Gerhart Hauptmann
Das Abenteuer meiner Jugend
Gerhart Hauptmann

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Zwanzigstes Kapitel

Unser Bootsführer, ein kleiner, halbnackter, sehniger und struppiger Kerl, wurde von einer schönen, mit schwarzer Mantilla bekleideten Dame empfangen. Es war, wie der Kapitän mir sagte, seine Frau.

Ich wartete auf dem Flur vor dem Büro des Konsulates, solange der Kapitän darin zu tun hatte. Da kam wiederum eine schwarzgekleidete, diesmal höchstens vierzehnjährige Schönheit, ebenfalls mit dem Spitzentuch um den Kopf, mit mehreren lachenden jungen Herren an mir vorbei, eine Begegnung, die mir Herzklopfen machte.

Ich eröffnete mich dem Kapitän. Er lachte und sagte, daß man allerdings hier in Malaga mehr als anderswo seine Brust verschanzen müßte.

Mittags zog ich mit Maschinenmeister Wagner aus, der Aufträge zu erledigen hatte und hier wie zu Hause war.

Mit dem widrig schmeckenden Manzanilla, den wir aus kleinen Gläsern hinabschütteten, bekämpfte ich eine seltsame Seekrankheit, die mir die Unbeweglichkeit des Erdbodens verursachte.

Wagner brachte, wie bei jeder Landung in Malaga, für einen deutschen Major, einen Sonderling, große Pakete von Zinnsoldaten mit, mit denen der ehemalige Generalstäbler den jüngsten Deutsch-Französischen Krieg in seinem Zimmer aufbaute und durchspielte. Er entwarf wohl auch bereits den nächsten. Aber ich sah weiter nichts von ihm.

Die Atmosphäre von Malaga, besonders die nächtliche, bedeutete für die Tugend eines neunzehnjährigen Menschen eine gewaltige Probe. Der kleine, runde Wagner entpuppte sich als eine Falstaff-Natur, die sich weder im Trinken noch mit Dortchen Lakenreißer genugtun konnte. Am ersten Tage wurde noch eine gewisse Form gewahrt. Wir endeten in einem Varieté und luden eine blutjunge, übermäßig schöne Andalusierin, die in ihren herrlichen Volkstänzen mit Kastagnetten brilliert hatte, auf den Balkon.

 

Die folgende Nacht war für das Studium der unterirdischen Stadt bestimmt. Ein deutscher Kaufmannsjüngling, den Malaga bereits schwer krank gemacht hatte, und noch ein vierter, dessen Namen und Art ich vergessen habe, schlossen sich der Unternehmung an.

Erst wurden wir in eine spanische Bürgerfamilie mit schönen Töchtern eingeführt, die sich ehrsam, fein und gastlich betrug, wo ich indes durch das Verhalten des von dem Stigma schwerer Ausschweifungen gezeichneten jungen Kaufmanns bis zur Empörung gereizt wurde. Während wir bei Zuckerwerk und einem Gläschen Manzanilla ein gesittetes Gespräch zu führen schienen, ließ er sich auf deutsch, weil es die Familie nicht verstand, auf die unflätigste Weise über die Haustöchter aus.

Meine zurückgestaute Wut über diese niedrige Gemeinheit bei einem Deutschen war so groß, daß ich mich auf der Straße um ein Haar in eine Rauferei mit ihm verwickelt hätte. Mit Mühe gelang es der Güte und dem Humor des Maschinenmeisters, den Frieden zwischen uns herzustellen.

Was ich weiter durchlebte, hatte die Atmosphäre von Tausendundeiner Nacht. Am Ende war dies nicht allzu verwunderlich bei einer Küste, über welche die maurische Woge mit am frühesten geflutet ist.

Seeleute, wenn sie im Hafen sind, suchen Gastwirtschaften und öffentliche Häuser auf. Es war eines der erbärmlichsten dieser Art, dem wir zunächst zustrebten. Unser Führer, der Kaufmann, uns um ein halb hundert Schritte voraus, war in ein baufällig enges Gäßchen eingedrungen, das nur von dem trüben Licht einiger seltsam verklebter Fensterlöcher wegbar gemacht wurde. Er mochte an ein Pförtchen gepocht haben, denn ich konnte bemerken, wie sein verlebtes Gesicht von einem schwachen Scheine erhellt wurde, der wohl von jemand stammen mochte, der innen öffnete.

 

Gleich darauf schwebte ein augenschmerzender Stern unter der Mauer hervor ins Dunkel des Gäßchens auf und gab nach und nach der lieblichsten Erscheinung Gestalt, die unter ihm schemenhaft aufblühte.

