Gerhart Hauptmann
Das Abenteuer meiner Jugend
Gerhart Hauptmann

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Fünftes Kapitel

Aber Carls und meine brüderliche Verstiegenheit konnte sich nicht lange damit aufhalten. Die geistige Atmosphäre, in der wir atmeten und die wir uns selbst geschaffen hatten, schloß uns nach dergleichen freundlichen Familienkaffeestunden sogleich wieder ab. In den Äther dieser unserer Sphäre konnten die Damen ja doch nicht eindringen.

So zu leben, in einer intelligiblen Welt mehr zu leben als im Wirklichen, war damals schon Carls Eigenheit. In jenen Tagen wurde ich, der ich sehr reale Dinge, Ausschweifungen, Hunger, körperliche Kämpfe und das Bemühen mit dem Sohn des Wassers und der Erde, dem nassen Ton, hinter mir hatte, hinaufgehoben. Dieses Schweben im Äther war mir wohltätig. Ich verlor die Schwere meiner Glieder und meiner Wesensart. Da ich die Befreiung und Erlösung von allem grob Stofflichen auf die Alma mater in Jena als ihren Ursprung schob, wurde ich mehr und mehr von ihr angezogen. Ihr Joch schien mir leicht, verglichen mit dem, das ich trug.

Carl, der gern beeinflußte, Seelen aus Liebe fing und mit sich zog, Hindernisse in solchen Fällen nicht zu sehen schien, malte mir nicht nur weiter das verlockende Leben in Jena aus, sondern berauschte sich in dem Gedanken, ich solle ebenfalls daran teilnehmen. Die Frage, wie das möglich gemacht werden könne bei jemand, der nur bis zur Quarta gekommen war und an der Möglichkeit, das Examen zum Einjährig-Freiwilligen-Dienst zu bestehen, kleinmütig zweifelte, berührte er nicht.

Um jene Zeit hatte sich ein kräftiger, schwarzhaariger und wunderlicher Mann, namens Weber-Rumpe, eine halbe Stunde von Sorgau im sogenannten Zips niedergelassen. Er lebte dort mit Weib und Kind in bescheidenen Umständen. Carl und ich kannten ihn von Breslau her, wo er in den Aulen verschiedener Schulen Vorträge über Mnemotechnik gehalten hatte. Seine Methode, das Gedächtnis zu schulen, befähigte ihn zu erstaunlichen Leistungen.

Man konnte ihm beliebig viel unzusammenhängende Worte sagen, die man vorher notiert hatte. Schnell und fehlerlos und in richtiger Reihenfolge wurden sie wiederholt. Er hatte die Logarithmentafeln im Kopf und hantierte mit ihnen im Geist, als ob er sie ablese. Eine Zeitlang habe auch ich seinen Hauptkniff angewandt, nämlich heterogene Merkworte zu Gedächtniskomplexen in der Vorstellung zu verbinden. Hatte man etwa zu merken: Schlüssel, Hase, Kalk, Diplomatendiner, Sterben, Spucken, Kahlkopf, Kreuz, so tat man das blitzschnell so: ein Schlüssel wird von einem Hasen im Maul getragen, der sich in Kalk gewälzt hat. So trägt man ihn auf beim Diplomatendiner, weil er wahrscheinlich durch den Kalk sterben mußte. Natürlich bekamen die Diplomaten das Spucken, besonders ein Kardinal, der ein Kahlkopf war und ein Kreuz am Halse trug.

Weber-Rumpe war ein lebhafter, in seiner Weise tüchtiger Einzelgänger, der sich auch noch mit Physiognomik, Gallscher Schädellehre und Charakterologie befaßte, ein Mensch von gesundem Verstand und Mutterwitz, mit dem sich mein Vater gern unterhielt.

Etwas an unserem, Carls und meinem Wesen gefiel meinem Vater immer noch nicht, was meine Mutter mit den Worten »Ihr seid zu ideal!« zu rügen pflegte. Er fühlte die Pflicht, uns immer wieder auf die Erde, die uns unter den Füßen zu entgleiten drohte, herunterzuholen. So kam ihm ein Urteil nicht ungelegen, das Weber-Rumpe, an das Büfett gelehnt, orakelhaft über uns Brüder geäußert hatte. »Ihre beiden Söhne«, hatte er zu Vater gesagt, »sind in gewisser Beziehung nicht uninteressant, nur fehlt ihnen leider der praktische Sinn.«

Besaß Weber-Rumpe den praktischen Sinn? Sicher ist, daß er sich trotz aller seiner Künste und seines originellen Menschenverstandes mit den Seinen recht mühsam und kümmerlich durchschlagen mußte.

