Gerhart Hauptmann
Das Abenteuer meiner Jugend
Gerhart Hauptmann

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Zweiunddreißigstes Kapitel

Die Besuche, die mein Vater der Hauptstadt zuweilen abstattete, gingen durch den Glücksrausch, den sie jeweilen bei mir erzeugten, über den Wert solcher Muße- und Freistunden weit hinaus. Er pflegte sich niemals anzumelden. Wir stießen ganz einfach, Carl und ich, nach Schluß der Schule auf ihn am Schulportal. Dann stiegen wir meist gemeinsam in eine der klapprigen Breslauer Droschken, und nachdem wir die Bücher in der Feldstraße abgeladen hatten, landeten wir in einer Weinstube. Es traf wiederum zu, was ich schon gelegentlich der Warmbrunner und Teplitzer Reise an meinem Vater gerühmt habe, nämlich, daß er mit keinem Wort von der Schule sprach, uns ausfragte, rügte oder anspornte. Es war ein völlig erlöstes, heiter beglücktes familiäres Zusammensein, bei dem sich der Vater, der uns in der Speisekarte frei wählen ließ, an unserer Genußfreude weidete.

Selige Inseln auf den stygischen Wassern meines Breslauer Zwangslebens waren die Ferien.

Wie der Frierende, der die Wärme, der Übermüdete, der die Ruhe, der im lichtlosen Raume Existierende, der das Licht, der Verschmachtende, der das Wasser sucht, strebte ich jeden Augenblick darauf zu. Ich, dessen schwächste Seite das Rechnen war, hörte nicht auf, Wochen, Tage, Stunden, Sekunden nachzuzählen, die mich vom Beginn der Ferien trennten, und durch Abstreichen mir zu tröstlichem Bewußtsein zu bringen, um wieviel geringer die Zeitspanne bis dahin geworden war. Der Ariadnefaden leitete den berühmten Helden Theseus glücklich aus dem Labyrinth. Nun, ich war keineswegs ein Held, aber das Labyrinth, zu dem ich verdammt war, eine Tatsache. Und dieses mein Drängen aus der Unterwelt dem oberen Lichte der Ferien zu hatte mit dem Segen eines selbstleuchtenden Ariadnefadens Ähnlichkeit, der also auch mir von den Mächten gewährt wurde.

Ich ließ ihn nicht aus den Augen, wo immer ich war. Er war mein sicherer Trost in den Wechselfällen verschiedener Grade von Dunkelheit. Legte ich mich des Abends in mein von Ungeziefer wimmelndes Bett, so gab der Gedanke mir Trost, daß ich beim morgendlichen Erwachen dem Besuch in der Heimat um acht Stunden näher gekommen sei. Jede zurückgelegte Schulstunde wurde im gleichen Sinne betrachtet und erfüllte mich mit Genugtuung.

Ich versuche nicht, die Mannigfaltigkeit der Arten und Weisen zu erschöpfen, unter denen ich mir immer wieder aus der Vergänglichkeit ein und denselben Trost zu verschaffen wußte.

Sollte ich aber eines Tages erwachen in der ewigen Seligkeit, so kann das Glück nicht größer sein als am ersten Ferienmorgen im Elternhause. Noch im Halbschlaf, wenn der Frühchoral der Kurkapelle gedämpft zu mir drang, faltete ich – warum soll ich es leugnen? – unter Freudentränen die Hände.

Es gibt Weise, die leugnen, je eigentlich Glück empfunden zu haben, ja die meisten erklären, nicht einmal zu wissen, was es sei. Ich, der Unweise, weiß, was es ist, und habe es oft beseligt empfunden.

 

Die ersten Sommerferien waren herangekommen. Wir Brüder verließen Breslau im überfüllten Zug unter Familien, welche die Sommerfrische aufsuchten. Es gibt keine Flucht, die fröhlicher sein könnte. Eine Bahnfahrt von zwei Stunden kam damals den Leuten wie eine Strapaze vor, für die man sich, um ihr gewachsen zu sein, möglichst auf jeder Station mit ein Paar Wiener Würstchen und einem Glas Bier kräftigen mußte. Königszelt, etwa in einer Stunde erreicht, war die eigentliche Erfrischungsstation, wo auch Carl und ich in den zehn Minuten des Aufenthalts uns regelmäßig mit Bier, belegten Brötchen und Soleiern für die zweite und letzte Reisestunde tüchtig machten.