Sah ich eine vor dreitausend Jahren verstorbene Griechin oder Phönizierin? War es die ewige Lampe aus ihrem Gruftgewölbe, die sie mit sich genommen hatte und nun, um sich auf ihrem nächtlichen Umgang zurechtzufinden, mit dem nackten Arm hoch über sich hielt? War dies nicht die Braut von Korinth? »Ist's um den geschehn, muß nach andern gehn, und das junge Volk erliegt der Wut . . .«

Wo wir hin wollten, erwartete uns die niedrigste Hefe der Prostitution, wo betrunkene Matrosen, Viehtreiber, Kloakenräumer, Lumpensammler, Gauner und verlauste Bettler für eine halbe Pesete ihr ekelhaftes Bedürfnis verrichteten.

Vor dem Eingang aber in diese Dreckhölle richtete sich ein göttlicher Schemen auf, an dessen durchsichtig zarter, überirdischer Schönheit ich mich nicht ersättigen konnte.

Die tönerne Lampe, die das höchstens vierzehnjährige Kind mit blassen Fingern über sich hielt, war die antike, klassische: ein tellerartiger Ölbehälter, an dem ein Henkel ist, in eine Art Schnabel auslaufend, aus dem sich der Docht und daran die spitze Flamme erhebt. Ein spinnwebgrauer, spinnwebzarter Chiton ließ das Nackte des schlanken Körpers hindurchscheinen, der an sich wiederum durchscheinend war.

Unvergessen und nie zu vergessen, wie ich auf diesem dunklen Wege von einem Abglanz des Ewig-Schönen getroffen wurde. Und wie auch, als das ängstlich Gefürchtete eingetreten und diese Bildung höchster Magie sich in nahe Bewegungen auflöste und durch Worte Leben verriet, zarteste Anmut mit ihr verbunden blieb.

Was schließlich das Mädchen, als wir gingen, mit einem geflüsterten Hauch erbat, war ein kleines Geschenk, um Blumen zu kaufen.

Ich hatte die Prostitution in Breslau kennengelernt, ohne mich von diesem Abschaum durch die übliche Berührung vergiften zu lassen. Die abstoßende Verkehrsform, die Roheit von Mann und Weib, weit mehr allerdings von Mann als von Weib, hat mir nicht selten mit eisigem Grausen vor dem Gorgonenhaupt der Menschheit die Haare zu Berge getrieben. Dagegen in diesem schauerlichen Lustwinkel Malagas, wie er in einer deutschen Stadt überhaupt seinesgleichen nicht hat, geschah in Gebärde und Wort nichts Anstößiges.

Durch die Haustür getreten, stolperte man ein wenig nach unten, wo bloßer, feuchter Erdboden war und eine Alte, ein Haufen Lumpen, irgendein Gemüse zurechtmachte. Das Griechenbild oder die Phönizierin hatte sich unten an einer Bretterleiter aufgestellt, die sie mit der immer noch hochgehaltenen ewigen Lampe beleuchtete.

Lachend und Witze reißend kletterte meine Kumpanei hinauf, und als ich schließlich oben war, hatten wir schwankende und knarrende Holzdielen unter uns auf einem durch einige weitere Öllämpchen in Dämmer getauchten Dachboden. Hier hockten auf maurisch-orientalische Weise dunkle Gestalten im Kreise herum, Dienerinnen der Venus vulgivaga, wie wir vorausgesetzt hatten. Neben der einen und anderen hatte ein Liebhaber dieser Ware, ein Mann der Straße, Platz genommen. Niemand redete laut. Die Unterhaltung vollzog sich schleppend und flüsternd.

Ein fader Geruch und schließlich bei langsam sich gewöhnendem Blick der Augenschein verrieten, daß Wasserpfeifen im Gange waren. Der Rauch, den die Priesterinnen der käuflichen Lust aus den Mundstücken ihrer Schläuche sogen, mochte jenen Duselzustand erzeugen, der gegen die strengen und scheußlichen Anforderungen des Gewerbes abstumpfte.

Sich hier zu vergessen, war für den nüchternen Menschen keine Gefahr. Irgend etwas Anreizendes bemerkte man nicht. Wer sich dennoch außer acht gelassen haben würde, hätte lebenslanges Siechtum davongebracht.

Wenn ich heute versuche, meiner Jugend eine schlichte Stimme zu leihen, einer Jugend, die stumm war oder irre redete, so finde ich, daß die Tatsache der Prostitution, die allenthalben nicht zu umgehen war, mir geradezu den allerbittersten Gram verursachte. Irgendwie hatte ich noch von dem übelsten Frauenzimmer eine Auffassung, wie sie der irrende Ritter von einer Dulcinea von Toboso haben würde, selbst wenn sie in den Sumpf des Lasters gesunken wäre. Nenne man es die unsterbliche Seele, was ich noch in der Hure sah. Diese Seele indes war entehrt und betäubt, und ihr bloßer Leichnam, den man mißbrauchte, ward wie ein Brocken Aas geachtet.

