Gerhart Hauptmann
Das Abenteuer meiner Jugend
Gerhart Hauptmann

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Zweiunddreißigstes Kapitel

Wir wurden von Kläre, Käthe und Ännchen bis an die Fähre der Elbe gebracht, deren Wasser für mich eine Lethe war. Ich hatte, wenn ich vom Jenseits herüberkam, einen Strom des Vergessens überquert, so daß mein Hohenhauser Glück meine Grubener Freuden nicht stören konnte. Fährmann und Boot brachten mich nun dorthin zurück. Kläre, Käthe und Ännchen winkten mit Locken und weißen Tüchelchen. Dann trank sie der Glanz des Sommers ein. Keiner von uns drei Burschen, die den Fuß aus dem Boot an das grüne Ufer setzten, hat eines der hübschen Kinder wiedergesehen.

Ich lebte noch immer in einem Männer-, will sagen Jünglingsbund. Ploetz hauste in Zürich, er war von Amerika zurückgekehrt. Die Kolonie Cabets hatte er nur noch im Zustand des Zerfalls angetroffen. »Bauen wir unseren Garten!« hatte der augenblickliche Leiter resigniert und achselzuckend zu Ploetz gesagt, wenn von sozialistischen Ideen, insonderheit von dem Cabetschen Experiment die Rede war. Dies Achselzucken und diese Resignation nahmen auch unserem Kolonialplan den Wind aus den Segeln. Ferdinand Simon diente um diese Zeit seine Militärpflicht in Breslau ab.

Carls Hochzeitstag, der herannahte, wurde von uns nicht mit reiner Freude vorausgesehen, denn er riß doch wohl die schwerste Lücke in unseren Freundeskreis. Wenn auch Martha, seine Braut, uns noch so freundlich gegenüberstand, blieb fraglich, wie sie sich darin als Ehefrau verhalten würde. Und Carl war fortan eine Doppelperson, man würde kaum noch mit ihm als mit einer Einheit zu rechnen haben, wodurch eine neue Lage geschaffen ward.

Die letzten acht Tage vor der Hochzeit, die wir Brüder und Freunde in Dresden zubrachten, waren denn auch, so heiter sie sich äußerlich gaben, nicht frei von Melancholie.

Noch einmal schlossen wir uns aneinander.

Max Müller, Carl, Ploetz, Ferdinand Simon und ich zogen gemeinsam in der Stadt umher, saßen in meiner Mansarde, machten Ausflüge oder bildeten eine Tafelrunde in dem oder jenem Bierlokal.

Die Debatten hörten nicht auf. Sie gingen nach unserer Gewohnheit regellos, keineswegs platonische Gespräche. Sie waren wirr, denn sie bauten sich vielfach auf unabänderlichen Gegensätzen persönlicher Anlage auf. Sie vollzogen sich lärmend, arteten wohl in Toben aus. Ihre Würze war ein derber Humor mit stehenden Redensarten, wie sie lange Gemeinsamkeit einer Gruppe ausbildet. So heftig aber der Kampf sich mitunter zu entflammen schien, er war doch nur Spiel. Es war eine Lust, ihn bis zur Ermüdung durchzufechten. Denn die gegeneinander wütenden Geister: in Wahrheit umarmten sie sich, weil sie der Freundschaftseros entfesselte.

Weshalb Carl und ich uns mit Ploetz und Simon in wesentlichen Punkten nicht einigen konnten, ist bei der vorhandenen Wesenssympathie eigentlich gleichgültig. Max Müller disputierte noch immer nicht. Eine Berührungsmöglichkeit mit Seelen wie Ploetz und Simon, erklärte er einfach, habe er nicht. Carl und ich haben dagegen immer gesucht, die Grenzen des von ihnen entschieden vertretenen wissenschaftlichen Materialismus zu überschreiten, indem wir zugleich ihren allezeit betonten Atheismus bekämpft haben. Ich glaube, auch Carl war, wie ich, damals schon hinter das Oberflächenwesen gewisser Worte gekommen und sah mehr in den Menschen als das Bild, das sie selbst von sich zeichneten und verzeichneten. Jedenfalls wirkten damals die Zentripetalkräfte in uns stärker ineinander, als es die zentrifugalen taten. Wir ließen durchaus nicht voneinander, wenn es auch vorkam, daß Gegensätze beim Nachhausewege auf der Straße noch nach Ausgleich suchten und der aufgehende Morgen das Wortgefecht noch immer im Gange sah.

