Gerhart Hauptmann
Das Abenteuer meiner Jugend
Gerhart Hauptmann

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Neununddreißigstes Kapitel

Wie ich schon sagte, hatte die Schule um jene Zeit manche von ihren allzu drückenden Momenten eingebüßt. Neben den unangenehmen waren nun auch andere, ja sogar einige prächtige Lehrergestalten aufgetaucht, für die man Vertrauen und Neigung empfinden konnte. Doktor Schmidt, ein kleiner, gedrungener Mann, der wie Jurisch den Krieg als Offizier mitgemacht hatte, brachte Wärme und Leben in seinen Unterricht. Er machte uns glauben, daß wir das künftige Deutschland auf unseren Schultern tragen und etwas von der Verantwortung schon jetzt fühlen müßten. Die Achtung, die sich in seinen Worten aussprach, hatte Selbstachtung bei uns im Gefolge, nicht, wie im allgemeinen das Verhalten anderer Lehrer, Erniedrigung.

Sein Vortrag war lebendig und hinreißend. In seinen Kriegserzählungen offenbarte er die höchste Achtung vor dem Feind. Er bebte, und wir bebten, wenn er mit dem Wohllaut seiner männlich gutturalen Stimme die Attacke des französischen Kürassierregimentes Bonnemain schilderte, wie der übriggebliebene General dem dritten Napoleon Bericht erstattete: »Sire, das Kürassierregiment Bonnemain existiert nicht mehr.«

Wir wären für Schmidt durchs Feuer gegangen. Merkwürdig war sein Religionsunterricht. »Kann jemand«, fragte er zum Beispiel, »der wie Judas so sehr das Vertrauen des Heilands besaß, daß er die gemeinsame Kasse zu verwalten hatte, eigentlich ein ganz schlechter Mensch gewesen sein?« Und wenn wir das nach einigem Sinnen verneint hatten, so führte er uns durch eine Art sokratischen Frage-und-Antwort-Spieles zu unbefangenen, freieren und selbständigeren Urteilen über Einzelheiten der Evangelien. So hat der verehrungswürdige Doktor Schmidt in meine Seele einen Keim gelegt, dessen Wachstum durch mein Leben ging und Früchte getragen hat.

Ein lebhafter, polternder und gutmütiger Mann namens Auras ist mir erinnerlich. Es war bekannt, daß er gelegentlich küßte, und so hat er auch mich, als ich aus den Ferien kam, umarmt und geküßt. Aber es kann zu nichts dienen, im weiteren auf Gerechte und Ungerechte unter den Schulmonarchen einzugehen, über die Gott weiter – Gewesene, Seiende und Kommende – seine Sonne gleichmäßig scheinen lassen soll und wird.

 

Um diese Zeit wurde mir durch einen Klassengenossen Carls, einen Jüngling namens Dominik, tragisch zu Gemüte geführt, wohin ein fortgesetztes Mißverhältnis zur Schule führen kann. Es war nicht schwer, dem schönen, dürftig gekleideten Jüngling den Zug von Genialität anzusehen, der ihn auszeichnete. In der Mehnertzeit verkehrte er viel bei uns.

Ein Zug von Schwermut lag über ihm. Er fühlte sich wie viele bedeutende Naturen von meinem Bruder Carl angezogen. Dominik las uns Gedichte vor. Während der Michaelisferien erschoß er sich, weil sein unbemittelter Vater mit seiner Versetzung gerechnet hatte, er aber in der alten Klasse sitzenblieb.

Eines Tages – ich war in meinem Zimmer allein – wurde mir von einem Dienstmann ein Briefchen überbracht, das seltsamerweise von meiner Mutter kam, die also in Breslau sein mußte, wo sie, soweit ich denken konnte, nie gewesen war. Sie berief mich in eine Konditorei. Ich war gemeinsam mit meiner Mutter gelegentlich im Salzbrunner Kurtheater, in der Salzbrunner Kirche, auf Wilhelmshöh, in Fürstenstein oder auf der Salzbrunner Promenade, sonst aber nur im Elternhaus, im Gasthof zur Krone, zusammen gewesen. Meine Mutter allein in der großen Stadt – das war eine Vorstellung, die mich in ihrer Neuheit befremdete.