Carl war ein reizbarer junger Mensch. Fast immer gab es auf einer solchen Heimreise in der dritten Klasse, besonders wegen des Öffnens und Schließens der Fenster, Zank. »Das Fenster bleibt zu!« sagte ein Herr, augenscheinlich ein Lehrer, der mit Kind und Kegel reiste, und schloß mit einem Ruck das Fenster, das Carl geöffnet hatte. – »Das Fenster bleibt offen!« Carl darauf, worauf es von ihm mit dem gleichen energischen Ruck heruntergezogen wurde. Obgleich die Luft im Abteil erstickend war, wurde doch allgemein gegen Carl Partei genommen, und allerlei Ausdrücke wie »Bengel« oder »dummer Junge« flogen umher. Wenn ich nicht irre, drohte ein Mann, er werde ihn unter die Bank prügeln, wenn er noch einen Mucks sage.

Aber die Dialektik Carls, die nicht umzubringen war, hatte schon damals etwas Dominierendes. Ostentativ verließen wir auf der nächsten Station das Coupé, in dem es vor ungesunden Dünsten, wie wir erklärten, nicht auszuhalten sei, und ließen uns vom Schaffner ein andres anweisen.

Schon als ich in unserem alten Schlafraum aufwachte, lagen die Schule und Breslau wie ein überstandener Alpdruck hinter mir. Ich war aber doch insoweit ein andrer geworden, als meine Welt nicht mehr Büfettstube, Hintergarten, Hof und Straße war. Wir speisten nach der Table d'hôte mit Vater im Großen Saal, ich verkehrte mit gleichaltrigen Söhnen von Kurgästen, ich lud sie zu einem Glas Pilsner ein, kurz ich war, ganz anders als früher, unter die sogenannte gute Gesellschaft und in den Kreis des noch vor kurzem verhaßten Bürgertums aufgenommen.

 

In die erste Ferienwoche fällt ein Ereignis, das mir beinahe das Leben gekostet hätte. Polizeiverwalter Keßler hatte aus seiner zweiten Ehe einen Sohn, ein bis zwei Jahre jünger als ich, der, ich glaube aus Bunzlau, in die Ferien heimgekommen war. Albrecht Keßler und ich waren befreundet, und wir gingen gemeinsam ins Feld, um im sogenannten Demuthteich zu baden. Ich hatte mich in einer Breslauer Badeanstalt am Ende eines Kursus, wie man sagt, freigeschwommen, und Albrechts Ehrgeiz veranlaßte ihn, zu behaupten, er stünde hierin mir nicht nach. Der Teich war klein, aber man hatte in seiner Mitte keinen Grund. Albrecht hatte sich ausgezogen. Er war über und über mit blauen Flecken besät, da ihn sein Vater, wohl eines mangelhaften Schulzeugnisses wegen, mit Fäusten mißhandelt hatte. Danach befragt, gestand er es zu.

Er paddelte nun, um zu renommieren, bis in die Mitte des Teiches hinein, wo er untersank und sogleich wieder auftauchte. Es war wohl ein Scherz, so sagte ich mir, aber das Unter- und Auftauchen wiederholte sich, bis er schließlich ganz unter Wasser blieb.

Ich schwamm bis in die Mitte des Teichs und bekam den kämpfenden, um sich schlagenden Schulkameraden glücklich zu fassen. Er aber freilich mich noch viel mehr. Er umschlang mich in verzweifeltem Todeskampf, und zwar dermaßen, daß ich meine Arme nicht rühren konnte. Ich verlor die Besinnung nicht. Wir sanken natürlich mit unseren Füßen, untergehend, tief in den Schlamm, wo es mir aber doch gelang, mich wieder über den Wasserspiegel mit meiner Last emporzustoßen. Diese Prozedur wiederholte ich, immer die Richtung des Teiches im Auge, wo das Wasser flacher und flacher wurde. Nach sechs oder sieben gymnastischen Übungen hatten wir Grund und fielen danach bis zum Tode ermattet auf den Ufersand.

