Gerhart Hauptmann
Das Abenteuer meiner Jugend
Gerhart Hauptmann

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Neunundzwanzigstes Kapitel

Eigentlich war mir recht schlimm zumute.

Gerade jetzt krank zu werden, sträubte ich mich. Ich hatte geschuftet, hatte gedarbt, hatte die Geliebte entbehrt, hatte fast gar nichts von Rom gesehen. Und nun, als etwas wie Lohn, Aufatmen, Lebenslust, Befreiung, beglückende Erfüllung, göttliche Pflichtpause eingetreten war, sollte an mir Raub geschehen und mich womöglich der kläglichste Niederbruch überkommen? Nein, ich kämpfte dagegen, ich steifte, ich sträubte mich gegen das, ich ging nicht darauf ein, ich mochte das nicht.

Ein wirklich kindlicher, übermütiger Geist hatte die Schwestern erfaßt. Sie sprühten von guter Laune und Lustigkeit. Ich war Hahn im Korbe, wurde von ihnen als Stütze und Stab, Vater und Mutter, Bruder und Geliebter, kurz alles in allem angesehen. Jeder Schritt, den sie taten, den ich sie führte, brachte ihnen und mir die gleiche Bezauberung und mir überdies ihre Erkenntlichkeit.

Es war unmöglich, diesen schönen Aufschwung, diesen herrlichen Übergang ins Frühlingshaft-Unbeschwerte hinein plötzlich ins Gegenteil verwandelt zu sehen. Ich fiel mit meinen reizenden vier Schwestern überall auf. Die Gespenster des Hasses und der Verfolgung verflüchtigten sich. Auch sahen Leute aus den Kreisen, die sich anpirschten, zu ihrem Erstaunen, wie mein Einfluß im Kreise der liebenswerten Schönen nicht zu brechen war.

In Florenz hatte diese ein argentinischer Krösus attackiert. Er hatte im Theater, wo Salvini spielte, eine Loge genommen, die ein kleines Vermögen kostete. Aber die Damen hatten nicht genügend Humor, seine Einladung anzunehmen. Da drang der lebhafte Spanier in ihre Zimmer ein und beschwor sie, sich den Genuß doch nicht entgehen zu lassen. Er lege allen zusammen und jeder einzelnen sein Herz und sein Vermögen zu Füßen, sagte er.

Vom Hoteldirektor hinauskomplimentiert, machte er dann nach kurzem einen neuen Ansturm, wobei der enttäuschte feurige Witwer an verschlossenen Türen rüttelte und seine lauteren Absichten wiederum lange und leider vergeblich beteuerte.

 

Wir hatten eine Loge zu »Carmen« genommen. Während der Vorstellung wuchs mein Übelbefinden und meine Müdigkeit, ich wurde oft von Frost geschüttelt.

Als das Theater vorüber war, klingelte ich meinen Freund, einen jungen Apotheker, heraus, dem ich mein Leid klagte und der mir einen wahrscheinlich Chinin enthaltenden Apothekerschnaps einflößte. Ich beschloß hierauf, gegen ein Uhr nachts, mich selbst zu kurieren, und zwar durch einen willensstarken, mindestens eine halbe Stunde währenden Dauerlauf. Ich ließ nicht nach, als ich in Schweiß geriet und vom oberen Ende der Spanischen Treppe bis zum Bahnhof gelaufen war. Ich rannte den gleichen Weg zurück, worauf ich stärker ins Transpirieren kam. Ich hörte mich atmen, ich hörte mich keuchen. An der Spanischen Treppe kehrte ich abermals um.

Wieder lief ich durch die ausgestorbene Via del Babuino bis zum Bahnhof zurück.

Ich machte kehrt, bog dann in Capo le Case ein, fand mein Haus, tastete mich die Treppe empor und fiel buchstäblich tropfend auf meine Feldbettstelle.

 

Am Morgen wachte ich mit Höllenschmerzen im Kopf und in der Kopfhaut auf. Ich rief nach Hilfe. Meine Wirtin wußte nicht, was sie beginnen sollte. Schließlich wurde Mary verständigt.