Als ich sie in der Konditorei zu Gesicht bekam, war es mir beinahe noch befremdlicher.

Hier war das liebe, hochverehrte Wesen, um das sich meine Jugend gedreht hatte, eine Frau unter vielen geworden.

Daß meine Mutter sich nie aus dem Zentrum ihres Wirkungskreises eigentlich herausbewegt hatte, steigerte das Mysterium und erhöhte das Gewicht ihrer Mütterlichkeit. Wie mir nicht nur aus diesem Breslauer Erlebnis, sondern aus meiner Erinnerung überhaupt deutlich wird, stand meine ganze Kindheit, soweit sie mir bewußt wurde, unter dem Matriarchat. Daran konnte die Autorität meines Vaters, seine Führer- und Herrscherstellung, nichts ändern. Er hatte sich doch immer nur mit uns zusammen um die Mutter wie um die Gottheit des Hauses herumbewegt. Es nahm ihr auch nichts von ihrer übergeordneten Wesenheit, wenn sie ihre Kräfte in niedrigen Arbeiten der Küche einsetzte, die Einfachheit ihrer Kleidung bis ins Ärmliche trieb und äußere Repräsentation ablehnte. Um so mehr wurde ihr Wesen ausschließlich Innerlichkeit. Es war das Element, in dem ich allein zu leben, beruhigt, froh und glücklich zu sein vermochte. Es war die Bedingung, ohne die alles andere undenkbar war.

Ihr mildes Lächeln, als sie mich sah, schien mir wie ihr Hiersein überhaupt geheimnisvoll. Sie wußte – man sah es ihr an –, daß ihre Gegenwart mir wunderlich vorkommen mußte. Als aber meine Neugier in dem Glück, sie zu sehen und bei ihr zu sein, unterging, nahm sie keinen Anlaß, mich aufzuklären.

Mein ältester Bruder, Georg, erzählte sie mir, sei vom Vater aus seiner Stellung in Hamburg abberufen worden; er solle die Leitung des Gasthofs übernehmen, was sie mißbillige. Leider könne sich Vater von der alten Krone immer noch nicht trennen, was nach ihrer Ansicht ein großes Unglück sei.

Nach Jahren erfuhr ich: meine Mutter ist damals in Breslau gewesen, um den Pachtvertrag der Bahnhofswirtschaft Sorgau, der aus Gründen auf ihren Namen lautete, vor dem Notar zu unterschreiben.

So ward sie plötzlich aus Not des Augenblicks von meinem Vater unter eigener Demütigung in dem Kampf ums Brot als verantwortliche Geschäftsfrau vorgeschoben.

Aber ich ahnte, als sie mich im lauten Getriebe des Lokals Kaffee und Kuchen bestellen ließ, von alledem nichts. Was ich an ihr bemerkte, war der mir neue Ausdruck von Selbständigkeit. Irgend etwas lag über ihr wie Befriedigung. In Wirklichkeit war es die Genugtuung darüber, daß sie nun doch einmal meinem Vater auch in seinen geschäftlichen Kämpfen nützen konnte.

Ich schüttete der Mutter mein Herz aus und führte ihr mein Leben bei den Mehnerts zu Gemüte. Zu meiner Überraschung und Freude erfuhr ich von ihr, wir würden möglicherweise zu Michaelis wieder bei Gaudas einziehen. Der Pastor erweitere und verbillige seinen Pensionsbetrieb und werde zu diesem Zwecke die Wohnung wechseln.

Mutter entließ mich vor der Konditorei, sie wollte auf ihren weiteren Wegen in Breslau von mir nicht begleitet sein. Auch sollte ich nicht auf die Bahn kommen, da die Stunde der Abreise unsicher sei. Ich war erstaunt darüber, wie bestimmt und sicher sie sich außerhalb ihres Gebietes im Lärm und Durcheinander der großen Welt zu bewegen vermochte.