Vaters Absichten mit Carl waren ganz andere, als sie Carl mit sich selbst hatte. Er hätte, wie gesagt, gern aus dem Sohn einen Arzt gemacht. Aber Carl brauchte nur einen leisen Verdacht zu haben, daß irgendein Ratschlag auf Broterwerb abziele, so geriet er in Raserei und tobte gegen das Brotstudium. Weder werde man ihn je dazu bringen, Naturwissenschaften und Philosophie aus anderen Gründen als um ihrer selbst willen zu betreiben, sagte er, noch ihn bestimmen, sich selbst durch gemeine und niedrige Ziele zu entwürdigen.

Was er aber nun eigentlich wollte, wußte er damals sicherlich nicht. Er schwebte nur wohlig im Geiste des Unbestimmten: ein Zustand, der, von meiner Mutter instinktiv, von meinem Vater deutlich erkannt, trotz seiner glänzenden Außenseite in beiden Besorgnis erregen mußte. Was mich anging, so war ich ja von jeher das Sorgenkind.

Um jene Zeit tauchte ein Salzbrunner Kind, Bergmannssohn – sein Vater war Steiger –, bei uns auf, der es bis zum Fuchs bei den Raczeks in Breslau gebracht hatte. Wir hatten uns als Kinder wenig beachtet. Plötzlich stand er mit dem schwarzrotgoldenen Band und der Studentenmütze vor uns da.

Ein Frühschoppen wurde sogleich verabredet.

Wir trafen uns am Tage darauf im Biergärtchen eines Ober-Salzbrunner Gasthofs Zum Anker, den der Fuhrherr Krause käuflich erworben hatte. Ihm waren die Jahrzehnte beruflicher Tätigkeit im Gasthof zur Preußischen Krone besser angeschlagen als uns. So begann beim Gesange der Vögel der Frühschoppen, und da konnten wir freilich wohl sagen, daß es eine Lust zu leben war.

Carl und Schindler, der Raczek und Bergmannssohn, nahmen Gelegenheit, mich in den studentischen Trinkkomment einzuweihen. Es wurden mir Halbe zugetrunken, ich mußte Bescheid geben, will sagen: nachkommen. »Ich komm' dir ein Stück!« – »Prosit, ich komme nach!« – »Auf dein Spezielles, Schindler!« – »Prost, ich löffle mich!« – »Auf dein Spezielles, Gerhart, Löffelung ausgeschlossen!« – »Prost!« – So und ähnlich ging es fort.

Schließlich wurde von uns dreien ein Salamander gerieben, wodurch wir im Biergärtchen lebhaftes Aufsehen machten.

Diese erste Begegnung mit den Trinksitten sollte für mich eine lange Periode meiner Gesundheit nicht gerade zuträglicher Zechereien einleiten.

Gustav Krause, mein Jugendgespiele, hatte den Kutschbock eines Droschkenführers bestiegen. Seine Natur hatte ihn nicht zum Raczek bestimmt. Er mochte die Märchen vergessen haben, die er und seine Schwester vor dem knackenden Ofenloch dereinst immer wieder von mir verlangten und die ich immer neu beginnen mußte, wenn sie ihr Ende erreicht hatten. Meine Bemühungen, seine Verlegenheit zu beheben und die alten Freundschaftsformen durchzusetzen, prallten von ihm wie von einem Klotze ab. Dagegen blickte seine Mutter, gegen früher bedeutend verjüngt, stark, üppig, kühnen Blicks aus dem Küchenfenster, freute sich unserer Lustigkeit und schien Neigung zu haben, mitzutun.

Ich empfand es angenehm regelwidrig, daß sie uns Brüdern jeden respektvoll freundlichen Anteil bewies, obgleich wir doch einer Familie angehörten, die erst kürzlich von Haus und Hof hatte gehen müssen.

Als wir am Ende der Ferienzeit auseinandergingen, brach Carl nach Jena, ich zu einem kurzen Aufenthalt bei den Schuberts nach Lederose auf. Was sich hier ereignete, hat vielleicht keine allzu große Bedeutung für meinen schöpferischen Entwicklungsgang, aber es wurden dabei die gesamten Strahlungen meines Wesens in einem Brennpunkt gesammelt.

 

Im gleichen Zimmer des neuen Hauses, das ich bewohnt hatte – der Glaskasten mit der Rebhuhnfamilie hing noch darin –, war jetzt Anna Grundmann untergebracht. Sie war nun unter anderm dazu bestimmt, das Bild von Ännchen Schütz – der Name Anna deutet bei mir überall auf unglücklich-glückliche Liebe hin – auszulöschen. Das Liebesidyll, das mir hier in tragikomischer Weise zu erleiden beschieden war, gedenke ich nicht zu schildern. Genug, daß es mich bis in die Grundfesten meines Wesens angegriffen und in mancher Beziehung verändert hat.