Ich hatte sie und die Schwestern mit einem jungen, untersetzten Architekten namens Nußbaum bekannt gemacht. Er hob sich aus seiner Umgebung heraus und war bei den Damen gern gesehen. Mary hatte sich in ihrer Bestürzung an ihn gewandt, als sie von der Nachricht meiner schweren Erkrankung erreicht worden war. So erschien er bei mir an ihrer Seite. Der Typhus ging damals um in Rom, und meine Wirtin verlor ihre Liebenswürdigkeit aus Furcht vor Ansteckung. Sie schrie, sie wolle mich aus dem Haus haben. Ihr Wunsch war mit Hilfe des Architekten sogleich erfüllt. Ihm sei nicht vergessen, wie er damals meiner Braut und mir beigestanden hat. Beide zogen mich an, eine Droschke wurde bestellt, und der kräftige brave Nußbaum hat mich buchstäblich auf seinen Armen die Treppe hinunter und in den Wagen getragen. So erreichte ich dann mit Mary und ihm an der Seite das Krankenhaus.

Als wäre es heut, erinnere ich mich, wie der Wagen sich langsam durch die Masken des Korso Platz schaffen mußte. Allerlei Larven guckten durch die Fenster herein, und Lapilli regneten ständig dagegen. Meine einzige Sorge, die ich fortwährend äußerte, war, den kommenden Maskenball zu versäumen und meinen geplanten König Lear.

Das hohe Fieber raubte mir das Bewußtsein nicht. Als mich die graue Schwester in dem anheimelnden Raume des Krankenhauses mit freundlichem Zuspruch entkleidete, dachte ich auch hier nur an König Lear. Daß ich krank war, störte mich nur: von der Schwere des Übels, dem ich verfallen war, wußte ich nichts. Auch während der Untersuchung betonte ich gegenüber dem Arzt, ich müsse dem kommenden Maskenball im Künstlerverein durchaus beiwohnen. Der Medikus widersprach mir nicht.

 

Schon als ich in das Zimmer gebracht wurde und die Hände der Nonnen um mich beschäftigt waren, hatte ich seltsamerweise ein lange entbehrtes Gefühl von Geborgenheit. Wenn nicht der Maskenball, meine Braut und die Schwestern gewesen wären, hätte ich mich zufrieden und glücklich gefühlt. Aber die Sehnsucht nach außen ließ bald nach, und ich empfand nur noch etwas Wohliges, wie wenn einem alle Last der Verantwortung von den Schultern genommen ist.

Meine Krankheit wurde als Typhus erkannt. Der verständige Arzt, Doktor Faber, ein nerviger, schlanker, etwa fünfundvierzigjähriger Mann, verhehlte es nicht. Er sagte, es sei ein leichterer Fall, was ich ihm ohne weiteres glaubte, denn ich fand nicht, daß mir schwer zumute war.

Trotzdem war es ein schwerer Fall.

Die Geliebte besuchte mich jeden Tag. Ich bat sie, sich doch den Maskenball nicht entgehen zu lassen, denn ich war nun weder auf ihre möglichen Tänzer noch auf das Vergnügen an sich mehr eifersüchtig. Aber sie schlug es ruhig ab. Ich glaube dagegen, daß die Schwestern auf meine durch Mary übermittelten Bitten hin sich für das Fest entschieden hatten.

Als ich einige Tage meistens schweigend, manchmal mit der Schwester einige Worte wechselnd, nur von einigen Löffeln Rotwein ernährt, im Bett zugebracht hatte, war ein großer Friede in mir. Ich war nicht verlobt, ich wollte nicht heiraten. Ich hatte keinen alten Germanen aufgebaut, und er war auch nicht zusammengestürzt. Keine Bildnerwut hatte mich je unterjocht, noch war ich durch klägliche Intrigen meiner Kunstgenossen geärgert oder gepeinigt worden. Niemand hatte mich weder erkannt noch verkannt, wo ich doch so oft unter Verkennung gelitten hatte. Der enge Weg zwischen hohen Mauern, die keine Aussicht nach rechts und links verstatteten, war in eine freie Ebene ausgelaufen, die Auge, Seele und Herz beschränkenden Mauern waren nicht mehr. Bei alledem war eine herrliche, heilige Ohnmacht in mir, in der ich mich unsäglich wohlfühlte.

Vielleicht war diese Krankheit eine Maßnahme der Natur und nicht allein von den Bakterien meines Freundes Dietrich von Sehlen hervorgerufen. Vielleicht war sie eine Notwendigkeit, die mein ferneres Dasein möglich machte.

Die Geliebte sah, wie ich vermute, das römische Intermezzo als einen Fehlschlag an: ich ebenfalls – und auch wieder nicht. Ich war ein Narr, der sich selbst bei weitem überforderte. Es fing mir aber langsam zu dämmern an, daß man ohne alle Hast einer Kunst Jahre und Jahrzehnte opfern muß, wenn man ihr wahrhaft dienen will.

Es war viel erreicht, wenn allein nur diese Erkenntnis erreicht wurde.

