Gerhart Hauptmann
Das Abenteuer meiner Jugend
Gerhart Hauptmann

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Einundvierzigstes Kapitel

Der Grundzug unseres damaligen Wesens und Lebens war Gläubigkeit. So glaubten wir an den unaufhaltsamen Fortschritt der Menschheit. Wir glaubten an den Sieg der Naturwissenschaft und damit an die letzte Entschleierung der Natur. Der Sieg der Wahrheit, so glaubten wir, würde die Wahn- und Truggebilde auch auf den Gebieten religiöser Verblendung zunichte machen. Binnen kurzem, war unser Glaube, würde die Selbstzerfleischung der Menschheit durch Krieg nur noch ein überwundenes Kapitel der Geschichte sein. Wir glaubten an den Sieg der Brüderlichkeit, die wir ja unter uns schon quasi verwirklicht hatten. Glaubten, liebten und hofften wir doch aus Herzensgrund! Eines Tages würde das letzte Verbrechen mit dem letzten Verbrecher ausgestorben sein wie gewisse Epidemien infolge der Hygiene und sonstiger Prophylaxe der medizinischen Wissenschaft.

Dieser Optimismus war schlechthin Wirklichkeit. Man mag sich durch den scheinbar verzweifelten Pessimismus der »Modernen Dichter-Charaktere« nicht täuschen lassen.

Aber nicht nur wir, die ganze Epoche Ende der achtziger Jahre des vorigen Säkulums atmete Gläubigkeit. Auch Dorothea Trudel nahm in gewissem Sinne teil daran. Sie und die Ihren glaubten an ein Tausendjähriges Reich der Glückseligkeit auf Erden, das die Liebe des Heilands Jesus Christus regieren würde. An einen Regenten dachten wir nicht. Weder an Jesus noch einen anderen. Doch wir glaubten nicht anders als die Trudel an unser Tausendjähriges Reich. Nur waren tausend Jahre des Glücks zu wenig für unsere Ansprüche.

Die Welterneuerer, Weltverbesserer tauchten überall auf. Auch Nietzsche, dessen »Zarathustra« eines Tages als Zeitsymptom im Asyl der Freien Straße lag, gehörte darunter.

Der Kohlrabiapostel war ein anderes Extrem. Die Forderung einer asketischen Lebensform war mit dem Fleischverbot verbunden. Auch bei dieser Sekte war der damals weit verbreitete Wahlspruch »Rückkehr zur Natur!« mitwirkend.

 

Wo vom Glauben die Rede war, darf nicht vergessen werden, daß wir vor allem an uns selbst glaubten. Machte Carl davon eine Ausnahme? Ploetz, Simon und die anderen glaubten an sich. An die sieghafte medizinische Wissenschaft, die sie sieghaft handhaben würden. Ich glaubte an mich und den Sieg meiner Kunst, obgleich ich keinerlei Trümpfe vorerst in der Hand hatte.

Zwar ich schrieb an einem Roman, in dem ich wahrhaftig und bekenntnishaft, ähnlich wie Rousseau, auftreten wollte, auch auf sexuellem Gebiet. Die Krisen der Pubertät und der Jugend in diesem Betracht wollten mich gleichsam zum Ankläger, wenn nicht zum Retter aufrufen. Wir diskutierten zuweilen darüber. Ein Niederschlag jener Zeit und jenes Bereichs ist »Frühlings Erwachen« von Wedekind.

Er übertrifft mich an rücksichtsloser Wahrhaftigkeit.

 

Am ersten Pfingstfeiertag, wo bekanntlich die Jünger Jesu mit Zungen redeten, promenierte bei herrlichstem Sonnenschein ganz Zürich auf den Kaipromenaden. Hier tauchte plötzlich im härenen Gewände, Sandalen an den Füßen, mit auf den Schultern wallendem rötlichem Haar eine Art Apostel auf. So hätte Jesus können aussehen. Limbusartig wand sich eine Schnur um sein übrigens unbedecktes Haupt.