Welch ungeheure, rücksichtslose Macht ist doch Gegenwart!

Als ich aus den Fenstern des Zimmers, in dem noch immer Harmonium und Flügel ihren Ort hatten, eine weibliche Gestalt, braun gekleidet wie das Marienbild meines Traumes vor Jahren, den ansteigenden Hof herabkommen sah, hätte ich wieder, tief und tiefer als je erschüttert, das Bekenntnis ablegen können: »Ecce deus fortior me, qui veniens dominabitur mihi!«

Durch diese noch ferne Erscheinung, den rätselhaften Zauber so und nicht anders bewegter Form wurde ich von aller Vergangenheit und Zukunft losgerissen und diesem sich nähernden Wesen allein überantwortet.

Wie sah Anna Grundmann aus? Ich weiß es nicht. Und doch ist, was noch heute von ihr als reine Form in mir lebt, einer unwiderstehlich sinnlichen Schönheit mächtigster Inbegriff. Die Wunde des Entbehrens, des Unerfüllten, des Verlustes für Ewigkeit, unstillbarer Sehnsucht ist heute, am Abend eines langen, langen Lebens, noch unverheilt.

Das schöne Mädchen von damals war später, im Alter, nicht viel mehr als eine arme, kranke, bettelhafte Weibsperson, die unverheiratet, im Stande äußerster Dürftigkeit, in einem Breslauer Hinterstübchen aus dem Leben gegangen ist. Wußte sie noch, wer sie damals war und welcher Gott in ihr Wohnung genommen hatte?

Ich vermute, sie wußte es nicht!

War sie denn also wirklich das, was sie war und was ich als eine Epiphanie in mir aufbewahrte? Und wie kommt es, daß mein ganzes Wesen noch immer um diesen Schatten eines Schattens wie die Motte ums Licht sich herumbewegt: um dieses Nichts, dieses Weniger-als-Nichts?

Überall drängt sich Platon auf, wo von Schönheit und dem Erinnern an sie die Rede ist. Wir wissen, welches heilige Amt der Dichter-Philosoph dem Erinnern an die Bereiche des Ewig-Schönen zugesteht, und damit scheint denn auch wirklich das Lederoser Idyll und die Prägung seines Gegenstandes in meinem Geist unsterblich verknüpft.

Die Begrüßung war kurz, als ich zum erstenmal, ihre Hand berührte. Sie trug einen Korb und einen Schlüsselbund und übersah meine Gegenwart. Erscheinungen solcher Art und Einmaligkeit sind nicht zu schildern. Viele Mädchen zum Beispiel tragen wie sie glatt zurückgekämmtes Haar und einen von Zöpfen geflochtenen Knoten im Nacken. Man kann von Glück sagen, wenn, wie hier, das schlichte braune Kleid ohne Abzeichen ist und schöne Formen knapp umschließt. Aber auch das ist oft zu beobachten: in Anna Grundmann lag etwas von rustikaler Kraft. Es würde näher gelegen haben vorauszusetzen, sie sei mitten in Wäldern, etwa in einem Försterhause, zur Welt gekommen, statt als Tochter eines Liegnitzer Rechnungsrats, sei in Einsamkeit und als Wildling zwischen bemoosten Stämmen, Farnkraut und Bitterklee aufgewachsen, habe ihren Durst mit dem kalten und klaren Wasser reißender Bergbäche gestillt und sei, nun Jungfrau geworden, fremd, stolz und verschlossen hervorgetreten.

Vom Wesen eines sogenannten Backfisches war in Anna Grundmann nichts. Hatte sich Natur ein Weib, eine Männin zu bilden vorgesetzt, so war ihr Vorsatz bis zur letzten Vollendung durchgeführt, und das opaleszierende Auge ihres Geschöpfes wußte von dem Rätsel seiner Vollkommenheit – und auch von dem andern: seiner Bestimmung. Dieses dunkel verborgene Doppelwissen aber war in Annas meist niedergeschlagenen Augen und in den Bewegungen zweier überfeiner Nasenflügelchen ausgedrückt, die wie zarte Kiemen verräterisch auf und ab gingen.

Ich habe dieses schöne, unbewegliche, ernste ovale Gesicht oft und lange, in einen stillen Schrecken verloren, angestaunt: diesen resignierenden, ironischen Mund, diese gerade, kleine, griechische Nase, deren schmaler Rücken mit der Stirn eine Senkrechte bildete, und dieses Berenikekinn.