Erwägungen dieser Art wurden von mir erst längere Zeit nach meiner Gesundung angestellt. Den Weg zum Krankenbett fanden sie nicht. Es war, als wenn ich vor ihnen durch eine Wache von Engeln geschützt wäre. Anscheinend hatten diese Engel keine weitere Macht über mich, sie waren unfähig, einen liebenswerten Patienten aus mir zu machen. Nach dem Schlußzeugnis von Schwester Balbine, einem pausbäckigen Tiroler Bauernmädchen, war ich das nicht.

Man kann nicht sagen, sie war intelligent. Über diese und jene unkluge Nachlässigkeit in der Pflege mag ich mich beklagt haben. Ein Gesunder von derber Natur weiß nicht, wie der Kranke leidet, der in seinen quälenden Bedürfnissen ohne Echo bleibt. Ansprüche, Klagen haben jedoch der höchstens neunzehnjährigen Nonne das Leben nicht eigentlich schwer gemacht. Sie leicht zu nehmen, hatte sie Schulung genug: ein Kranker ist ja nur teilweise zurechnungsfähig.

Es war etwas da, womit ich sie peinigte.

Es mochte meine eigene, lazarushafte Sehnsucht sein, wenn ich mir beim Anblick Schwester Balbinens immer Hochgebirge, enzianbestandene Bergwiesen und Sennhütten vorstellen mußte. Die Kleidervermummung der Nonne hinderte nicht, in ihr die Sennerin zu sehen, die in stählerner Luft die Milchkuh molk und mit den stolz auf die Schultern erhobenen gefüllten Eimern nach der Hütte ging, während von der Talwand gegenüber durchdringend der Jodler des Liebsten erscholl. Ich sagte ihr das, und das machte sie unruhig.

Aber noch mehr: ich sagte ihr, daß sie mir leid tue. Ob sie sich nicht manchmal nach dem naturgemäßen, herrlichen und gesunden Leben auf Bergeshöhen zurücksehne, fragte ich sie. Ich könne sie eigentlich nicht begreifen, bekannte ich ihr: aber dies alles nicht etwa in einem Zug, sondern im Laufe der langen Pflege.

Weil ich krank, weil ich selbst vom Leben ausgeschlossen war, das mir nun keineswegs mehr im Kneten von Tonpuppen bestand, begriff ich nicht, wie man die Sünde begehen konnte, sich freiwillig seiner zu begeben. Wie konnte man dieses köstliche Dasein schnöde fortwerfen, in das man hineingeboren war! Ich malte ihr, dem Bauernkinde, und mir alle die Freuden, die es aufgegeben hatte, wieder aus: das klare und kalte Wasser des Baches, der über Steine herabgurgelt, das Grün der Matten, das der Morgentau mit dem blitzenden Grau von Myriaden Diamanten überzieht. Vom Schrei des Falken, vom Schrei des Adlers sprach ich ihr. Kurz, diese nach Heu und Lavendel duftende, durch Gelübde gebundene, ihrer wahren Bestimmung entzogene Sennerin konnte sich meinen immerwährenden Paraphrasen über das Leben nicht entziehen:

»In der heiligen Luft, wo der Adler sich sonnt . . .«

Eine gewisse Hast und Unruhe an ihr war nicht zu verkennen, wenn sie morgens und abends zur Messe ging. Ich bin gewiß, sie in Anfechtungen verwickelt zu haben. Ich wußte, sie beichtete alles ihrem Seelsorger. Liebte sie mich vielleicht, und hörte sie es am Ende gern, mein Verführerlied auf der Hirtenflöte?

 

Währenddessen wurde vom Arzt, auf Veranlassung Marys, das erste, das zweite, das dritte, das vierte Bulletin an meine Eltern gesandt, da er das Schlimmste zu befürchten Grund hatte. Da hieß es, daß der Zustand besorgniserregend sei. Es hieß, er sei weiter besorgniserregend. Es hieß, man müsse sich auf das Schlimmste gefaßt machen, und so wurde zuletzt meinen Eltern nahegelegt, sie müßten sich eilen, falls sie mich noch am Leben antreffen wollten.

Dieser Lage, von der ich nichts ahnte, entsprach bei mir nicht die geringste Beängstigung. Ich fühlte mich selten so sicher und gleichmäßig.

Ich lebe noch, also ist es von einem gewissen Punkt an wiederum mit mir aufwärtsgegangen. Eines Tages hieß es, ich sei aus der Gefahrenzone heraus.

