

Als Polaniecki den Brief gelesen hatte, steckte er ihn in die Seitentasche seines Rockes, knöpfte diesen zu, schob den Hut aus der Stirn und empfand plötzlich die größte Lust, seinen Stock in tausend kleine Stücke zu zerbrechen und in den Bach zu werfen, allein er bezwang sich und stieß zwischen den zusammengepreßten Zähnen hervor:

»So! Gut! Du kennst Polaniecki! Du rechnest darauf, daß er Dir keine Kränkungen zufügt. Du bist ja vorzüglich unterrichtet. – Aber es ist vielleicht besser so,« setzte er nach kurzem Besinnen hinzu, »denn sie ist ein Engel, und ich bin ihrer nicht wert.«

Nun offenbarte es sich deutlich, daß die Seele dieses Mädchens im vollsten Glauben und Vertrauen ihm zustrebte, und durch ihn mußte sie nun eine jener empfindlichen Täuschungen erleben, die ewig in der Erinnerung haften bleiben, die ewig schmerzen. Daß er den Eintrag verkauft hatte, das war ja nicht schlimm, daß er ihn aber einem Menschen wie Maszko verkauft hatte, das war unverantwortlich und bedeutete Marynia gegenüber nichts anderes als: »Ich will Dich nicht, heirate nur ihn, wenn Du Lust dazu hast.« Wie enttäuscht mußte sie sich nach all dem fühlen, was er ihr an jenem Sonntag gesagt hatte, nach den freundschaftlichen, herzlichen Worten, ganz dazu angethan, tiefen Eindruck auf sie zu machen. Darauf waren sie auch berechnet gewesen, und Polaniecki wußte, daß sie so aufgenommen worden waren. Er suchte sich zwar damit zu beruhigen, daß sein Benehmen ihm keinerlei Verpflichtung auferlegt habe, aber es gelang ihm nicht. Seine Stimmung wurde nun immer trübseliger. Wie leicht wäre es ihm geworden, Herz und Hand Marynias zu gewinnen! Polaniecki besaß bei allen seinen Schwächen ein gutes, liebebedürftiges Herz, auf das die rührend einfachen Worte jenes Briefes mächtig eingewirkt hatten. Rasch eilte er seiner Gesellschaft nach, und zu Frau Emilie tretend, fragte er: »Wollen Sie mir diesen Brief schenken?«

»Mit dem größten Vergnügen! Nicht wahr, wie ehrlich; warum verheimlichten Sie mir aber, daß Sie vor Ihrer Abreise Marynia einige Unliebenswürdigkeiten gesagt haben? Doch das gute Kind hat Sie bei alledem noch in Schutz genommen, und so will auch ich Ihnen keine Vorwürfe machen.«

»Ach, meine Gnädige, ich würde Sie bitten, mich zu prügeln, wenn das etwas helfen könnte! Allein was nützt all das Reden, die Sache ist nicht wieder gutzumachen.«

Frau Emilie teilte jedoch diese Ansicht durchaus nicht.

»In einigen Monaten werden wir ja sehen,« bemerkte sie.

»Sie ahnen nicht, was wir sehen werden,« erwiderte Polaniecki, an Maszko denkend.

»Vergessen Sie eins nicht,« wandte Frau Emilie abermals ein, »wer das Herz Marynias einmal gewonnen hat, der erlebt nie und nimmer eine Täuschung.«

»Und ich glaube,« antwortete Polaniecki traurig, »daß ein solches Herz, einmal zurückgewiesen, nicht wieder gewonnen werden kann.«

Hier mußten sie das Gespräch abbrechen, weil Litka und Herr Waskowski sich zu ihnen gesellten, und schon nach wenigen Augenblicken hatte das kleine Mädchen wie gewöhnlich Polaniecki als sein ausschließliches Eigentum in Beschlag genommen und stellte hunderte von Fragen. Polaniecki antwortete mechanisch, seine Gedanken schienen nicht hier zu weilen.