Gewiß: wilde Gärungen, Geisire verwegener Gedanken, phantastische Wollungen, Sturm und Drang! Das verzweifelte Ringen um Antwort auf die Frage, ob der Wille frei oder unfrei sei, hörte nicht auf, womit zugleich die Frage erledigt war, ob es überhaupt einen Willen gebe oder nicht. – Aber es ist nicht das, was hier wichtig genommen werden muß, sondern das Wesen solcher streitender Jugendbünde, das eben im männlichen Eros beschlossen ist.

Ließen sich doch jederzeit die Ingredienzien solcher Gespräche, Probleme und Lösungen, wie gang und gäbe Rezepte für Getränke, zusammenstellen.

Das Wesen der Ehe, das Wesen der Freundschaft wurde diskutiert. Und hier war allerdings eine unmittelbare Lebensnot vorhanden: Carls Hochzeit warf ihre Schatten voraus. Dem Studenten der Philosophie war nicht unbekannt, durch welche Definition Immanuel Kant die Ehe entheiligt hat. Aber wir Idealisten sagten, das sei es nicht, nicht die vertragsmäßig festgelegte Sexualität, sondern auch in die Ehe müsse Freundschaft als Tragendes und Veredelndes eindringen.

Man hatte Angst vor der Abtötung der Fülle des geschlechtlichen Lebens zugunsten einer einzigen Frau. Der Mann sei polygam, es wäre das physiologisch durchaus begründet, und so habe die Frau als Freundin die Pflicht, dem Manne einige geschlechtliche Unabhängigkeiten zuzugestehen.

Dialektisch waren wir alle nur oberflächlich geschult. Von den ungeheuren Raffinements der Kunst begrifflichen Denkens wußten wir nichts. Liest man die Schrift des Aristoteles über Melissos, Zenon und Gorgias, so kann man der Meinung zuneigen, selbst Platon habe den Männern dieser Kunst das Wasser nicht gereicht. Wir kochten nur so von geistigen Gärungen, waren also immer noch mehr Most als Wein.

 

Die Vorbereitungen zu Carls Hochzeit machten mich nötig auf Hohenhaus.

Dort wurden wiederum nicht zu vergessende Zeiten gelebt. Ein volleres, unbeschwerteres Liebes- und Jugendglück ist gewiß nie von jemand genossen worden. Ebensowenig wird der alte, herrliche Bischofssitz nachher auch nur ähnlich frohe, überschwengliche Tage gesehen haben. In dem weiten Park an der Berglehne, der so mannigfache Landschaftsverstecke bot, hinter seiner alten schützenden Mauer, bin ich damals wieder ein Knabe gewesen. Nur daß ich nötigenfalls nicht mehr unter das Auge der Mutter, sondern unter die dunklen Blicke einer Geliebten und in ihre Arme flüchtete.

Wie oft hatte ich als Knabe unter rätselhaften Schauern einen ähnlichen Zustand herbeigewünscht! Er war nun wirklich und wahrhaftig da.

Ein Unfug stiftender Nichtsnutz, streifte ich meistens mit dem Tesching im Parke umher. Nach und nach wurde ich fast ein Kunstschütze. Auf große Entfernung schoß ich mit erbsengroßer Kugel den obersten Trieb der Fichten ab. Nur die Geliebte wußte, wer der Baumfrevler war, wenn die Schwestern sich über den Schaden wunderten, dessen Entstehung sie nicht begreifen konnten.