 

Ihr Besuch ließ mich in einer eigentümlich unbestimmbaren, doch spannenden Verfassung zurück. Alles verlor seine festen Umrisse. Ich selbst, mein Schicksal, meine Zukunft standen gleichsam in der Luft. Die Vergangenheit, der Badeort Salzbrunn, das Elternhaus verloren den Charakter einer unbewegten Wirklichkeit und verschwammen, wenn ich den Blick auf sie richtete. Meine Mutter hatte auch allerlei angedeutet, was mir erst später zu Bewußtsein kam. Sie war von sich aus auf meine Beichten vor dem Aquarium auf der nächtlichen Promenade zurückgekommen. Ob mir die Schule noch immer so widerwärtig sei, fragte sie. Dann schwärmte sie – und das war ich seit Jahren an ihr gewöhnt – vom Gärtnerberuf und betonte wie immer, daß sie sich etwas Idealeres nicht denken könne. Aber auch der Landwirtsberuf mit seinem Säen und Ernten, seinem gesunden Leben in frischer Luft sei schön. Sie kam auf die Schuberts, behauptete bei Onkel Schubert einen Zusammenhang zwischen seinem Beruf und seinem Wesen und stellte ihn als ein menschliches Muster hin. Was wäre aus Julie nach dem Tode ihres einzigen Kindes geworden, wenn sie nicht gerade diesen Mann zur Seite gehabt hätte! Wie er diesen Schicksalsschlag, diese Prüfung Gottes ertragen habe und seiner Frau überdies noch eine feste Stütze gewesen sei, das könne man nicht genug bewundern.

Die Pacht des Rittergutes Lohnig, erzählte die Mutter, laufe ab, und Schwager Gustav werde sie nicht erneuern. Er habe ein Bauerngut nicht fern davon gekauft und wolle sich mit Tante Julie dahin zurückziehen. Für irgend etwas außer sich selbst zu sorgen brauchten die beiden ja nicht mehr; seit dem Tode Georgs fanden sie nur noch in dem Gedanken der Weltflucht einige Befriedigung.

Wenn ich, hatte meine Mutter geschlossen, mich nach meiner bevorstehenden Konfirmation immer noch nicht in die Schule finden könne und die Landwirtschaft mich anzöge, so könne man ja mit Onkel Gustav Schubert in dieser Frage zu Rate gehn.

Sie hatte ein Tor ins Freie gezeigt, das ich, sofern ich wollte, öffnen konnte. Dadurch wurden Schwankungen, Erwägungen, Hoffnungen, Befürchtungen, kurz alle Seelenregungen eines Zwischenzustandes in mein Dasein gebracht.

Bei den Mehnerts schäumte meine Kindheitsphantastik noch einmal, zum letzten Male, auf. Man muß sich wundern, bis zu welchem Grade bei verhältnismäßiger Reife ich hinter verschlossenen Türen wieder zum Kinde wurde. Ich fing Pferde – es waren Stühle – mit dem Lasso auf einem windschnellen Steppenroß, das ebenfalls durch einen Stuhl vertreten wurde. Ich verfaßte ein überirdisches Märchen, in dem ich die Sonne, der ich die Fähigkeit zu denken zutraute, von menschlich gearteten Übermenschen bewohnt sein ließ. Durchdrungen von der höheren Einsicht ihres Gestirns, versprachen sie mir, sie würden mich dermaleinst in ihre Göttergemeinschaft aufnehmen. Beinah ging ich im Verwandeln der Gegenstände meines Zimmers so weit wie Alfred Linke, der Apothekerssohn, als Kind, als er ganze Apotheken, Provisoren und Geschäftsbeziehungen aller Art als volle Wirklichkeit imaginierte.