Als sich die Leute um ihn stauten, hielt dieser Heilige seine Pfingstpredigt. Etwas vom Pfingstgeist der Apostelgeschichte lag in der Luft. Es war wirklich, als ob man Anspruch auf eine neue weltbeglückende, welterlösende Frohe Botschaft hätte.

So ging denn ein Schauder durch uns hin, als dieser rotbärtige Heiland plötzlich mit rollenden Augen zu reden begann.

Was er gesprochen hat, wüßte ich heute nicht mehr genau. Jedenfalls hatte in ihm eine der vielen starken Hoffnungen der Zeit eine Stimme gefunden. Er redete gegen den Luxus, er mahnte zur Einfachheit, rief, man müsse zur Natur zurückkehren. Die Lebensweise müsse ihre naturwidrige und damit dem Göttlichen feindliche Form abstreifen.

»Fort«, sagte er, »mit der Kadaverfresserei! Der Mensch ist ein Fruchtesser!« Früchte, Körner, Gemüse solle er essen und der blutrünstigen Nahrung abschwören, die sein Verderben sei. Die soziale Frage sei gelöst, wenn man diesen Grundsätzen nachlebe. Natürlich verdammte er auch den Alkohol. Ebenso wurden Kaffee und Tee von seinem Bannstrahl aufgetrocknet. – »Euer Trunk«, so hieß es, »sei klares Quellwasser! Wollt ihr dem Menschen nicht glauben, der euch diese Heilslehre bringt, fragt einfach jedes beliebige Tier, und es wird euch überzeugend belehren!« Dies, schloß er, sei ein Anfang der Wiedergeburt, die aber hauptsächlich im Geist vorgehen müsse. Sei sie errungen, so bedeute das eine Neuerung ohnegleichen, ein höchstes Glück, die engste Verbindung mit Natur und Gott. Freilich, sie zu erlangen, bedürfe es einer entschlossenen Abkehr von der Welt, eines gewissenhaften Jüngertums und einer streng asketischen Nachfolge.

Nach diesen Worten war überraschenderweise ein gutgekleideter Züricher Patriziersohn hocherregt vor ihn hingetreten. Ich glaubte den reichen Jüngling vor Jesus zu sehen. Ich hörte nicht, was er zu dem Apostel sprach. Es muß aber eine ähnliche Frage wie: »Was soll ich tun, daß ich selig werde?« gewesen sein. Der Heiland hatte geantwortet: »Gehe hin, verkaufe deine Güter und gib dein Geld den Armen!« Der neue Apostel fuhr den Frager heftig abweisend an, wie wenn er von vornherein seine Kühnheit demütigen, die Unechtheit seines Entschlusses und die Schwäche seines Wesens brandmarken wolle. Er zeigte auf den Schlips des Jünglings, berührte den weißen Kragen, die Busennadel, die Fingerringe, die Berlocken an der Uhrkette, worauf der Jüngling sogleich dies alles mit zitternder Angst und Hast sich vom Leibe riß und irgendwo vorerst in den Taschen versteckte.

Ich weiß nicht, was weiter aus ihm geworden ist.

 

Solche Szenen, wenn nicht alltäglich, so doch da und dort sich ereignend, waren Zeichen der Zeit.

Ein Übermensch, nach der Forderung Nietzsches, zu dem die blonde Bestie die Vorstufe bildet, wenn sie nicht der Übermensch selber ist, war dieser Apostel freilich nicht.

Wo man aber seiner Spielart durch Zufall begegnete, erschien auch sogleich im Geiste der Übermensch als sein Gegenteil. Askese, je mehr verwirklicht, verschwindet um so mehr in die Einsamkeit. Sie war und ist in der Welt verbreitet. Die blonde Bestie, die weder Askese noch Weltflucht kennt, hatte freilich doch größere Aussicht, sich zu vermehren. Ob nicht der Übermensch vielleicht in einem allverbreiteten Typus der Roheit schon damals auf- und unterging?