Es soll einem in den letzten Augenblicken vor dem Ertrinken, so sagt man, das ganze bishin geführte Leben lebendig vor Augen stehen. Diese Behauptung muß ich bestätigen.

Es fehlte nur wenig, so hätte man die Leichname zweier Knaben aus dem Demuthteich herausgefischt Und man würde geschlossen haben, aus dem braun und blau geschlagenen Körper des einen, daß sie beide aus Schulgram den Tod gesucht hätten.

Mein Rücken schmerzte mich, als ich nach Hause kam. Auch schien mir, er wollte nicht trocken werden. Auf meinen Wunsch stellte Schwester Johanna eine Untersuchung an. Es zeigte sich, daß die Nägel Albrechts mir von oben bis unten gehende blutende Striemen über die Rückseite gekratzt hatten.

Ich erzählte Johanna, was geschehen war, sie mußte versprechen, stillzuschweigen. Ich habe mir später oft gesagt, welche Wendung mein Sextanerschicksal genommen hätte, wenn ich in der Klasse mit der voll und ganz verdienten Rettungsmedaille erschienen wäre.

 

In der weiteren Ferienzeit beglückte mich die einstige Lebensfreude und Sorglosigkeit. Mein städtischer Anzug verhinderte den Rückfall in den ehemaligen kindlichen Spielgeist keineswegs, nur waren es jetzt gutgekleidete Knaben, die ich für meine Spiele heranholte. Aber nicht allein hierdurch erhielten diese festlichen Sommerwochen ihr Kennzeichen, sondern durch eine geheime Liebe, die mir eine Kurgästin, Liddy Dukart, eingeflößt hatte.

Die junge Dame war neunzehn Jahre. Sie wohnte mit ihrem Vater – ich glaube, einem Bremer wiederum wie Drucker, der Weltreisende – in unserm Haus. Sie hatte immer ein gütiges Lächeln für mich und immer ein himmelblaues Tuch um die Schultern. Georg als Mulus war noch im Haus. Er schien sich wie ich in Liddy verliebt zu haben. Als er mich eines Tages als Postillon d'amour benützen wollte, zerschlug sich der hübsche Plan sowohl an meiner Schüchternheit wie an meiner geheimen Leidenschaft. Ich sollte gleichsam als Papagei vor sie hintreten und Worte sagen, die ich mir in der Tat von ihm einprägen ließ: »Mon frère vous salue.«

Nein, ich habe die Sendung nicht ausgeführt, nicht diese Worte zu ihr gesprochen. Ich würde übrigens weder diese noch andre haben aussprechen können, ohne unter ihren strahlend blauen Augen zur kläglichen Figur geworden zu sein.

Ich sprach nie zu ihr und sie nie zu mir. Aber ich bewegte mich mit meiner Liebe meist ungesehen um sie auf den Promenaden und den sonstigen Anlagen. Ich kreiste von morgens bis abends im Freien um ihre Erscheinung, sogleich beseligt, wo das himmelblaue Tuch unter den Kurgästen auftauchte, unbefriedigt, verwirrt und verzweifelt, wenn ich es aus den Augen verlor.

Meine Spielkameraden wurden von mir, ohne daß sie wußten weshalb, mit der Parole »Blaues Tuch!« als Kundschafter angestellt. Sie meldeten mir, wenn und wo sie irgendein Blau an einer Dame bemerkt hatten. Wir verfolgten die Spur, pirschten von Baum zu Baum, und ich teilte Belohnungen aus in Gestalt von Titeln, wahrhaft erlöst, wenn wirklich das rechte Tuch und damit seine Trägerin gefunden war.

Zauber, elektrische Schläge, Erschütterungen mit schwerem Herzklopfen sind damals von diesem schlichten Schultertuch ausgegangen, das zum Glück für mich die Besitzerin immer trug. Wie stark muß damals die Faszination gewesen sein, da ich noch heut, sechzig und mehr Jahre später, von jedem blauen Tuch, das mir irgendwo von fern in die Augen fällt, seltsam erregt und flüchtig beglückt werde.