Leider schoß ich auch kleine Vögel tot, ich darf es nicht einmal verraten, welche Arten. Würger und Nußhäher hielt ich für Schädlinge, weshalb mein Gewissen sich weniger belastet fühlte, wenn ich sie aus der Luft herabholte, Geschöpfe, die sich des Lebens wohl um eben die Zeit in gleicher Unbeschwertheit erfreuten wie ich.

Papa Thienemann seligen Angedenkens liebte die Fahnenmasten. Er hißte im sächsischen Hohenhaus gerne die Reichsflagge, und die Töchter taten ihm nach. Sowohl neben dem alten, hochbedachten Hause wehte das Schwarzweißrot wie auch über dem Turm der Burgruine, in dessen Nische Mary und ich die ersten Küsse getauscht hatten. Da reizte es mich, meine Kunst auf die Probe zu stellen und weit oben am Mast die Flaggenschnur durchzuschießen. Ich höre noch heute das seltsame Singen der auseinanderspringenden Schnurenden, als es beim ersten Schuß gelang.

Ein Vetter der Mädchen, Fritz von Rogister, wartete ebenfalls auf Hohenhaus die Hochzeit ab. Etwas Besseres konnte dem schönen Menschen im Pagenalter nicht passieren. Er war ein Bewunderer meiner Kunst, auch im Scheibenschießen konnte er gegen mich nicht aufkommen. Sein Vater war bayrischer Major und er für die Militärkarriere bestimmt.

Ich war grausam genug, einem Eichhorn, das vorwitzig mit der Schnute über einen Starkasten aus dem hohen Nußbaum herunterblickte, eine Kugel durch das Mäulchen ins Hirn zu senden. Die Reue kam nach: sie änderte an dem Vergehen nichts.

Carl hatte den Rock des Königs ausgezogen. Eines Tages, durch unsere Leidenschaft angesteckt, schoß er mit der Doppelflinte aus dem gut versehenen Hohenhauser Waffenschrank mit sicherer Hand einen Nußhäher. Er stampfte, als der Vogel mit karmesinfarbenen Blutperlen im köstlich bunten Gefieder vor ihm lag, mit den Füßen, brüllte und wütete und verwünschte uns alle, die wir ihn, wie er meinte, zu diesem Bubenstreich veranlaßt hatten.

Auch ich ging oft mit der Doppelflinte aus. Tagelang lauerte ich einem Wespenbussard auf, der immer wieder über der kleinen, mit einer Glocke versehenen, aus rohen Fichtenstämmchen gemachten Kapelle schwebte, die auf Steingeröllen am Berge stand. Das Herzklopfen wollte mich zersprengen, als ich, den Finger am Drücker, lag, bevor ich, leider vergeblich, abdrückte.

Der Wespenbussard wurde vom Gärtner in der Falle hernach gefangen und hat, ausgestopft, mein Zimmer lange Jahre geschmückt.

 

Ich lebte also, wie ich mir eingestehen muß, gedankenlos meinen Urinstinkten hingegeben: Spiel, Jagd, Liebeslust.

Gerade darum fehlte mir nichts. Wiederum hätte es mögen immer so fortdauern.

Kein Wunsch wurde laut, er hätte ja doch nur störend gewirkt.

Die Geliebte pflegte immer gegen die zwölfte Stunde mit einem schönen Pokal in das sogenannte Burggärtchen zu gehen. Er war zur Hälfte mit Wein gefüllt. Sie selber, die Dunkle, von Schmetterlingen umflogen wie der Pokal, hielt diesen unter ein efeuumsponnenes Löwenmaul, bis er, von kaltem Wasser fast überfließend, mir von ihren lieben Händen gereicht wurde. Kein Trunk in der Welt, der labender sein konnte!