Der Übermensch Nietzsches in seiner ideellen Konstruktion erschien mir nun keineswegs als gesünderer Gegensatz des Pfingstapostels, sondern vielmehr als der krankhafte. Hatte Richard Wagner am Ende für Nietzsches Übermenschen Modell gestanden? Es lohnt, die Worte herzusetzen, die Nietzsche schrieb, als er den großen Musikanten von dem Sockel herunterstieß, auf den er ihn selbst gestellt hatte.

»Richard Wagner, scheinbar der Siegreichste, in Wahrheit ein morschgewordner, verzweifelnder décadent, sank plötzlich, hilflos und zerbrochen, vor dem christlichen Kreuze nieder . . . Hat denn kein Deutscher für dies schauerliche Schauspiel damals Augen im Kopfe, Mitgefühl in seinem Gewissen gehabt? War ich der einzige, der an ihm – litt? – . . . Als ich allein weiterging, zitterte ich; nicht lange darauf war ich krank, mehr als krank, nämlich müde, – müde aus der unaufhaltsamen Enttäuschung über alles, was uns modernen Menschen zur Begeisterung übrigblieb, über die allerorts vergeudete Kraft, Arbeit, Hoffnung, Jugend, Liebe, müde aus Ekel vor der ganzen idealistischen Lügnerei und Gewissens-Verweichlichung, die hier wieder einmal den Sieg über einen der Tapfersten davongetragen hatte; müde endlich, und nicht am wenigsten, aus dem Gram eines unerbittlichen Argwohns – daß ich nunmehr verurteilt sei, tiefer zu mißtrauen, tiefer zu verachten, tiefer allein zu sein als je vorher. Denn ich hatte niemanden gehabt als Richard Wagner . . .«

Man hat aus diesen bescheidenen Blättern ersehen, wie ich schon recht früh die christliche Entwürdigung und Bekämpfung des menschlichen Leibes und seiner Sinne ablehnte. Aber ich sagte mir, daß trotzdem jeder Papst noch immer von einem irdischen Vater gezeugt und von einer Mutter geboren wird. Auf diese Art wurde ja auch ein Schiller und ein Goethe gezeugt und geboren und der ganze deutsche Philosophenolymp, Musikhimmel und Dichterparnaß. Hie Kirche, hie Leben! Bleibt ja doch dieses immer das Stärkere!

Und ist es möglich, die musikalisch-dichterische Schöpfung »Parsifal« als einen Zusammenbruch vor dem Kreuz zu deuten? Sündenbekenntnis, Beichte, Reue und Bitten um Gnade haben wahrhaftig keine Kunstwerke nötig, um dazusein. Dies alles geschieht ohne Umstände in den Kirchen sowohl wie in den Versammlungen der Heilsarmee. Wagner hat einfach in seinem »Parsifal« einen kostbaren klingenden Mythos geschaffen, um den sich sein Geist schon lange bewegte. Auch sein »Lohengrin« zeugt davon. Und ist dieser Mythos, der vom Gral, von Rom aus gesehen, nicht Ketzerei? Und sind nicht die Gralsschwärmer von Innozenz III. durch den grausigen Albigenser-Kreuzzug wie Ungeziefer zertreten worden?

Nein, der weinerliche Vortrag schwerster Beleidigungen eines Freundes, von schwächlich-heuchlerischem Gewinsel gefolgt, der wahrhaftig nichts Übermenschliches an sich hat, konnte uns Junge damals nur abstoßen. Friedrich Nietzsche war nicht unser Mann.

Es fehlte uns auch damals die Zeit, subtile und komplizierte Gespinste des Gehirns, die wesentlich Selbstzweck schienen, zu verfolgen. Nein, wir hatten Besseres zu tun. Wir wollten blühen, wir wollten Frucht bringen. Um dies zu bewirken, mußten wir zugleich Bauer und Gärtner sein. Beide haben es mit dem Boden zu tun. Spaten und Wurzeln mußten ihn aufwühlen. Ja der Gärtner in uns schob alles beiseite, was ihn von seiner Schollenarbeit ablenken konnte.

