Gerhart Hauptmann
Das Abenteuer meiner Jugend
Gerhart Hauptmann

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Siebentes Kapitel

Mit dem unauslöschlich schmerzhaft geprägten Bilde Anna Grundmanns im Herzen ging ich dann nach Breslau zurück. Meine Vorstellungswelt hatte einen neuen, unsterblichen Gast bekommen.

Ich war nun der allgemeinen Haertelschen Bildhauerklasse zugeteilt und hatte mit drei anderen Schülern, Litt, Sabler und Basse, ein und denselben Raum inne. Das Zusammenleben mit diesen drei Kunstjüngern, die mir von Anfang an Mißgunst bis zur offenen Feindschaft entgegenbrachten, war in keiner Beziehung leicht. Litt, ein kleiner verwachsener Mensch, überragte die anderen nicht nur an handwerklicher Tüchtigkeit, sondern auch an Intelligenz. Das machte ihn mir gegenüber damals um so boshafter. Da Haertel von ihm am meisten hielt und ihn mehrfach im eigenen Atelier als Gehilfen verwendete, was wohl nicht mehr so häufig geschah, seit der Professor seine Gunst mir zuwandte, hielt er sich für verdrängt und war gewillt, sich an mir zu rächen. Zunächst geschah dies in allen Formen von Unfreundlichkeit. Er glossierte, was ich auch immer sprach, wies mich ab, wenn ich ihn um Rat fragte, verhöhnte und verspottete mich, aber dachte nicht daran, mich zu belehren, wenn ich etwas im Sinne des Handwerks unrichtig anfaßte.

Er redete mit Basse und Sabler in einer Geheimsprache, die ich verstehen sollte, weil es auf diese Weise leicht wurde, mich in einer immerwährenden Kette von Beleidigungen durch den Schmutz zu ziehen. Die gröbsten Schimpfworte, Erniedrigungen, ja Drohungen mußte ich mir nach dem Grundsatz »Wen's juckt, der kratze sich!« in die Tasche stecken. In diesem Trio gor der Neid. Natürlich war es für mich nicht leicht, in seinem giftigen Dunstkreis zu atmen, am wenigsten jetzt, wo mich das Erlebnis in Lederose einen Blick in andere Bereiche hatte tun lassen.

Wie schauerlich war der Gegensatz! Wenn ich mich in mich selbst verschließen, in meiner Arbeit vergessen wollte, verstummten die Hecheleien und Sticheleien keinen Augenblick, wobei die Absicht, mich hinauszuekeln, nicht zu verkennen war.

War dieser Zustand an sich wenig anheimelnd, so steigerten ihn die Zutaten, die Basse ihm vermöge seiner Natur beimischte, bis zur Unerträglichkeit. Wenn man auf zwei oder drei Seiten gemeinste Worte für gemeinste Dinge zusammenträgt, so hat man das Musikstück, das Basse ohne Aufhören spielte. Was ging es mich an, wenn er Nacht für Nacht bei einer Prostituierten endete? Aber ich mußte den ganzen Morgen über anhören, wie diese »Sau«, dieses »Schwein« sich benommen, was dieses »Aas« gefordert hätte oder wie er sie geprellt hatte. Der Vorgang selbst, in nicht wiederzugebenden Ausdrücken und mit den letzten Intimitäten vorgetragen, von den Hörern mit wieherndem Lachen begleitet, wurde breitgetreten, und zwar um so mehr, wenn ich nur im allergeringsten merken ließ, daß mich das peinigte.

Basse leistete, abgesehen von seiner nicht zu ermessenden Zotigkeit, das Äußerste an persönlicher Schamlosigkeit. Der vielleicht nicht häßliche junge Mensch gähnte, rülpste, nahm keinen Anstand, laut oder leise die Luft zu verpesten, und demonstrierte womöglich ad oculos, wo und wie er sich krank gemacht hatte. Es war nicht leicht, nach den Tagen mit Carl und nach denen in Lederose, in dieser Kothölle auszuhalten. Natürlich sprachen die drei Unflatspezialisten nicht nur von den Prostituierten als von unsauberen Tieren, sondern sie dehnten dieses Urteil auf alle Frauen aus. Ja, wie die dunklen Burschen sich mitunter in ihre Besudelungsphantasien hineinsteigerten, konnten sie ohne Zögern behaupten, daß nicht der geringste Unterschied zwischen irgendeinem Weibe und einem gewissen Orte sei.