Dietrich von Sehlen fand als Arzt mit dem behandelnden Kollegen Zutritt zu mir. An meinem Unterleib wurden noch einmal die äußeren Zeichen des Typhus geprüft, die im Schwinden waren. Nun kam eine lange, durch Schwäche, aber allmählich auch durch Hunger peinvolle Zeit. Nur in äußerst geringen Dosen durfte mir Nahrung verabreicht werden. Aus dieser Zeit ist mir der eigensinnige, wütende Kampf mit der Schwester um einen Bissen mehr oder weniger erinnerlich; sie wußte sich manchmal kaum zu helfen.

Wenn sie mir von dem plötzlichen Tod eines genesenden Typhuskranken erzählte, weil Verwandte ihm ein Stückchen Wurst zugesteckt hatten, so beschwichtigte das weder meinen nagenden Hunger, noch belehrte es mich. Ich brachte sie eines Tages so weit, daß sie selbst ihrem Mitleid nicht mehr gebieten konnte und mir, statt eines, zwei weiche Eier bewilligte.

 

Nun erst, seit die Krise hinter mir lag und ich mich nur noch durch Schonung zu stärken hatte, begriff ich langsam, was mit mir vorgefallen war. Und nun erst kam mich im Rückblick auf die Todesnähe, in der ich gestanden, Schaudern an.

Meine Gedanken umkreisten den Tod. Es war, als habe er mich besucht und, nachdem er gegangen, irgend etwas, sagen wir: einen Strauß von Asphodelosblüten, im Krankenzimmer zurückgelassen.

Alles, was ich vom Tode wußte, fiel mir ein. Jener geschmückte Tischler in schwarzem Rock und weißer Binde, die Sohlen der neuen Schuhe mit der Glasscherbe abgeschabt, den ich im Sarge erblickt hatte, die mit einem Tuche verdeckte Masse des Großvaters, umgeben von Eisblöcken, in einem Hintergemach vom Dachrödenshof. Alles, was sich um den kleinen Georg Schubert herumbewegt hatte, kam über mich. Und ich sah wieder das schwarze Kreuz aus Streitberggranit mit den Worten »Dein, Herr Jesu!«, das wie ein düsteres Symbol über meiner Lederoser Landwirtszeit gelegen hatte, dieser Epoche, wo dumpfe, ins Bewußtsein dringende Triebhaftigkeit des Liebeslebens immer bereit war, in Weltverneinung und Tod umzuschlagen.

Aber auch die Kupfer aus Lessings »Wie die Alten den Tod gebildet« fielen mir ein: ein nackter, geflügelter Knabe, der seine brennende Fackel gesenkt hatte. Und alles glättete sich in der Schönheitsstille Hölderlins, dessen »Hyperion« mir meist nur der Schlaf aus den Händen nahm.

In jenen Wochen der Einsamkeit auf dem Kapitol, dessen Geister mich damals nicht besuchten, habe ich über den Tod viel nachgedacht. Die christliche Auffassung von dem Tod als dem schrecklichsten der Schrecken deckte sich mit meiner Erfahrung nicht. Ohne die allergeringste Todesfurcht war ich dem Tode ganz nahe gewesen. Es gibt Krankheiten, die mit grauenvollen Schmerzen dennoch ins Leben zurückführen, woraus erhellt, daß Tod und Schmerz zwei getrennte Dinge sind. So würde ich diesmal, wäre es für mich bestimmt gewesen, ahnungslos und schmerzlos verschieden sein. Und von einer qualvollen Krankheit mit schrecklichster Todesangst hätte ich trotzdem wieder genesen können. Der schmerzlos heitere Zustand ebenso wie der qualvoll beängstigte gehören ganz und gar dem Leben an, und sie werden beide erlöschend vom Tode abgelöst.

Ich wandte mich immer wieder in nie versiegender Griechensehnsucht den reinen Gefilden der Schönheit zu, nach denen meine Seele auch schon in Lederose gedrängt hatte. Das kleine Jugendgedicht, von »jener Schöpfung herrlicher Fülle, wo liebend alles sich umschlingt und nur ein einziger hoher Wille mit Donnerton das All durchdringt«, ist ein Zeugnis dafür. Und wenn ich im Äther von Hölderlins »Hyperion« lebte, so war ich bereits in jenem Element, das ungeschieden das hohe Diesseits mit dem hohen Jenseits verband. Der Tod war nicht einmal als dunkles oder goldenes Tor stehengeblieben.