Noch bei den Gaudas reimte ich in mein Diarium einen Schiffsuntergang. Ein feiner Knabe, Heimann mit Namen, kein Mitschüler, war der einzige, der mir glaubte, daß ich der Verfasser sei, und mich zum Weiterschreiben ermutigte. Dominik und sein Ingenium regten zu tieferem Ausdruck an, und so wurde diese und jene düster-melancholische Kleinigkeit dichterisch improvisiert.

Dominik ist in eines meiner Werke übergegangen und ebenso diese vier Zeilen, die auch hier nicht zu übersehen sind. Sie zeigen den ganzen furchtbaren Ernst, dem ein Knabe, ein werdender Jüngling, sich einsam gegenüber befinden kann:

Und wie man einst am Anfang deines Lebens
nur mit Verachtung sah auf dich herab,
so ist auch jetzt das Endziel deines Strebens
und deiner Tatkraft ein verachtet Grab!

Wie es immer ist: seit die Familie Mehnert und wir unsere baldige Trennung vor Augen sahen, fingen wir an, uns zu vertragen, ja unser Verhältnis wurde recht angenehm. Die freundlichen Eigenheiten der Familie haben überhaupt herzlich versöhnende Spuren zurückgelassen. Der Kunstschlossermeister bestand aus Güte und Tüchtigkeit, die Frau bewies durch die Erziehungsversuche an ihrem Sohn und auch sonst ein höheres geistiges Streben. Ich habe ihre Liebe zu Blumen und allerlei Topfpflanzen, die sie auf mich übertrug, dankbar in Erinnerung. Wenn sie mit ihrem Einspännerchen den Wochenmarkt besuchte, kehrte sie jedesmal mit Alpenveilchen und anderen exotischen Gewächsen in Töpfen zurück und mit Mengen von Blumen der Jahreszeit. Ich erhielt dieses oder jenes Gewächs für die immer wachsende Blumenanlage in meinem Zimmer als Geschenk.

Was aber ihre drei Kinder betraf, so habe ich weder von ihrem Sohn noch von ihren beiden Töchtern irgend etwas zu leiden gehabt.

Die Sonntagsausflüge der Familie führten über das Weichbild in die uns unbekannte Landschaft hinein. Man traf sich an einem Gasthaus an der stillen Ohle, bei einem guten, allgemein beliebten Angelplatz, oder besuchte ein entferntes Dorf mit Karussell. Den Neigungen des Meisters eignete ein romantischer Zug. Manchen Sonnabend gegen Abend stiegen er, Carl, ich und sein Sohn in sein Einspännerchen und fuhren die ganze Mondnacht hindurch gegen Süden, bis wir unter dem Zobtenberg im Städtchen Zobten ankamen. Ging dort ein Ressourcenball gerade zu Ende, so lud man uns freundlich ein, an den letzten Tänzen noch teilzunehmen. Nicht ich zwar, aber Carl und der junge Mehnert machten wohl auch Gebrauch davon.

 

Etwas von Heimweh hatte den Gedanken an die Rückkehr in das pastörliche Hauswesen eingegeben. Ich kann es heute nicht mehr genau sagen, glaube aber, daß Gaudas noch die frühere Wohnung im dritten Stock der Graupenstraße innehatten. Jedenfalls glich sie genau der alten, nur daß ein Trakt im Hinterhause dazugekommen war. Carl und ich teilten ein Zimmer; neben uns in einem anderen waren die Sekundaner Gürke und Hickethier untergebracht. Da sie der Pastorsfamilie noch fremd waren, war unsere Stellung im Hause die bevorzugte. Die Wiedervereinigung nach der Trennung erzeugte Vertraulichkeit. Es war, als gehörten wir zur Familie.

 

Gott weiß nun, wie es gekommen war, Carl wollte in mir den Dichter entdeckt haben: ein Umstand, den er mit dem ihm eigenen Enthusiasmus sogleich den Damen des Hauses, der Pastorin und ihrer Mutter, mitteilte.