Sie waren schon eine geraume Zeit gewandert. Der Waldweg ging mit einem Male sachte abwärts, und sie erblickten plötzlich zu ihren Füßen den Thumsee. Nach einer halben Stunde erreichten sie die Landstraße, die sich an dem einen Ufer des Sees hinzog. Verschiedene hölzerne Stege führten einige Schritte weit ins Wasser, und da Litka bat, die Fische in der Nähe sehen zu dürfen, betrat Polaniecki, sie sorgsam an der Hand führend, mit ihr einen dieser Stege. Die Fische, an die Brotkrumen gewöhnt, die ihnen die Fremden zuwarfen, näherten sich, so daß binnen kurzem zu ihren Füßen eine Unzahl versammelt waren.

»Wenn wir wieder kommen, bringen wir ein großes Weißbrot mit,« erklärte Litka. »Wie wunderlich sie aussehen! Was sie wohl denken mögen?«

»Sie denken sehr langsam,« erwiderte Polaniecki. »Und nach einer Stunde oder sogar erst nach zweien sagen sie zueinander: ›Hier stand ein gewisses kleines Mädchen mit Goldhaar, in einem roten Kleide und in schwarzen Strümpfen‹!«

»Was denken aber die Fische von Herrn Stach?«

»Mich halten Sie für einen Zigeuner, weil ich kein Goldhaar habe.«

»Ach nein! Zigeuner haben doch kein Heim!«

»Auch ich habe kein Heim, Litka. Ich hätte eines haben können, aber ich verscherzte es mir.«

Polaniecki sprach diese Worte in solch schmerzlichem Tone, daß Litka betroffen zu ihm aufschaute. Der Kummer des Freundes spiegelte sich auf ihrem ausdrucksvollen Gesichtchen sofort ab, so wie in dem krystallklaren Wasser des Sees sich ihre eigene Gestalt abspiegelte, und nachdem sie sich wieder mit der übrigen Gesellschaft vereinigt hatten, richtete sie stets aufs neue ihre Augen mit einem fragenden, unruhigen Ausdruck auf ihn. Mit einem Male drückte sie seine Hand, die sie noch nicht losgelassen hatte, und fragte leise:

»Was fehlt Ihnen, Herr Stach?«

»Nichts, mein Kind. Ich sehe nur den See an. Deshalb spreche ich nichts.«

»Sie sind gewiß recht neugierig gewesen, weil ich mich gestern so sehr darauf gefreut habe, Ihnen den Thumsee zeigen zu können.«

»Was ist denn das für ein Häuschen dort, auf der andern Seite?«

»Dort werden wir zu Mittag essen.«

Die Unterhaltung zwischen Frau Emilie und Waskowski war unterdessen sehr lebhaft geworden. Letzterer, den Hut in der Hand und immer wieder in der Rocktasche das Taschentuch suchend, um sich die Glatze abzutrocknen, setzte Frau Emilie seine Ansichten über Bukacki auseinander.

»Er ist ein Arier und krankt infolgedessen an einer ewigen Unruhe, an der Sehnsucht nach Zufriedenheit. Jetzt hat er sich darauf verlegt, Bilder und Stiche zu kaufen, und glaubt damit die Oede und Leere um sich her ausfüllen zu können. Ach, was muß ich alles erleben! Die Kinder unserer Zeit suchen stets nach neuer Nahrung für den Geist. Es ist, als ob sie über einem Abgrund schwebten, tief, tief wie dieser See, und nun diese Tiefe mit Stichen, Radierungen, mit allerlei dilettantischen Liebhabereien ausfüllen wollten. Arme Vögel, die sich an den Wänden des Käfigs die Köpfe zerschmettern. Das ist gerade so, als wenn ich kleine Steinchen in diesen See werfen würde und mir einbildete, ihn damit ausfüllen zu können.«

»Was kann denn das Leben ausfüllen?«

»Jede große Idee, jede tiefe Empfindung, die sich auf das Christentum gründet. Wenn Bukacki die Kunst als Christ liebte, würde er durch sie die heitere Zufriedenheit gewinnen, die er bis jetzt vergeblich erstrebt hat.«

»Setzten Sie ihm das schon auseinander?«

»Gewiß. Ich suchte ihn und auch Polaniecki zu bereden, das Leben des hl. Franz von Assisi zu lesen. Doch was nützte das? Sie lachten einfach über mich. Und doch war er der hervorragendste Mensch, der größte Heilige des Mittelalters, der die Welt neu belebte. Wenn jetzt ein ähnlicher erstünde, dann würde sich die Neubelebung in Christus noch mächtiger und durchgreifender vollziehen.«

Die Mittagszeit rückte allmählich heran, und die Hitze wurde immer unerträglicher. Dem Walde entströmte ein intensiver Harzgeruch, der tiefblaue See lag völlig ruhig in stillem Glanze, es war, als ob er schlummere.