Wo kommst du her? Wo gehörst du hin? waren Fragen, die ich mir immer wieder vorlegte.

 

In dem gefährlichen Graus des vergangenen Winters war vieles in meinem Wesen aufgebrochen, und so war mir durch meine Bemühungen am nassen Ton die Freude am Sehen bewußt geworden, durch sie Sinn, Gefühl und Begeisterung für die Form. Es war keine Übertreibung, wenn mich angesichts eines schönen Armes eines Gipstorsos, eines weiblichen oder männlichen Hauptes Verzweiflung ergriff, weil ich zugleich mit einer fast schmerzlichen Schönheitsempfindung die Ohnmacht empfand, es nachzubilden. Beides, die Ohnmacht und das schmerzliche Schönheitsempfinden, hat mich auch hier überkommen und der damit verbundene Widerstreit. Etwas Wildfanghaftes, Wildes lag in Annas äußerem Wesen nicht: ihre Bewegungen waren gemessen. Niemals zeigte sie Eile oder Hast, ob Tante Julie Schubert auch mit noch so schnellen und langen Schritten durch Haus und Hof fegte.

Sie wandelte eher, in sich beruhend wie eine bewegte Statue, ohne Verbindung mit der Umwelt dahin.

Der Jüngste unter den Geschwistern Straehler, Onkel Carl, war um jene Zeit wieder einmal bei den Schuberts untergeschlüpft, weil er eine Stellung verloren hatte, die er den Bemühungen meines Vaters verdankte. Als er mich listig fragte, wie mir Anna Grundmann gefalle, durchschaute ich ihn, zuckte die Achseln, als ob ich an ihr kaum Anteil nähme und nichts Besonderes an ihr fände. Aber ich kam so leicht nicht davon. Der ältelnde Mensch stand ebenso wie die meisten Männer, die sie sahen, unter Annas Bann und sah in mir den Rivalen, der ihn durch dies und das, und besonders durch seine Jugend, bei Anna ausstechen mußte.

 

Auf der Wanderung von Striegau nach Lederose hatte mich ein kleines Erlebnis belustigt und mir auch ein klein wenig geschmeichelt, wenn ich ehrlich bin.

Ich war am Ende eines Dorfes auf einen Trupp Tagelöhner, Männer, Frauen und junge Mädchen, gestoßen, die dicht an der Straße arbeiteten. Ich erregte mit meinem langen, blonden Pagenhaar, meinem offenen Hals, meiner Lavallière und, nicht zu vergessen, den Schnallenschuhen unter ihnen Aufsehen. An Verhöhnung gewöhnt, wollte ich mich eben darauf gefaßt machen, als ein älterer Mann zu einem hübschen Landmädchen sagte: »Dan koanst d'r oaschoffa!«, was soviel heißen will als: den schaffe dir als Liebsten an! Und das Mädchen sagte: »Nu ja, das wär a Hibscher!«, wobei sie mich, über und über errötend, anblickte. Die kleine Anekdote beweist, wieweit die Eifersucht meines braven Onkels Carl einen Grund haben konnte.

Es verstrichen mehrere Tage. Fräulein Anna, wie sie im Hause genannt wurde, ging ihren Obliegenheiten nach. Es schien wirklich so, als ob ich ihr Luft wäre. Und doch war ich beinah der Verzweiflung nah, wenn ich von Onkel Schubert ans Schachbrett gebannt wurde und die Geliebte nicht einmal mit den Augen verfolgen durfte. Ich hielt meine, wie ich glaubte, tief verborgen gehaltene Neigung für hoffnungslos.

Natürlich nahmen die Verwandten Anteil an meinem neuen Weg. Der Sprung in eine ganz andere, ihnen völlig fremde Welt, den ich getan hatte, beschäftigte sie. Als ich Abschied nahm, als ich wiederkam – das ergab einen großen Unterschied. Ich habe wohl den Mund recht voll genommen. Ich werde Pläne entwickelt haben, deren Schlingen und Kurven über Dresden und München, Florenz und Rom geführt haben mögen. Daß ich bald dorthin kommen würde, wußte ich, trotzdem die Wahrscheinlichkeit dazu durch den nötigen Pfennig Geld nicht gestützt wurde. Selbstverständlich schöpfte ich auch hier von meinem Wintererlebnis nur die Sahne ab, nicht nur aus Furcht, mich bloßzustellen, sondern weil wirklich der Glanz meines sommerlichen Glückes und – Ende gut, alles gut! – das Erlebnis in Haertels Atelier die ganze Zeit übergoldet hatten.

 


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