 

Kurze Zeit nachdem wir den von Lust und narkotischen Dämpfen geschwängerten Dachboden verlassen hatten, pochte der Kaufmann an die Pforte eines sauberen Häuschens in einer sauberen Gasse an, dessen Läden verschlossen waren. Man öffnete, als er sich legitimiert hatte, denn man nahm nur Bekannte und zuverlässige Freunde des Hauses auf.

Wir traten in ein hübsches Bürgerhaus. Der Eintrittsraum erinnerte mich an Dachrödenshof, als ihn nur noch Tante Auguste und ihre Schwester bewohnten. Er zeigte jene penible Ordnungsliebe, die bei älteren Damen üblich ist. Eine Hängelampe spendete Licht, ein grüner Schirm mit schwarz silhouettierten Figürchen dämpfte die Glocke, ein großer Wandspiegel in goldenem Rokokorahmen und Rokokountersatz zeigte diesen Beleuchtungskörper zum zweiten Male, spiegelte einen dunkel gebeizten Schrank, eine geschweifte Kommode, auf der eine vergoldete Pendüle stand: sie schlug die Zeiten mit spitzen Schlägen.

Das Hausmädchen, das geöffnet hatte und das eine blanke weiße Schürze und Haube trug, nahm uns die Hüte und Mäntel ab, trug alles in einen besonderen Raum, und indes wir uns flüsternd unterhielten, kam sie zurück und klopfte an eine zur Linken gelegene Zimmertür. Nun gab es noch eine kleine Wartezeit, bis aus der Tür eine überaus sympathisch wirkende Dame trat und uns, nachdem sie den Kaufmannsjüngling kaum merklich begrüßt hatte, willkommen hieß.

In das Zimmer, aus dem sie getreten war, eingeführt, fanden wir sechs oder sieben wohlerzogene junge Mädchen, mit Stickerei oder Weißnähterei beschäftigt, um einen Tisch sitzen.

Der Eindruck war überraschend und anheimelnd.

Wir wurden wie Freunde des Hauses begrüßt, aber ohne daß eines der sauber, aber einfach gekleideten Mädchen mehr getan hätte als eine wohlerzogene Haustochter.

Langsam kam ein Gespräch in Gang, es war aber in keiner Weise mit einem ungehörig aggressiven Wesen verbunden und verletzte ebensowenig den in einem guten Bürgerhause üblichen Ton.

Ein Uneingeweihter ahnte nicht, daß er es hier mit einer Bordellhalterin und mit öffentlichen Dirnen zu tun hatte.

Die Dame des Hauses und die Mädchen fragten meine Begleiter nach mir aus, und die spanisch Sprechenden unter ihnen mußten zwischen mir und den Damen dolmetschen. Ein neunzehnjähriger, bartloser junger Mensch, der sich zu rasieren noch keinen Anlaß hatte, selbständig und wohl ausgestattet mit Geld auf einer Weltreise, war doch wohl eine Merkwürdigkeit.

Ich gab mich als Künstler, gab mich als Bildhauer. Und wirklich nahmen meine Neigungen zur bildenden Kunst im Süden überhand.

Und da war ein noch nicht sechzehnjähriges Kind, das kaum erst vom Lande hereingebracht worden war, dessen Auge nicht von mir lassen wollte. Ich fühlte, daß in dem Lächeln dieses bezaubernden Landmädchens, in ihrer furchtsam-freundlichen Annäherung nicht Geschäft, sondern schnell entkeimte wirkliche Liebe waltete. So überraschte mich eine Gefahr, mit der ich im Hinblick auf Mary nicht rechnen durfte.

Es wurde Tee und Kuchen gereicht, und ich kam mir vor, als sei meine Aufgabe, um die jüngste Tochter des Hauses anzuhalten. Die Zartheit, die süße Scheu und Eile zugleich, mit der sich hier zwischen zwei blutjungen, unverdorbenen Menschen echte Liebe entspann, breitete, wie ich mich gut erinnere, einen Geist feiner Zurückhaltung über alle aus und ließ irgend etwas Vulgäres nicht aufkommen.

Mein Wesen ward bis ins innerste Herz aufgewühlt. Da saß dieses Landkind neben mir, das meine Sprache ebensowenig verstand wie ich die seine, eines der schönsten Gebilde spanischer Erde, das mich liebte und dessen Augen mit einer unwandelbaren Ergebenheit an mir hingen. Ihre ahnungslose stumme Seele, obgleich sie nicht wußte, wie sie in einem schrecklichen Dienst mißbraucht wurde, gab dem lebenshungrigen süßen Antlitz etwas Dringliches, etwas Flehendes.