Die ganze Gesellschaft begab sich in den Garten des Wirtshauses und nahm an einem unter schattigen Buchen stehenden Tisch Platz. Polaniecki rief einen Kellner und bestellte das Mittagessen, dann betrachtete er schweigend den See und die umliegenden Höhen.

Einige Schritte von dem Tische entfernt wuchsen Iris, auf die ein inmitten von Felsblöcken errichteter Springbrunnen fortwährend einen leichten Sprühregen warf.

Frau Emilie schaute sinnend auf die Blumen.

»Wenn ich an einem See sitze,« brach sie schließlich das Schweigen, »und so prächtige Schwertlilien vor mir sehe, glaube ich stets in Italien zu sein.«

»Weil es nirgends so viele Seen, so viele Schwertlilien giebt,« bemerkte Polaniecki.

»Noch so viel Berauschendes für jeden Menschen,« fügte Waskowski hinzu. »Seit vielen Jahren gehe ich regelmäßig im Herbst nach Italien. Lange Zeit schwankte ich, ob ich in Perugia oder in Assisi Aufenthalt nehmen solle, aber letztes Jahr trug Rom den Sieg davon. Dort glaubt man sich in die in lichtem Glanze strahlende Vorhalle einer schöneren Welt versetzt. Jedenfalls gehe ich im Oktober wieder dahin.«

»Darob beneide ich Sie sehr!« rief Frau Emilie.

»Litka ist nunmehr zwölf Jahre alt,« hub Waskowski an, »und . . .«

»Zwölf Jahre und drei Monate!« unterbrach ihn Litka ganz gekränkt.

»Und drei Monate; sie hat daher für ihr Alter noch wenig gesehen, und es wäre jetzt die richtige Zeit, ihr Rom zu zeigen,« fuhr Waskowski fort. »Nichts haftet so sehr im Gedächtnis wie das, was man in der Kindheit sieht. Und wenngleich man viele Dinge noch gar nicht begreift, so kommt doch später das Verständnis dafür. Ueberlegen Sie es sich einmal. Wie wäre es, wenn Sie im Oktober mit mir nach Italien gingen?«

»Im Oktober kann ich unmöglich reisen. Ich habe verschiedene Verpflichtungen, die mich in Warschau zurückhalten.«

»Was für Verpflichtungen?«

Frau Emilie lächelte fein. »Vor allem,« erklärte sie, auf Polaniecki deutend, »die sehr wichtige, diesen Herrn hier zu verheiraten, der so nachdenklich dasitzt und im Grunde der Sache so verliebt ist.«

Polaniecki fuhr erschreckt aus seiner Versunkenheit empor und winkte abwehrend mit der Hand. Waskowski aber fragte mit der Naivität eines Kindes: »In Marynia Plawicki?«

»Ja,« erwiderte Frau Emilie. »Bei seinem Besuch in Krzemien ist er tief ins Herz getroffen worden, wenn schon er dies abzuleugnen versucht.«

»Ich leugne es gar nicht!« warf Polaniecki ein. »Aber« –

Er konnte nicht weiter reden. Das Gespräch erlitt eine unangenehme Unterbrechung, da Litka plötzlich totenbleich wurde. Sie bekam, wie gar häufig, einen Anfall von Atemnot und Herzklopfen, ein Zustand, bei dem selbst die Aerzte bedenklich das Haupt zu schütteln pflegten. Die arme Mutter umfaßte die kranke Kleine, Polaniecki eilte, um Eis zu holen, in das Haus, während Waskowski mit Aufbietung aller Kraft eine Gartenbank herbeizog, damit das Kind sich darauf ausstrecken und leichter atmen könne.