 

Wie eine Erleuchtung war der Entschluß zu diesem Verfahren eines Tages über mich gekommen. Man wird sich erinnern, wie man mich bedrängt hatte mit der Prophezeiung eines rettungslosen Epigonentums. Hatte doch der famose Gervinus gesagt, das Kapitel der Poesie in Deutschland sei durch Goethe ganz und gar abgeschlossen. Diesen Irrwahn, der meinen Weg wie eine Mauer versperren wollte, hinwegzuräumen, mühte mein Geist sich Tag und Nacht. Ich sah wohl das Epigonentum, sah alle die unfruchtbaren Nachahmer und grübelte nach über die Ursachen ihrer Unfruchtbarkeit. War ich nicht auch auf dem besten Wege dazu?

Da leuchtete mir am Himmel plötzlich ein Pünktchen auf wie ein Stern. Wenn du ein alter Mann geworden bist, und du hast ein Leben lang den großen Dichtern und ihren Höhenprodukten nachgestrebt, so wirst du vielleicht einmal etwas ganz von ihnen Verschiedenes, etwas unmittelbar Erdnahes hervorbringen.

Weiter im Anschluß hieran, also dieser verstiegenen Hoffnung verbunden, kam es mir vor, als ob alle Epigonen und auch wir den Boden unter den Füßen verloren hätten. Die Dichtwerke reihten sich horizontal, meinethalben wie Perlen an einem Faden sich reihen. Eine vertikale Ausdehnung hatten sie nicht. Bildlich gesprochen: sie hingen und saugten einander aus wie Vampire, statt wie Bäume getrennt zu stehen und Nahrung mit einem gesunden Wurzelsystem aus der Erde zu trinken.

Wie steht es mit dir nun? fragte ich mich.

Auch du bist ins Himmelblaue entrückt und hast höchstens einige kurze Luftwurzeln. Ob sie die Erde jemals erreichen und gar in sie eindringen können, weißt du nicht.

Jetzt aber hatte ich plötzlich die Kühnheit, nach allem Profanen, Humus- und Düngerartigen um mich zu greifen, das ich bisher nicht gesehen, weil ich es nicht für würdig erachtet hatte, in Bereiche der Dichtkunst einzugehen. Und abermals wie im Blitz erkannte ich meine weite und tiefe Lebensverwurzelung und daß es ebendieselbe sei, aus der mein Dichten sich nähren könne.

Auch fielen mir zur rechten Zeit die niederländischen Bilder in den Sälen der Krone ein.

So und nicht anders verlief der innere Zauber, der mich zu einem gesunden, verwurzelten Baum machte.

Und als ich »Die Macht der Finsternis« von Leo Tolstoi gelesen hatte, erkannte ich den Mann, der im Bodenständigen dort begonnen, womit ich nach langsam gewonnener Meisterschaft im Alter aufhören wollte.

Und wie man eine Statue, die auf dem Kopfe steht, auf die Füße stellt, so war es mir klar, daß ich mit der Scholle und ihren Produkten sogleich mein Werk beginnen müsse, statt im Alter es so zu vollenden.

Was ging das Geschwätz vom Naturalismus mich an? Aus Erde ist ja der Mensch gemacht, und es gibt keine Dichtung, ebensowenig wie eine Blüte und Frucht, sie sauge denn ihre Kraft aus der Erde!