Als es wieder einmal bis zu diesem Ausspruch gekommen war, konnte ich mich nicht enthalten, einem dieser Musterknaben gegenüber die Frage zu tun, ob er vielleicht eine Mutter habe, und auf die etwas verdutzte Antwort »Warum nicht? Jawohl!« die Versicherung abzulegen, ich hätte niemals auch nur den geringsten Zweifel gehegt, daß er sie bei dem eben Behaupteten stillschweigend ausnehme.

Aber das Treffende eines Einwurfs und das Eintreten für das Anständige, für das Menschliche steigert bei dieser Art Leuten nur die Erbitterung. Und so kam denn auch hier bald der Augenblick, wo ich wiederum einen Ausbruch von Roheit in das Buch meines Lebens verzeichnen mußte. Alle drei Banditen stürzten plötzlich über mich her, der ich nichtsahnend an meiner Arbeit bosselte, und es gab eine wilde Prügelei.

Litt suchte mir einen blechernen Behälter mit schmutzigem Wasser über den Kopf zu stülpen, die beiden anderen fielen mich von vorn und hinten an.

Aber als der Lärm des Gefechtes seinen Gipfel erreicht hatte, pochte es lauter und lauter an die von den Verschworenen verschlossene Tür, bis geöffnet wurde und Haertel plötzlich mit seinem roten Barte unter uns stand.

Er begriff, was vor sich gegangen war, gab es den dreien mit scharfen und klaren Worten zu hören, drohte mit Relegation, und der Friede war plötzlich hergestellt, seltsamerweise für die ganze Folgezeit meines Breslauer Aufenthaltes.

 

Es war allerdings nichts weiter als ein äußerliches Auskommen. Menschen, mit denen sich reden ließ, hatte ich ja außerhalb der Schule an Hugo Schmidt, Max Fleischer, Josef Block. In der Kunstschule sah man sich nicht, da sie in anderen Stockwerken arbeiteten. Das Kleeblatt in meinem Klassenraum hielt sich von nun ab etwas zurück. Ich hatte mir eine Hornhaut zugelegt, und es war mir gelungen, mein Allerheiligstes einzukapseln und zu verlöten.

Das Wörtchen »Stuß« schwebte damals in der Luft. Wie oft wohl würde ich es gehört haben, hätte ich den mitgeborenen Platonismus in mir nicht zum Schweigen gebracht: ihn und den wirkenden Geist, von dem ich auf dem Wege über Carl aus den begeisternden Vorlesungen Euckens einen Hauch verspürt hatte. Wenn ich das Modellierholz an den Ton setzte oder seinen Flächen mit dem Daumen Leben zu geben versuchte, fühlte ich etwas vom Dienst an der ewigen Form in mir. Viel später erst, als ich Winckelmann kennenlernte, konnte ich mich hierin bestätigen. Auch hier im sinnlich Gegebenen ist es das Ewig-Schöne, dem wir nachstreben, indem wir, in der Grenze zugleich die Form findend, sie vom Chaos ablösen.

In jenen Meditationen, die während der Arbeit nicht abreißen, konnte ich auch vergessen, daß ich nur nachbildete. Nach dem Mythos hat Gott den Menschen aus Ton gemacht. Und wer wollte den Sinn davon verkennen? Da war es mir manchmal, als wäre dies immer noch der göttliche Ton, an dem ich bosselte, und zwar mit nichts Geringerem als des Herrgotts Schöpferhand.

Hätte Basse oder Sabler oder auch Litt von meinen Meditationen gewußt, sie würden sie unter »Stuß« rubriziert haben.

Es ist erstaunlich, welchem Zudrang von Ideen ein junger Mensch in gewissen Jahren standhalten muß und schließlich auch wirklich gewachsen ist. Während ich am nassen Ton den Kultus der Formen trieb, darüber mit meinen Freunden diskutierte, mit dem wenigen, was ich hatte, weiter schlechte Wirtschaft trieb, schwelgerische Hungervisionen ausbaute, meiner Armut irgendwie steuern wollte, die ich nunmehr als Schmach und als unerträgliches Hemmnis empfand, während ich meinen gebrechlichen Körper mit kaltem Wasser zu stärken versuchte, einer Nacktkultur das Wort redete und das Schamgefühl als Unmoral brandmarkte – während ich ein Schauspiel »Germanen und Römer« im Kopf trug, das mir Ruhm, Geld und vor allem Anna Grundmann als Frau verschaffen sollte, fand ich mich auf einmal in den Wirbel politischen Wesens neu hineingestellt.

Alfred Ploetz diente sein Militärjahr ab und studierte zugleich Nationalökonomie. Er stand in einem Kreis, in den er auch mich autoritativ einführte. Der Pangermanist war der Gründer einer harmlosen – aber was ist harmlos in der Politik? – alldeutsch-sozialen Gesellschaft geworden.