 

Die Liebeserfahrung und der eigentümliche Liebeskult waren eine tief erneuernde Wohltat für mich. Mein unbewußter Durst nach Schönheit, der mich auch immer und immer wieder in den Großen Saal vor Raffaels Madonna führte, fand Genüge darin.

Wie aber am makellos reinen Sommerhimmel sich eine kleine Wolke zeigt, so verdichtete sich das Bewußtsein der Breslauer Düsternis, der ich ja doch nun bald wieder verfallen mußte, nach der zweiten Ferienwoche. Hatte die Berührung mit der Heimatscholle mich nun wieder einigermaßen zu mir selbst gebracht, mir Selbstbewußtsein, Selbstachtung und Initiative wiedergegeben, mich dem embryonalen Froschlaichwesen des Sextanersümpfchens enthoben und es vergessen lassen, so stieg dies alles jetzt – Pension, Ungeziefer, Lärm, Hatz, Zankerei und Prügelei, Klassenangeberei und Streberei, Zwang und Sorge, Sorge und Zwang – in immer schwärzeren, dichteren Ballungen wieder auf. Auch das wieder in Aussicht stehende enge Zusammenleben mit Carl hatte nichts Tröstliches.

Wir sahen uns während der Ferien nicht. Es war ein Instinkt, der uns in dieser Zeit ohne Verabredung trennte. Jeder ging seinen eigenen Weg.

 

Wenn ich in der letzten Ferienzeit mit meiner Mutter – sie liebte diese Erholung – in den nächtlich ausgestorbenen Promenaden langsam wandelte, kam es zu mancherlei stillen Aussprachen. Wir ruhten dann auf einer Bank oder löffelten Eis im Garten einer Konditorei. Einer der letzten dieser Abende ist mir aus dem Grunde besonders erinnerlich, weil ich meiner Mutter meine äußerlich wie innerlich gleich verzweifelte Lage eröffnete. Eine Beichte war das nicht. Ich sprach zu ihr weder de- noch wehmütig; ich erinnere mich, daß ich mit einem klaren, unbeirrbaren Ernst, der männlich, nicht kindlich war, meine Lage darlegte.

Was ich ihr sagte, war etwa dies:

»Mutter, ich muß dir meine Lage aufschließen. Es gibt keinen andern Menschen, dem gegenüber ich das tun könnte oder tun möchte. Es darf dich nicht traurig machen, denn du kannst es ebensowenig ändern wie ich. Aber dich als Mitwisserin zu haben, tut mir wohl, es erleichtert mich.

Mir ist zumut, als sei mein wahres Leben irgendwo, wie ein Kleidungsstück, an den Nagel gehängt. Man hat es mir ausgezogen und weggenommen und hinter festen Verschluß gebracht. In diesen Ferien ist es mir wieder einmal zu kurzem Gebrauch geliehen worden. Man fordert es in den nächsten Tagen wieder zurück.

Wenn du an mich denkst, Mutter, denke an einen lebendig Begrabenen, der die Sonne selten zu sehen bekommt und im steinernen, fensterlosen Gewölbe seine Tage verbringen muß. Ich bin vielleicht nicht so hoffnungslos, daß ich ein Wunder ganz ausschlösse, wodurch mein trauriges, unnatürliches Los sich wieder in ein gesundes verwandeln könnte. Allem meinem Nachdenken allerdings gelingt es nicht, eine Möglichkeit der Befreiung zu sehen, etwas, das mir die Tür ins Licht öffnen könnte. Dagegen seh' ich vor mir acht bis neun im Finstern zuzubringende Jahre.«

Ich bewies es der Mutter, indem ich ihr die Zeit vorrechnete, die von Sexta zu Oberprima aufzuwenden war. Dort aber, fiel man durchs Abitur, konnte noch alles nutzloser Aufwand gewesen sein.