Dieser Gedanke stand kaum gefestigt in mir, als ich aus einem Borger, ja Bettler ein recht wohlsituierter Gutsbesitzer geworden war. Ein immer wachsendes inneres, bisher unsichtbares Kapital gewann Sichtbarkeit. Meine Knabenzeit, die mir so gut wie entschwunden war, tauchte wieder auf, und in der Erinnerung an sie machte ich fast von Minute zu Minute neue Entdeckungen. Das ganze Ober-, Mittel- und Nieder-Salzbrunn entfaltete sich, durch die Salzbach getrennt in die Große und Kleine Seite. Der Gasthof zur Krone tauchte auf, das benachbarte Haus Elisenhof, die Brunnenhalle mit ihren Brunnenschöpfern. Die Schwestern der Mutter und der Großvater, somit der ganze Dachrödenshof. Die Schweizerei und ihre Pächterin und Schafferin, die der Fürst hineingesetzt hatte, ob verheiratet oder ledig, weiß ich nicht. Eine der eindrucksvollsten unter den Brunnenschöpfergestalten war ihr stattlicher, blondbärtiger Sohn, von dem man sagte, daß er zur Hälfte blaues Blut habe. Das herrliche Fürstensteiner Schloß tauchte auf mit seinen Bewohnern und seiner unvergleichlichen Lage. Aber vor allen Dingen die Dorfstraße, die Weberhütten und Bergmannsquartiere, diese das Ärmlichste vom Ärmlichen. Der Fuhrmann Krause sprach mich an, und der ganze mit Hausknechten, Kutschern, Wagen und Pferden belebte Kronenhof mit seinen Welten Unterm Saal. Die drängende Armut der Hintertreppe und mit alledem der Volksdialekt, der mir, wie ich mit Freuden erkannte, tief im Blute saß. Ich merkte nun, wo ich, schon eh ich die Sexta der Zwingerschule betrat, meine wahrhafte Lehrzeit vollendet hatte.

Hätte ich nicht beinahe gehandelt wie der Bauer, der das moorige Laub aus dem Korbe schüttelte, das Rübezahl hineingetan hat, und, nach Hause gekommen, nur noch einige Blättchen fand, aber sie waren von purem Golde?

Vor dieser Torheit bin ich bewahrt worden. Der alte, neuentdeckte Reichtum hat ausgehalten ein Leben lang und ist bis heute längst nicht verbraucht worden.

Auf der einen Seite von Salzbrunn die fürstliche Welt des Fürstensteins, sozusagen die Wohnung der Götter, auf der anderen das Industrie- und Grubengebiet von Waldenburg: die schwarzen Diamanten wurden von verwegenen, todesmutigen, damals bettelarmen Heloten aus fünfhundert Meter Tiefe unter der Erde heraufgeholt. Ich mußte erkennen, und fast konnte ich es nicht glauben, wie all das in beinah unendlicher Vielfalt zum Besitz meiner Vorstellungswelt geworden war. Und nun ging mein Bewußtsein durch alle diese ungehobenen Schätze der Phantasie, um auszuwählen, was meine Gestaltungskraft nicht ruhen ließ, oder nur zu empfangen, was sich fast ungesucht in sie eindrängte.

Die reichen Kohlenbauern von Weißstein drängten sich ein, meine Landwirtszeit fing an, sich zu melden, es regten sich die Gestalten der Kunstschule. Es regte sich meine Verlobungsepoche, es regte sich Rom. Und ich bin fünfundsiebzig Jahre geworden, um, wie bereits angedeutet, zu erkennen: auch nur das erste Vierteljahrhundert meines Lebens im Sinne der Kunst auszuwerten, war mir eine Unmöglichkeit.

Ich habe ein Stück »Die Weber« geschrieben. In Zürich regte sich bereits sein embryonales Leben zugleich mit dem eines Bauerndramas, dem ich den Titel »Der Säemann« zu geben gedachte.

In und um Zürich blühte damals noch, und zwar seit dreihundert Jahren, die Seidenweberei. An den Stühlen saßen Handweber. An dem Hüttchen eines von ihnen ging ich mehrmals die Woche vorbei, wenn ich die Psychiatrische Klinik in der Irrenanstalt Burghölzli besuchte. Das Wuchten des Webstuhles hörte man durch die Wand dringen. Und eines sonnigen Morgens, erinnere ich mich, überfiel mich bei diesem Geräusch der Gedanke: du bist berufen, »Die Weber« zu schreiben! Der Gedanke führte sofort zum Entschluß.