Dies und was nicht noch sonst lag verborgen in mir, als ich im Herbst von Tante Jaschke nach Ober-Salzbrunn eingeladen und plötzlich der Mittelpunkt einer kleinen Damengesellschaft im Garten des Kurländischen Hofes wurde.

Es lag etwas Seltsames in der Luft, ich konnte das Tante Jaschke und meiner Schwester Johanna anmerken. Ihre bezugreichen Worte und sprechenden Augen deuteten auf eine Verschwörung hin. Etwas wie ein lustiger Krieg um ein öffentliches Geheimnis schien ausgebrochen. Was für eine Rolle ich dabei zu übernehmen hätte oder schon übernommen hatte, wußte ich nicht. Man behandelte mich wie ein Wundertier, und bald begriff ich, daß mir Tante Jaschke und Schwester Johanna in diesem Kreise einen Ruf als Dichter gemacht hatten.

Freilich kam es mir vor, man sehe in mir nicht einen Erwachsenen, sondern etwas wie ein Wunderkind.

Die Schwester eines Arztes aus Kötzschenbroda, Helene Loß, die bei Tante Jaschke zu Besuch weilte, tat sich darin besonders hervor. Ihr Auge ruhte mit Liebe auf mir, und was sie auch immer sagte und tat, wenn es mich betraf, so fühlte ich mich mit der zartesten Zartheit angefaßt.

Die Septembersonne gab dem kleinen gepflegten Vorgärtchen des Kurländischen Hofes einen köstlichen Reiz. Auf dem buchsbaumumgebenen Rondell mit der riesigen Glaskugel in der Mitte hatten die Rosenbäumchen noch nicht abgeblüht. Reseden und herbstliche Veilchen dufteten, Astern traten ihre sterbensnahe Herrschaft an. In dem hübschen, von Fliegengesumm und Sonnenschein erfüllten Gartentempelchen klapperten silberne Löffel und klirrten Teetassen.

Plötzlich trat da ein behäbiger, älterer imposanter Herr aus dem Hause hervor, der die Geselligkeit der Damen sichtlich steigerte. Sein Mund und Kinn waren ausrasiert, dagegen trug er zwei Bartstreifen nach der längst überlebten Mode der Biedermeierzeit.

Es war der Chef eines ehemaligen Handelshauses, Berthold Thienemann, der sich seit einigen Jahren auf seinen Landsitz in der Lößnitz zurückgezogen hatte.

Nun fiel mir ein, wovon man in Sorgau gemunkelt hatte: den jovialen alten Herrn habe ein Johannistriebchen angewandelt, und das heitere, gebildete, lustige Tantchen Jaschke hätte es ihm angetan. Wirklich war ihr – ein in Ober-Salzbrunn unerhörter Fall – von der Kurkapelle auf Veranlassung eines unbekannten Verehrers eines Sonntags ein Morgenständchen gebracht worden.

Man wollte mich also Herrn Berthold Thienemann vorführen; ohne zu wissen warum, fühlte ich das. Der gutgelaunte, ja lustige Herr war kein Typus gewöhnlicher Art, er hatte durchaus etwas Imponierendes. Den gewöhnlichen Weg gewöhnlicher Menschen, um sich mit mir auf guten Fuß zu setzen, ergriff er nicht, fragte nicht, wie ich denn, achtzehnjährig, schon Hauptmann sein könne, ebensowenig entglitt ihm eine Anspielung auf mein langes Haar. Er hörte gern, daß ich Künstler zu werden willens sei und mich der Bildhauerei befleißige.

»Dann müssen Sie bald nach Berlin kommen«, sagte er, »ich kenne Schaper, ich kenne Begas; Anton von Werner ist mein Freund, und wenn Sie fleißig sind und, was ich glaube, talentvoll, wird ein Wort von mir bei diesen Herren für Ihr Fortkommen nützlich sein!«

Als die Teestunde ihrem Ende entgegenging, fragte mich Helene Loß – sicher war dies abgekartet –, ob ich nicht etwas aus meinem Epos, dem »Hermannsliede«, vorlesen wolle.

»Oh, so haben wir also einen Dichter vor uns«, sagte Berthold Thienemann. »Ich muß gestehen, da bin ich doch neugierig.«

 

Zum dritten Male stand ich mit meinem Opusculum, meinem »Hermannslied«, vor einem Wendepunkt. Ich muß mir sagen, daß es auch hier schicksalhaften Einfluß ausübte.