»Sieh mal, Mutter«, fuhr ich fort, »neulich hat sich wieder einmal ein Junge, ein Quartaner, wegen einer schlechten Zensur ums Leben gebracht. Du magst sicher sein, daß ich das niemals tun werde. Wir haben ja mit Vater oft Gespräche über den Selbstmord gehabt. Er nennt ihn feig und empört sich darüber; man müsse dem Leben gegenüber tapfer und standhaft sein. Obgleich ich ihm widersprochen habe und den entscheidenden Schritt vom Leben zum Tode nicht für feig halten kann, weiß ich doch, daß uns Vater durch seine Ansicht vor Gefahren dieser Art bewahren und standhaft machen will. Nein, Mutter, das verspreche ich dir: ich werde niemals Hand an mich legen.«

»Aber Junge! . . .« Ich fühlte, wie meine Mutter überrascht und aufs tiefste erschrocken war.

»Mutter, es ist da nichts zu erschrecken. Es ist ja vielleicht eine allgemeine Sache, die jeder junge Mensch erdulden muß und von der gar kein Wesens zu machen ist. Ich mache davon ja auch kein Wesens. Nur hätte ich in allen diesen mir gänzlich unverständlichen, gänzlich widersinnigen neuen Erfordernissen vielleicht mehr Hilfe gehabt, hättet ihr mich in der alten Umgebung belassen. Vielleicht sähe ich alles nicht so an, wenn ihr mich jeden Tag nach Waldenburg auf das Gymnasium geschickt hättet, vom Boden der alten Heimat und im Elternhaus.«

Man ginge fehl, wenn man an dem Ernst, der Bedeutsamkeit und der tiefen Gemütserkenntnis dieser Konfessionen aus Gründen meiner Jugend zweifeln wollte. Es wäre mir lieber, hatte ich noch zu meiner Mutter gesagt, wenn ich wie der verlorene Sohn Kühe, Schweine oder Schafe hüten müßte, als dieser Art von Schulwesen ausgesetzt zu sein. Der Weg durch die Schule, den ja mancher, Gott sei Dank, mit Lust und Vergnügen geht, war eben nichts für mich. Ich wäre nie an sein Ende gekommen. Und daß dem eben so und nicht anders war, wurde schon damals klare Erkenntnis für mich.

Mir steht die Unterredung mit meiner Mutter bis diese Stunde in ernster Erinnerung, und sie selber ist wieder und wieder darauf zurückgekommen. Das Breslauer Leben setzte sich bald in der alten Weise fort. In der Klasse wurde ich weiter und weiter gedemütigt.

 

Ähnlich muß einem bürgerlich Toten zumute sein wie mir damals unter Lehrern und Mitschülern. Allem ging ich – ich spürte es klar – als fünftes, unnützes Rad am Wagen so nebenher oder wurde als Ballast mitgeschleppt. Man schien übereingekommen, mich laufen zu lassen, mich nicht zu beachten, als ob ich nicht da wäre. Von Nichtbeachtung zur Verachtung ist nur ein Schritt, und so habe ich mich denn auch in der ersten Breslauer Zeit dauernd und mit Recht verachtet gefühlt. Es wird mir heut schwer, mir die marternde Empfindung von damals zurückzurufen. Aber ich sah in der Verachtung eines Mitmenschen die größte Schuld, die jemand auf sich nehmen kann. Noch in meiner Jugenddichtung »Promethidenlos« lebt der Nachhall dieses besonderen Leidens.

Vielleicht, daß ich nach und nach gegen das Parialeben, das ich neben den Dingen führte, abstumpfte. Immerhin scheint es, daß Gram darüber und nutzlose Mühen, ihm abzuhelfen, meine Gesundheit zu unterminieren begannen. Es würde wahrscheinlich bald sehr jäh und entschieden mit mir abwärtsgegangen sein, wäre nicht eine Wendung zum Besseren nach Ablauf des ersten Schuljahres eingetreten. Einstweilen aber drangen Gram, Sorgen, Ängste mit all ihren Ratlosigkeiten, Träume bildend, in den Frieden meiner Nächte ein, verbunden mit einem widerwärtigen Krankheitssymptome, das, wo es dauert, allein für sich einen Menschen in der Gesellschaft unmöglich machen kann.

Es war eine Krise, die schließlich wie die gesamte erste Breslauer Periode ohne tieferen Schaden vorüberging. Die herbstlichen Ferien, die inzwischen herankamen, hatten, wie die früheren und späteren, die Wirkung eines Kuraufenthaltes, so daß Bad Salzbrunn mir wirklich zu einem Gesundbrunnen wurde.