Die schlesischen Weber von Langenbielau, die Ärmsten der Armen, und ihr Aufstand in den vierziger Jahren waren damals noch unvergessen in der Welt. Dazu hatte das Weberlied eines deutschen Dichters das Seinige beigetragen:

Altdeutschland, wir weben dein Leichentuch,
wir weben hinein den dreifachen Fluch,
wir weben, wir weben!

Meine Auffassung der Geschehnisse wich nun zwar von der des Liedes ab. Aber es gehörte immerhin Mut dazu, dieser in Preußen übel vermerkten Erinnerung, statt sie völlig auszulöschen, in einer Gestaltung neue Gegenwart, ja möglicherweise Dauer zu geben. Aber das soziale Drama, wenn auch zunächst nur ein leeres Schema, lag als Postulat in der Luft. Es real ins Leben zu rufen war damals eine Preisaufgabe, die gelöst zu haben so viel hieß wie der Initiator einer neuen Epoche sein. Bei diesem der alten Zeit konträren Beginnen – wir standen nach Karl Bleibtreu mitten in einer Revolution der Literatur – waren Zivilcourage und Bekennermut eine Selbstverständlichkeit. So konnten denn auch die glücklichste Ehe, in der ich lebte, die Rücksicht auf meine alten Eltern und meine Kinder keinerlei Hemmungen meiner Berufung, mit der verwachsen ich fiel oder stand, bei mir einschalten.

Ich konnte »Die Weber«, ich konnte das Bauerndrama schreiben, denn wie gesagt, ich beherrschte den Volksdialekt. Ich würde ihn also, war mein Beschluß, in die Literatur einführen. Dabei dachte ich nicht an sogenannte Heimatkunst oder Dichtung, die den Dialekt als Kuriosum benützt und meistens von oben herab humoristisch auswertet, sondern dieser Volkston war mir die natur- und kunstgegebene, dem Hochdeutsch ebenbürtige Ausdrucksform, durch die das große Drama, die Tragödie ebenso wie durch Verse Goethes oder Schillers Gestalt gewinnen konnte. Ich wollte dem Dialekt seine Würde zurückgeben. Man mag entscheiden, ob es geschehen ist.

 

Friedrich Nietzsche rückt entschieden vom Mitleid ab, während Schopenhauer Mitleid für Liebe, Liebe für Mitleid hält. Diese Art Mitleid wird mir später »Die Weber« diktiert haben. Aber ebensosehr der Zwangsgedanke sozialer Gerechtigkeit.

Wie entsteht ein Gedanke dieser Art? Und wie entsteht er zugleich in aber und abermals Hunderttausenden? Vielleicht hat sich innerhalb einer Volksgemeinschaft durch die unkontrollierte millionenfache und aber millionenfache Seelenverletzung der schwächeren Volksteile ein gemeinsames heimliches Trauma gebildet, das auch bis in den stärkeren Volksteil hinein fühlbar wird. Dieses schmerzhafte Fühlen war allgemein. Auch wir wären ohne dies Fühlen nicht als Dichter zugleich gewissermaßen Bekenner geworden.

Ulrich von Hutten nannte das Schloß Franz von Sickingens »Herberge der Gerechtigkeit«.

 

Ein gewisser Karl Steinmetz war irgendwie an den Strand von Zürich gespült worden. Er gab einen Empfehlungsbrief bei meinem Freund Simon ab. Dieser brachte den kleinen, buckligen Menschen zu Carl in die Freie Straße.

Man sagte, er habe sich, von seinen Universitätsprofessoren gewarnt, aus Breslau davongemacht. Er war nämlich ein Genie auf den Gebieten der Mathematik und Physik, weshalb seine Lehrer nicht wollten, daß er für irgendwelche politischen Kindereien, die er vielleicht verübt hatte, ins Gefängnis gesteckt und seiner hohen Bestimmung entzogen würde.

Die ikarische Idee war längst von uns über Bord geworfen. Vielleicht war aber Steinmetz trotzdem noch ein letztes Opfer von ihr. Ist doch möglicherweise, was wir in Vancouver-Island zu verwirklichen dachten, im Sinne jenes Prozesses, bei dem ich Zeuge war, als Tarnung einer sozialdemokratischen Gruppenbildung verdächtigt worden.