Von den Ereignissen des vergangenen Winters hatte mich die Hand des Schicksals durch meine Krankheit losgelöst. Ohne Freud und Leid konnte ich auf sie zurückblicken. Was ich dabei gewonnen, was verloren hatte, berührte mich weiter nicht. Weder war ich niedergedrückt, noch durch eine ideelle Bilanz befriedigt. Ich hätte jetzt nicht begriffen, weshalb man den Koloß eines alten Germanen aufbauen sollte, ebensowenig, wie der Sturz eines solchen Kolosses jemand aufregen kann.

Ich war auch eigentlich nicht mehr in Rom, die heimischen Penaten gewannen Macht über mich.

 

Ich träumte vom Gasthof zur Preußischen Krone, ich flog in den Nächten treppauf und treppab, die Korridore hin und her, die überirdisch gewaltige Ausmaße annahmen.

Ich wollte den Norden, ich gierte förmlich nach Frische, Kälte, Eis und Schnee.

Und ich hatte Sehnsucht nach meinen Eltern.

Es schien, als ob meine ganze Kindheit wieder auferstanden sei und als ob ich mit einem leichten Verzicht alles andere aufgeben könnte, wenn es möglich wäre, das alte Leben bei Vater und Mutter einzutauschen.

Die Geliebte befremdete das. Ihre Schwestern waren nach Capri übergesiedelt. Sie befürchtete, da die Eltern nun dauernd in Hamburg lebten und ich dahin zu gehen beabsichtigte, mit Recht, das dort noch herrschende Winterklima könne mich schädigen. Aber ich war nicht umzustimmen, zumal der Arzt sich auf meine Seite schlug. Er sagte Mary, wenn die Natur in einem Kranken einen so starken und bestimmten Wunsch erzeuge wie in mir den, Schneeluft zu atmen, den Norden und meine Eltern wiederzusehen, so sei es gut, ihn zu respektieren.

Der Klimawechsel werde mir denn auch heilsam sein.

Während meiner letzten Phase im Krankenhaus war der Frühling, dann der Frühsommer mit einer großen Schwüle eingetreten.

Dieselben Geräusche, die ich, an mein Bett gefesselt, täglich zu hören bekam, dasselbe Geschrei derselben spielenden Kinder unter den Fenstern waren von unerträglicher Monotonie. Zwar wurde ich immer wieder durch die Lektüre des »Titan« von Jean Paul weit entrückt, lebte in und mit seiner göttlichen Seele und Schöne, aber schließlich wurde auch dieses Buch, das ich damals an die Seite von Goethes »Faust« stellte, zugeklappt. Ich habe es nie mehr aufgeschlagen.

Eine Tür meines Zimmers führte auf eine große Loggia hinaus, die sich nach und nach in Lasten von blauen Glyzinen hüllte. Als man mich dort auf einen Liegestuhl betten konnte, vernahm ich das schwere, schwelgende Bienengesumm den ganzen Tag, zumal noch ein herrlicher Apfelbaum, von dicken, mattrosigen Blütenschichten verdunkelt, einen Teil der Loggia verhüllte. Vom Garten herauf drang Leuchten von tausend grellen Blüten und mit dem Anhauch vieler wechselnder Lüfte starker Blumenduft. Nun lag ich dort, immer noch von äußerster Schwäche heimgesucht, jeder Eigenbewegung fast noch unfähig, in erzwungener Hingabe an die heiße Frühlingsnatur, immer noch von der verkleideten Hirtin, Schwester Balbine, betreut.

 

Endlich kam ich doch auf die Beine und konnte sogar in das Gärtchen hinab. Von seinem Rande, wahrscheinlich dem Rande des Tarpejischen Felsen, konnte ich auf das Forum Romanum hinunterblicken und Römerphantasien nachhängen. Es war nur natürlich, wenn der Schatten des Kaisers Tiberius mich wieder heimsuchte. Er stellte sich mir als der große gescheiterte Reformator dar, den ebendieses Scheitern verdüsterte und vergiftete.

Es kam dann der Tag, wo ich, geführt von Mary und Nußbaum, das kapitolinische Krankenhaus verließ und so in die Welt zurückkehrte.

Professor Otto, der römische, nach Haertel zweite Asathor, von dem ich in seinen Werkstätten Abschied nahm, riet mir dringend, in Rom zu bleiben. Auch er habe seine Akklimatisationskrankheit zu bestehen gehabt. Nun sei ihm das römische Klima durchaus nur wohltätig. Aber der arme, schöne und ganz persönliche Mensch war, wie man wußte, lungenkrank. Er starb sehr bald und hat nicht einmal sein Lutherdenkmal, dessen Gestalten in Gips und Ton ihn damals umgaben, vollenden können.

 


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