Zu Anfang des Winters trat etwas ein, das wie eine unerwartete blendende Wundererscheinung in meinem nutzlosen und verzweifelten Dasein zu bewerten ist. Im Rückblick betrachtet, handelt es sich um ein Phänomen, an Umfang so riesenhaft, daß es fast unbegreiflich bleibt, wie es in der Enge und Schwäche meiner geistigen Zustände Platz finden konnte.

Die Realschule lag am Zwingerplatz, dessen offener Seite sich die Schweidnitzer Straße und jenseits das Stadttheater wie ein Riegel vorlegte. Eines Tages wurde bekannt, daß die Schauspielertruppe des Herzogs von Meiningen dort Gastvorstellungen geben werde.

Ewigen Dank meinem Bruder Carl! Er sorgte mit Energie dafür, daß nicht nur für ihn, sondern auch für mich die Mittel zum Theaterbesuch bewilligt wurden.

Die Theatergeschichte weiß von den Meiningern. Es wurde in einem bis dahin ungekannten, ganz großen Stile Theater gespielt. Und so mag man ermessen, was für eine total geknechtete, aller Illusionen beraubte, in ihrem dunklen Drange nach großen Eindrücken lechzende Knabenseele die Erlebnisse Macbeth, Julius Cäsar, die Wallenstein-Trilogie und Kleists Hermannsschlacht von dieser Bühne bedeuten mußten.

Es war ein ungeheures, ein blitzhaftes Aufleuchten. Alles wurde freilich vom Leerlauf des klappernden Alltags wieder zurückgedrängt, aber es war doch im Innersten zum Besitz geworden und trug eines Tages seine Frucht.

Der neue, pompöse Theaterbau der Stadt Breslau lag gegenüber der Realschule, wie das Salzbrunner Kurtheater zehn Schritte vor der Ortsschule. Ob man aus oder in die Schule trat, man konnte daran nicht vorbeisehen. Und demnach wirkte es auch mit seinen Schauspielern, seinen großen Opern, Operetten und sonstigen Darbietungen, seinen Erfolgen und Mißerfolgen in die Schule und die Schülergespräche hinein.

 

Eine der widerwärtigsten Erscheinungen der sechsten und später auch der fünften Klasse war der Hang und die Bereitschaft zur Denunziation. Ihn zu entfesseln oder zu dämpfen, hing natürlich vom Lehrer ab. Bei einem sehr grimmigen, zum Jähzorn neigenden Mann, der, wie man munkelte, ein Bändchen Gedichte verfaßt hatte, waren Bankaufseher eingeführt. Sie hatten zu untersuchen, ob auch jeder Schüler der Bank die vorschriftsmäßigen Materialien, Hefte, Gummi, Feder, Bleistifte, mitgebracht hatte. Der Vergeßliche mußte aus der Bank treten. Zehn oder zwölf solcher Schwerverbrecher wurden gewöhnlich ausgesondert und von dem Dichter ans Katheder gewinkt.

Dort wand er sich in Zornesausbrüchen.

Einmal wurde ich bei solcher Gelegenheit plötzlich von ihm gefragt: »Nun, Hauptmann, was soll ich mit dieser Bande anfangen?«

Über den Grund dieser befremdlichen Frage wurde ich von Carl aufgeklärt.

Der gleiche Lehrer hatte früher Worte wie »Canaillen«, »Hunde«, »Lumpenhunde«, »Schweinebande«, »Saupack« gebraucht. Lachend hatte dies Carl gelegentlich Onkel Paul erzählt, dem Bruder der Mutter, der eine Auskunftei in Breslau betreute, und dieser beim Biere einem Professor, der am Zwinger Lehrer war. Er wollte die Sache nicht glauben und war empört. Auch hielt er für nötig, Schritte zu tun, damit der Fall untersucht würde. Das Zeugnis der Schule bestätigte unwiderleglich den Sachverhalt.

»Hauptmann, was soll ich mit dieser Bande tun?« Der Lehrer, der einen Rüffel des Direktors davongetragen hatte, setzte voraus, daß mir Carl von der Sache gesprochen habe.