Carl, der von den Gaben dieses anderen Karl geradezu hingerissen war, stützte ihn nun auf jede Weise. Steinmetz war fast täglicher Gast gleich Ploetz und Simon in seinem Haus.

Seltsamerweise hatte mein Bruder, nach Weber-Rumpe wie ich ohne praktischen Sinn, nicht nur für ihn Unterstützung bereit, sondern auch ausschlaggebende Ratschläge, deren Befolgung Steinmetz neben Edison zum berühmtesten Erfinder Amerikas gemacht hat. Den Namen Karl Proteus Steinmetz kennt noch heut in Amerika jedermann.

Als Kuriosum sei erwähnt, daß Karl Proteus Steinmetz wahrscheinlich Begründer der großen Kakteenmode, die sich über die ganze Welt erstreckt, geworden ist. In seinem Gewächshaus gab es nur Kakteen. Es waren nicht die schönen, blühenden, zarten Gewächse, die man in eleganten Läden sieht, sondern, wie es heißt, sehr häßliche, stachliche Säulen, mißgestaltete Zwiebelformen mit nadelscharfen, weißen Haaren, schlangenartig gewundene Schreckgespenster, an deren Zungen Bündel unnatürlich aussehender Früchte wie Krebsgeschwülste wucherten.

Kakteen standen in der Zeit meiner Jugend im Doppelfenster oder auf den Fensterbrettern der kleinen schlesischen Landleute und Handwerker und wurden von ihnen mit größter Liebe gepflegt. Sollte Steinmetz daran gedacht und so ein Stück Heimat um sich erweckt haben?

In Anwandlung eines gewissen Stolzes habe ich diesen Gast der Freien Straße und des improvisierten Epikurischen Gartens von Carl und Martha erwähnt, obgleich ich selbst kaum Beziehungen zu ihm hatte. Er zeigt, daß sich damals in unserem Kreise immerhin Jugend von einiger Zukunft zusammengefunden hatte. In diesem Zusammenhang sei noch erwähnt, daß der berühmte Karl Proteus Steinmetz schon im Jahre 1901 zum Präsidenten des amerikanischen Instituts für Elektroingenieure gewählt, im Jahr 1902 zum Ehrendoktor – Master of Arts – der Harvarduniversität ernannt wurde. »Die Universität verleiht Ihnen diesen akademischen Grad«, sagte Rektor Eliot, »als dem bedeutendsten Elektroingenieur der Vereinigten Staaten und daher der Welt.«

Das wurde aus einem armen schlesischen Einwanderer.

 

Am Ende meiner Zürich betreffenden Erinnerung steht eine Apotheose der Schweiz. Bei einer Pfingsttour ist mir die ganze unaussprechliche Schönheit und Größe alpiner Natur aufgegangen. Zunächst das Wunder der Gotthardbahn, die uns bis nach Göschenen, dem Eingang des Gotthardtunnels, trug. Der Eindruck Luzerns mit seinem Pilatusberg und des betäubend grünen Vierwaldstätter Sees auf meine jugendlich empfänglichen Sinne machte mich glauben, nicht mehr auf der Erde, sondern auf einem anderen, paradiesnahen Planeten zu sein. Man war in Schönheit und Farbe ertrunken, man ging nicht, man schwebte vielmehr im Licht.

Wir stiegen von Göschenen am Rande der brausenden Reuß bis Andermatt und von da zum Gotthardhospiz und erklommen in Leinwandschuhen verwegenermaßen den Gipfel des Pizzo Centrale. Mein ganzes Leben zehrte von diesen Eindrücken. Es blieb die erste und letzte Bergtour, die ich gemacht habe. Wir erklommen den Rhonegletscher und stiegen alsdann über himmelnahes Gestein zum Grimselhospiz hinunter, das von oben gesehen wie die Hütte Charons am Styx den Eingang zur Unterwelt zu bewachen schien.

 


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