»Du hast Dich so sehr ermüdet, Kindchen, nicht wahr,« fragte Frau Emilie mit schreckensbleichen Lippen. »Du siehst, Liebchen, daß es zu weit gewesen ist. Aber der Arzt hat es doch erlaubt. Welch eine Hitze! Nun, das thut gar nichts! Das vergeht, das vergeht!« Voll Inbrunst küßte sie die feuchte Stirn des Kindes. Polaniecki kam jetzt eilig mit dem Eis zurück, und ihm folgte die Wirtin, ein Kissen tragend. Nach wenigen Minuten lag die Kleine auf der Bank, und während Frau Emilie das Eis in eine Serviette band, beugte sich Polaniecki zu dem kranken Kinde und fragte:

»Wie ist's Dir jetzt, Mäuschen?«

»Ich habe immer noch eng, aber es ist doch viel besser!« erwiderte Litka, gleich einem Fischchen den Mund öffnend, um Atem zu schöpfen, denn das kranke Herz schlug noch so heftig, daß es durch das Kleid hindurch bemerklich war. Das Eis that jedoch gute Wirkung. Die Atemnot verlor sich, nur eine große Schwäche blieb zurück. Litka lächelte der Mutter zu, die sich nun ein wenig von ihrem Schrecken erholte. Ehe man an die Heimkehr denken konnte, mußte jedoch vor allem das Kind gestärkt werden.

Polaniecki ließ daher nun das Mittagessen bringen, das aber außer von Litka kaum von jemand berührt wurde, da alle die geheime Angst hegten, der Anfall könne sich wiederholen. Nach Verlauf einer Stunde hatte sich der Zustand der Kleinen soweit gebessert, daß Frau Emilie sich zur Rückkehr rüstete.

Der Wagen, um den Polaniecki nach Reichenhall geschickt hatte, ließ jedoch noch auf sich warten. Als er endlich eintraf, fuhr die ganze Gesellschaft sofort ab, aber trotzdem es Schritt für Schritt auf der Landstraße weiter ging, wirkte selbst diese geringe Erschütterung so schlimm auf die Kranke, daß sich aufs neue Atemnot einstellte. Sie bat aussteigen zu dürfen, es zeigte sich jedoch bald genug, wie wenig sie imstande war, den Weg zu Fuß zurückzulegen. Rasch entschlossen wollte Frau Emilie sie tragen, allein Polaniecki ließ es nicht dazu kommen, indem er sagte:

»Litka, komm, ich trage Dich. Deine Mama würde sich zu sehr ermüden und krank werden.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, hob er sie sanft empor, trug sie ganz frei auf einem Arm und begann sowohl mit ihr wie mit ihrer Mutter zu scherzen, um beiden zu zeigen, wie wenig ihn die kleine Last ermüde.

»Ja, ja,« meinte er unter anderm, »wenn so ein Mäuschen gehen soll, wird es auf einmal ganz schwach und matt. Jetzt hängen aber die langen Beinchen äußerst vergnüglich herab. Fasse mich um den Hals, mein Kindchen, damit Du nicht zu sehr geschaukelt wirst.« Er bemühte sich zwar, recht gleichmäßig zu gehen, schritt aber trotzdem wacker aus, denn er fühlte, wie das Herz des Kindes schlug, und war deshalb darauf bedacht, so rasch wie möglich Reichenhall zu erreichen und in die Nähe eines Arztes zu kommen. Seiner Aufforderung Folge leistend, hatte ihn Litka mit ihren magern Aermchen umfaßt, aber sie bat fortwährend:

»Setzen Sie mich zu Boden! Ich . . . ich kann nicht . . . Setzen Sie mich zu Boden!«

»Nein, ich gebe Dich nicht frei!« antwortete er. »Von nun an nehmen wir aber stets einen großen bequemen Fahrstuhl mit, und sobald das Kind müde wird, setzen wir es hinein, und ich werde meines Amtes enthoben.«

»Nein, nein,« rief aber jetzt wieder Litka mit Thränen in den Augen.

So trug er sie mit der Zärtlichkeit eines älteren Bruders, ja, mit der Fürsorge eines Vaters dahin. Er war tief bewegt, denn er liebte das kleine Mädchen von ganzem Herzen, auch kam es ihm so recht zum Bewußtsein, daß Gott ihn zum Familienleben, zum Gatten, zum Vater geschaffen hatte. Und all seine Gedanken flogen zu Marynia zurück. Mit verdoppelter Macht fühlte er nun, daß er unter allen Mädchen, mit denen er bis jetzt zusammengetroffen war, sie allein zu seiner Gattin wählen würde, sie allein als Mutter seiner Kinder lieben möchte.


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