Es war brüderlich, mehr als brüderlich, wie sich damals Carl für mich einsetzte. Die schöne, magdliche Pastorin, die im Alter nur zwei bis drei Jahre von der jungen Feuerseele unterschieden war, nebst ihrer schlanken und klugen Mama mögen sonach seine und meine ersten Proselyten gewesen sein.

Was die dichterischen Produkte betrifft, so wird Carls Liebe zu mir, mehr als poetische Urteilskraft, seine Stellung dazu bedingt haben. Oder lag in ihm das Vermögen einer feinen geistigen Witterung, die hinter kindlichen Versuchen eine zukunftsreiche Kraft wahrnehmen wollte?

Ich erlaubte mir eines Tages, wie ich denn überhaupt zu dergleichen neige, eine Mystifikation. Die gewaltigen Eindrücke der Meininger mit den Werken von Shakespeare, Schiller und Kleist hatten mich nicht von den meinem jugendlichen Wesen nahestehenden Gedichten und Dramen Theodor Körners zurückgehalten. Eines seiner Gedichte, die ziemlich lange Ballade »Kynast«, las ich eines Tages Carl als soeben vollendete eigene Dichtung vor und weidete mich daran, wie seine Augen sich immer größer und größer auftaten. Schließlich brach er in die gläubig stammelnden Worte aus: »Was?! Das hast du gemacht? Wahrhaftig? Nun, Gerhart, dann bist du schon jetzt ein großer Dichter.«

Ich lachte herzlich und klärte ihn auf.

Man sieht, ich spielte bereits mit dem Ehrgeiz, und der Ehrgeiz spielte mit mir.

 

Dem Pastor schien die freie Art, in der Carl mit seinen Damen verkehrte, nicht recht zu sein, wie er denn schon früher wenig Verständnis für sein Wesen gezeigt hatte. Wenn meine Mutter freundlich sagte: »Carl, du bist zu ideal!«, so verursachte diese Idealität dem derben Masuren Ärger.

Als der Rausch der Wiedervereinigung eine Weile hinter uns lag, hielt es Pastor Gauda für wichtig, gegen den Wildwachs in unserem Geiste einzuschreiten. Und besonders was mich betraf, konnte er wohl nur der in den meisten Fällen berechtigten Meinung sein, daß Kritzeleien und Reimereien als vertane Müh' und vertane Zeit zu bewerten sind. Es kam bei mir nicht auf törichte Verschen an, sondern darauf, daß ich in eine höhere Klasse versetzt würde.

Dies brachte er denn auch zum Ausdruck, als er eines Tages, um zu revidieren, in unser Zimmer kam und mich – horribile dictu – in »Kritische Wälder« von Herder lesend fand. Wenn er mir sagte: »Das magst du in fünfzehn bis zwanzig Jahren lesen, dann bist du vielleicht langsam reif geworden dazu!«, hatte er recht, und wer wird ihm nicht recht geben? Und doch las ich in diesem Buch und hatte einen Genuß davon. Durchdrang ich nicht den dichten Gedankenwald, nicht das Gestrüpp und das Unterholz, drin die Vögel sangen, so konnte ich doch an alledem eine irrationale Freude haben, ähnlich jener an der Natur, die ja auch nicht an verstandesmäßiges Begreifen gebunden ist.

Aber freilich, ungenügender Sextaner oder Unterquintaner sein und Herders »Kritische Wälder« lesen ist ein schwer zu überbrückender Gegensatz.

Anders war es nun freilich mit Herders »Stimmen der Völker in Liedern« und etwa dem Liede vom nußbraunen Mädchen: »vom Mädchen braun, die fest und traun! liebt, wie man lieben kann.« Hier ging jede Zeile, ohne Widerstand zu finden, in mich ein. Das nußbraune Mädchen war jahrelang überallhin meine Begleiterin.

Diese imaginierte ist vielleicht meine erste glückliche Liebe gewesen.