Mein Vortrag unter der Fassade des Kurländischen Hofes, nahe der gewaltigen Glaskugel, in der sich Himmel und Erde spiegelten, führte auch diesmal zum Erfolg. Mein Gedicht erregte, wie überall, besonders unter den Damen Begeisterung. Für mein Erinnern ist aber mit diesen Tagen ein Umstand verknüpft, der sich meinen achtzehn Jahren wohl einprägen mußte. Helene Loß hatte sich, bevor die Woge des Entzückens zurückgetreten war, in den Besitz einiger Lorbeerzweiglein zu setzen gewußt, die sie, zum Kranze gewunden, mit schalkhaftem Ernst unter dem Beifall aller mir ins Haar drückte.

Einige Tage später hatten sich Frida und Adele, unter Berthold Thienemanns Töchtern die erste und dritte, zu ihrem Vater gesellt. Er hatte sich, so bekannte er, lange nicht so wohl wie im Kurländischen Hof gefühlt, aber durchaus nicht das Bedürfnis empfunden, seine Töchter bei sich zu haben. Ein geheimes Komplott, wie ich annehme, zwischen Mathilde Jaschke, meiner Schwester und Helene Loß, hatte diese Wendung herbeigeführt.

Um diese Zeit tauchte mein Bruder Georg plötzlich auf. Er war in jenem häßlichen Beamten- und Arbeitergebäude an der öden, von Pappeln bestandenen Chaussee untergebracht, wo man das Heiratsgut meiner Mutter verstaut hatte. Wo er inzwischen gewesen sein mochte, hatte mich nicht im geringsten gekümmert. Er sah stattlich und männlich aus und war aufs beste als Gentleman ausgerüstet.

Georg zeichnete sich in intimen Stunden durch die Neigung zu Rabelaisschen Humoren aus. Auch meine Person zog er dabei gelegentlich in Mitleidenschaft. Kein Zweifel, daß ich mich nach Kräften gerächt habe. In jenen Tagen – wir teilten das gleiche Quartier – forderte er meine heitere Angriffslust durch entgegengesetzte Züge heraus.

Ich entdeckte das »Buch der Lieder« in seiner Rocktasche. Er wurde über und über rot und erklärte, in einer übermütigen Verlegenheit mit einem »Oh, was du wohl denkst!«, daß er auch nicht von schlechten Eltern sei.

Bald erfuhr ich, er ging auf Freiersfüßen.

Die Auserwählte war Adele, Tochter von Berthold Thienemann.

Er besuchte sie täglich, man machte Ausflüge. Es dauerte eine Woche und länger, bevor ich dahinterkam.

Tante Jaschke hatte die Abreise von Vater und Töchtern Thienemann nach Bahnhof Sorgau verlegt, wo die Begegnung mit meinen Eltern nicht zu vermeiden war.

Meine Mutter zeigte sich unbefangen, mein Vater eher teilnahmlos. Zwischen ihm und dem möglichen Schwiegervater seines Sohnes Georg wurden wenige belanglose Worte gewechselt. Georg selber, der sonst wahrhaftig nicht auf den Mund gefallen war, schien einem Schweigegebote verfallen. Seine Nasenspitze war schneeweiß.

Er hatte die Erlaubnis erhalten, die Reisenden im Zug einige Stationen weit zu begleiten. Und so bewegte er sich mit Schwiegervater und Gattin in spe sowie seiner Schwägerin auf den Bahnsteig hinaus. Die Gruppe war interessant, ja auffällig. Adele war eine zwanzigjährige, feurige Italienerin, in die auch ich mich sogleich verliebt hatte. Sie und die Schwester waren Erscheinungen aus der großen Welt.

Der stattliche Bahnhofsinspektor Morawe und der breite und gediegene alte Lokomotivführer Fischer, der den Schnellzug zu fahren hatte, wurden Berthold Thienemann wie einem regierenden Fürsten vorgestellt. Der Heizer des braven Fischer war gerade dabei, die gewaltige Schnellzugsmaschine mit grünen Haselreisern zu schmücken. Fischer sagte schmunzelnd: »Man weiß doch, was sich gehört!« Berthold Thienemann konnte sehen, in welcher Achtung die Familie seines möglichen Schwiegersohnes bei ihrer Umgebung stand, und das gewisse Wohlwollen spüren, das man ihr allgemein entgegenbrachte.

Das dritte Glockenzeichen erscholl, wie es damals üblich war, alsdann der erste Triller des Zugführers, worauf Freund Fischer den Dampf durch die Pfeife der Lokomotive heulen ließ, den Hebel faßte und nach einigen Rucken den Zug in Bewegung brachte.

So glitt der festlich bekränzte Schicksalszug in eine unbestimmte Ferne hinaus, in Wahrheit in eine lange, wechselvolle, heiter-tragische Zukunft, welche die Familien Thienemann und Hauptmann verband.

 


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