Da ich zu den Vergeßlichsten in der Klasse gehörte, mußte ich oft vor dem Unhold und den Mitschülern Pranger stehen. Übrigens hat er mir nichts getan, nicht einmal in dem entsetzlichen Fall, als sich der Bankaufseher mit den Worten erhoben hatte: »Hauptmann hat mich bestechen wollen.«

Ich hatte in der Tat gebeten, eine vergessene Stahlfeder oder dergleichen zu verschweigen, und ihm irgendeine Belohnung in Aussicht gestellt.

Gefängnis oder Zuchthaus stehe auf Bestechung, kam mir in den Sinn. Und ich wurde beinahe zur Salzsäule, als mich mein Mitschüler laut vor der Klasse dieses Verbrechens anklagte. Seltsamerweise, wie gesagt, kam ich ohne Gefängnis, Zuchthaus oder sonst eine Strafe davon.

Die Jungens, die mich umgaben, liefen einander den Rang im Gehorsam ab. Sie sahen einander kaum ins Auge, gaben einander kaum die Hand. Sie gebrauchten nur ihre Ellbogen.

In den Freiviertelstunden fand eine Jagd über Tische und Bänke statt. Als ich einmal memorierend, die Füße auf der Schulbank, auf dem Pulte saß, wurde ich von vorn überrannt, so daß ich mit dem Hinterkopf gegen die Kante des nächsten Pultes schmetterte. Ich hatte sekundenlang die Besinnung verloren, mehrere Tage dröhnte mein Kopf davon.

 

Die Weihnachtsferien bedeuteten diesmal keine Aufmunterung. Der Vater war krank, und Mutter wie Vater nicht nur von dieser Sorge belastet. Mein Vater erhob sich kaum vom Großvaterstuhl, den man dicht an den Ofen gerückt hatte. Seine Beine waren in Binden und Watte gewickelt. Doktor Straehler, mein Onkel, und Doktor Oliviero, mein einstiger Geigenlehrer, hatten Gelenkrheumatismus festgestellt. Gustav Hauptmann vertrat meinen Vater im Haus. Der Halbbruder meines Vaters war verlobt. Er werde, so hieß es, im Sommer oder Herbst nächsten Jahres Bertha Sagner heiraten, eine wirtschaftliche Person, die ein halbes Jahrzehnt den Haushalt des Kohlenbauern Karl Tschersich geleitet hatte. Man erwartete eine Ausstattung, ja es wurde gesagt, daß der ehemalige Dienstherr Berthas Onkel Gustav das Geld zum Kauf des Gasthofs Zum schwarzen Roß in Waldenburg vorstrecken werde, was wirklich im kommenden Herbst geschah.

 

Unsere Mutter begann uns ins Vertrauen zu ziehen und uns zu Mitwissern ihrer Sorgen zu machen. Vater fröne noch immer, obgleich das Vermögen zurückgehe, seiner Pferdeleidenschaft. Er wolle darin mit Karl Tschersich konkurrieren. Auch stürze er sich in neue, gewagte Unternehmungen, was er trotz allfällig schlechter Erfahrungen immer wieder nicht lassen könne. Er habe nur Geld verloren bei der Gasanstalt. Der Kursaal habe ihn Geld gekostet. Das Rentamt des Fürsten habe die hohe Pacht des Brunnenhofs eingesackt, der Vater auch nur Arbeit und Verluste gebracht habe. Nun denke er an ein Kohlengeschäft am Juliusschacht, das er zusammen mit Tschersich aufmachen wolle. Dabei sitze er unbeweglich mit schrecklichen Schmerzen im Großvaterstuhl.

Trübe Eindrücke, trübe Aussichten, sofern Mutter recht hatte, nahmen wir diesmal bei der Rückkehr nach Breslau mit.

Vater quälte sich monatelang. Der Rheumatismus wollte nicht weichen. Die Mittel der Ärzte schlugen nicht an. Man wandte sich schließlich an einen Quacksalber, so sehr mein Vater auch solche Leute geringschätzte. Endlich im Frühjahr kam dann die Besserung.

 


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