Ich wußte genug vom Wesen der Prostitution, um mich über das Schicksal dieses todgeweihten Geschöpfes keiner Täuschung hinzugeben. Binnen höchstens zwei Jahren tödliche Vergiftung, dann das Spital, vielleicht noch ein Intermezzo auf dem Dachboden mit dem Opiumqualm, von dem wir herkamen, dann aber der Tod. Sie würde sterben, ich wußte es, würde verbraucht, auf den Müllhaufen geworfen sein, bevor sie auch nur mein Alter erreicht hatte.

Liebe ist Mitleid, Mitleid ist Liebe, behauptet Schopenhauer, mit Recht nur insoweit, als überhaupt ein so unergründliches Phänomen mit Worten zu vereinen ist. Und doch verurteilte ich mich als einen Hochverräter zum Tode durch das Schwert, im Gedanken an die ferne Mary, als ich die Finger des spanischen Mädchens mit den meinen eng verschlungen fühlte. Es bedeutete wenig, es ging vorüber. Aber wußte ich denn, wie weit mich die begonnene Bindung fesseln, zu welchen nicht wiedergutzumachenden, selbstverderberischen Schritten sie mich noch verleiten würde? Vielleicht telegraphierte ich an Mary, log, ich sei bestohlen worden oder so, ließ mir Geld senden, kaufte das Mädchen frei oder ging mit ihm durch, ohne es freizukaufen, wurde verfolgt, festgenommen, was weiß ich – und würde an Mary als Schurke gehandelt und sie mit Recht verloren haben.

Aber was ging mich das Gestern an?

Der Teetisch ward mehr und mehr vereinsamt, und ich und das Mädchen saßen schließlich als die letzten daran. Da sagte ich, daß ich sie zeichnen wolle, holte aus der Garderobe mein Skizzenbuch, und wir folgten einer alten Beschließerin, die uns dann in einem beinahe prunkvoll eingerichteten Schlafgemach, nachdem sie einige Lichter entzündet, verließ.

Treue in Dingen der Liebe erscheint heute manchem lächerlich. Hätte ich sie in jener Nacht Mary nicht zu halten vermocht, mein Leben wäre ganz anders verlaufen. Pilar, die Säule, hatte sich in reiner Nacktheit gehorsam vor mich aufgestellt. Ich betrog mich selbst, wenn ich meiner zitternden Hand, meinem ringenden Herzen, meiner faseligen Benommenheit die Möglichkeit andichtete, diese nahe Aphrodite zu zeichnen.

Die Nähe des Bettes, der leise befremdete, gehorsame Blick, das Ehrenrührige meiner Josephhaftigkeit steigerten mich in eine große Verwirrung hinein, indem ich Pilar zur Mitwisserin meines Kampfes machte. Ich legte allen Kummer und alle Liebe zu ihr, wie ich meinte, in meinen Blick, ich legte die Hände an die Schläfen, ich habe dann ihre Stirn leise geküßt, ebenso leise ihre Schultern berührt, ebenso leise und leiser ihren Busen. Und dann habe ich das Lichtbildchen meiner Braut aus der Brusttasche gezogen und geküßt.

Ich bin von Pilar verstanden worden.

Nie wird man einen gesünderen Körper sehen: straff, edel, ohne Hüften, mit festen, breit auslaufenden Brüsten, wie man sie an den schönsten griechischen Marmorbildern sieht. Alles gesund, straff, bodenwüchsig, und doch – Spital, Opium, Trunk, Untergang.

Sich opfern, um dies zu verhindern, sollte das am Ende nicht doch verdienstlich sein und einen Platz im Himmel verschaffen?

Der Abschied von Pilar, eine halbe Stunde später, war schwer. Kann ein Abschied für ewig auch anders sein? Die Kumpanei hatte sich wieder zusammengefunden, wir traten in die mondhelle Gasse hinaus. Ich küßte sie, küßte sie wiederum. Sie kam mir nach. Ich lief zurück. Sie winkte mit einem weißen Tuch . . . sie winkte, sie winkte immer noch. Man sah sie winken, man sah das wallende weiße Tuch in einsamer Ferne der Gasse, als sie uns längst nicht mehr sehen konnte.

 

Eine Stunde später saß in einer geweißten Spelunke eine wilde Dortchen Lakenreißer auf des trunkenen Falstaff-Wagners Knie und spie, was er nicht merkte, jedes Glas Wein, das er kommen ließ und ihr einflößte, unverzüglich an die Wand. Die Orgie schloß der Maschinenmeister mit dem Genuß von zwölf harten Eiern.

 


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