 

Carls Hochzeit kam, sie ging vorüber. Martha und ihr Gatte reisten nach Zürich ab, wo ein kleines Häuschen auf sie wartete. Mein Bruder suchte Verbindung mit dem Philosophen Richard Avenarius und liebäugelte mit der Universität, um vielleicht zunächst als Privatdozent dort zu wirken.

Es wurde nun still im alten Hohenhaus, nachdem es eben noch laut gewesen war, laut von den Streichen des Pagen Fritz von Rogister, die er den schönen Freundinnen der Geschwister Thienemann in aller Unschuld spielte, von Kostümierung, Einstudierung und Theaterspiel, vom Abschiedsgesang der alten Burschenherrlichkeit durch Carls Freunde und Kommilitonen, von Festreden, die das »Impavidi progrediamur!« endlos variierten. Und nun in der Stille kam die Liebe in ihrer höchsten Süße und Schwermut über mich und Marys Wesen und wurde im Welken des Herbstes zutiefst erlebt.

Der schönste Sommer klang lyrisch aus. Die Weinlese war vorüber, wir lasen uns Herbstfäden von den Kleidern. Die wehe Süße der Vergänglichkeit kam über uns, es regte sich der Dichter in mir. Die wirkliche Windharfe, die sich über der kleinen Kapelle bewegte, klang lauter und lauter, aber obgleich auch in mir alles schmerzvoll selig klang, konnte ich nichts von alledem festhalten: nur Mißlungenes brachte ich zu Papier.

Die Zeit des seligen Vegetierens war aus. Mehr und mehr regten sich alte Wollungen. Es zitterte etwas vom Vorgefühl eines neuen Anlaufs in mir. Man mußte doch eben wieder hinein, in den verantwortungsvollen, düsteren Kampf, in ein Leben der Spannungen und Belastungen.

Ich hatte ein kleines Gedicht im Kopf, das nicht gut zu hören war und die ruhestörenden Geisterrufe schilderte, die aus dem weiten Elbtal heraufklangen. Sie standen mit den brausenden Eilzügen und ihrem Heulen in Zusammenhang. Nach den Zügen maß man auf Hohenhaus die Stunden. Sie rasten nach Dresden von Berlin und rasten von Dresden nach Berlin.

Es war Berlin, das mich und mein Schicksal damals anforderte.

 

Weil ich die See gefürchtet hatte, war ich in Hamburg zur See gegangen. Weil sich Berlin wie ein ungeheurer, rätselhafter, düsterer Wirbel vor meine Seele gedrängt hatte, zog es mich unwiderstehlich dorthin. Dort mußte man schwimmen, kämpfen, bestehen lernen: oder man mochte untergehn.

Wie konnte dies aber über mich kommen, nachdem ich doch eben noch wunschlos gewesen war und mein Glück in bloßer Naturnähe, Liebe und Einfalt gesehen hatte? Hatte ich nicht vermieden, auch nur einen Seitenblick auf die Anmaßungen meiner bildnerischen Ziele zurückzuwerfen? Und kam mich, wenn es von ungefähr geschah, nicht ein Zittern an? Brachte mir nicht der Gedanke an das ewige Blau eines Himmels die schwärzeste Melancholie und einen Schauder, als ob ich mir, dem Pygmäen, eine der Arbeiten des Herakles zugemutet hätte? O nein, ich wollte nicht mehr den Gefesselten Prometheus spielen! Vielmehr graute mir vor ihm. Jetzt stürzte ich mich blind in diese mir Furcht erregende Stadt hinein, wo ich nur Großes und Arges ahnte.

Und ich war des gewiß: es mußte sein.

Und wirklich: der Wirbel packte mich fürchterlich. Ich wußte nicht, als ich Mary verließ, welche gefährliche Spanne Zeit ich vor mir hatte. Und ebensowenig wußte Mary, daß sie, anstatt mich schon jetzt mit kluger Vorsicht im Häuslichen einzufangen, nochmals mein Leben aufs Spiel setzte.

 


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