 

Überall war damals plötzlich, beinah unerwartet, geistiges Wachsen und Werden in mir, was der Flügelschlag meines geistig immer lebendigen, immer vorwärtsdringenden Bruders anfachte. Bei seinem Alter mit Geldmitteln besser ausgestattet als ich, erwarb er alle paar Tage ein neues Buch. Auch der Bücherschrank meines Vaters, von dem schon die Rede gewesen ist, steuerte vieles zu unserer Bildung bei. Von daher stammte, was Carl von Goethe zitieren konnte. Zum ersten Male hörte ich damals jenes Evangelium, das freilich Ärgernis bei dem Pastor erregen mußte:

Was wär' ein Gott, der nur von außen stieße,
im Kreis das All am Finger laufen ließe!
Ihm ziemt's, die Welt im Innern zu bewegen,
Natur in Sich, Sich in Natur zu hegen,
so daß, was in Ihm lebt und webt und ist,
nie Seine Kraft, nie Seinen Geist vermißt.

Aber auch Carus Sternes »Werden und Vergehen« lag auf unserm Tisch, und ich konnte mir allerlei, so die Kant-Laplacische Weltentstehungstheorie, aus dem Folianten zu eigen machen.

Das Motto des Buches schlug mir ein. Es schien mir ein Wort, das von jemandem, der hinter und außer allen Worten und hinter aller Erscheinung stand, dennoch gesprochen wurde. Es war in Form des Gedankens eine Befreiungs-, eine Erlösertat. Nie mehr verließ es mich seitdem, und oft in dem quälenden Treiben gewisser Tage und Wochen habe ich damit die mich umgebende Welt annulliert.

Ist einer Welt Besitz für dich gewonnen,
sei nicht erfreut darüber: es ist nichts.
Ist einer Welt Besitz für dich zerronnen,
sei nicht im Leid darüber: es ist nichts.
Vorübergehn die Schmerzen und die Wonnen!
Geh an der Welt vorüber: sie ist nichts.

In ganz andre Sphären wurde ich um diese Zeit eines schönen Tages durch die Schule hinabgerissen. Der alte Schuldirektor Klettke war durch den jungen Direktor Meffert ersetzt worden. Neue Besen kehren gut. Er kam mit dem Drang, zu reformieren, mit dem er auch eines Morgens bei uns in der Unterquinta erschien.

Der Pedell unserer Schule hieß Bartsch. Er war groß und dick und stand sich gut mit uns Schülern. Zum zweiten Frühstück gab er belegte Semmeln, das Stück zu zehn Pfennig, sogenannte Bartschbrötchen aus.

Wir wußten, daß gewisse Exekutionen, Prügelstrafe auf den Hintern, sine ira et studio sachgemäß durch ihn ausgeführt wurden. War es geschehen, so hieß es, der Schüler sei gebartscht worden. Er tat seine Pflicht, und seine Beliebtheit litt darunter nicht. Ich habe einer solchen Szene nie beigewohnt.

Direktor Meffert, mit seinem Vollbart, rötlich wie der Asathors, ließ sich vom Klassenlehrer einen Jungen bezeichnen, zog ihn persönlich aus der Bank und vor das Katheder hinaus, griff den zurechtgelegten Stock, warf den Knaben, Gesicht nach unten, über das erste Pult und vollzog nun ebenfalls kunstgerecht höchstpersönlich die Prügelstrafe. Dieses Dreschen in seiner abstoßenden, groß und klein entwürdigenden Ekelhaftigkeit bedeutete allen einen widerwärtigen Augenblick.

Mag sein, daß der stattliche, kraftstrotzende Meffert sich opferte. Er dachte vielleicht, man dürfe einen ihm anvertrauten Zögling nicht dem Hausdiener Bartsch zur körperlichen Bestrafung überantworten. Von der Hand des Direktors geprügelt zu werden möchte nicht so entehrend sein. Hätte mich aber das gleiche betroffen, ich wäre von der Schule hinweg, ohne noch jemand zu sehen oder zu sprechen, ganz gewiß in den Tod gegangen. Ein Leben zu leben mit einem solchen Schandfleck als Erinnerung wäre mir nicht gegeben gewesen.

 


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