Gerhart Hauptmann
Das Abenteuer meiner Jugend
Gerhart Hauptmann

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Zweiundfünfzigstes Kapitel

Seltsam, ich hatte die Lehre verlassen, um in Proskau Ökonomie zu studieren. Die Schuberts, die Eltern, ich selber, wir hatten keinen anderen Gedanken. Kaum war ich in Sorgau, als von Landwirtschaft, die ich noch tags zuvor für meinen fest bestimmten Lebensberuf gehalten hatte, mit keinem Wort mehr die Rede war. Mein Vater, ich fühlte es, hatte mich freigegeben. Stillschweigend war die Berufswahl wieder in meine Hand gelegt.

Ich durchlebte zunächst eine Muluszeit, konnte mich nach Belieben bewegen, Ausflüge machen oder auch ruhen, ohne daß sich jemand um mich kümmerte. Es wurde kaum laut davon gesprochen, aber es fand gerade damals ein bedeutungsvolles Ereignis statt. Die alte Krone war unter den Hammer gekommen. Man spürte, daß mein Vater dadurch nicht überrascht worden war. Die vernichtende Wirkung auf die Familie war durch die Bahnhofspachtung, die auf den Namen der Mutter lief, einigermaßen paralysiert. Was Vater dachte, war schwer zu sagen. Die Mutter, wenn man ihr glauben wollte, war, getreu ihrer früheren Haltung, froh, daß es endlich so weit gekommen war. Was mir als Knabe ganz unfaßbar gewesen sein würde, konnte nun in mir keine Trauer, nicht einmal Bedauern auslösen. Es machte mir nicht das geringste aus, mich in Salzbrunn blicken zu lassen oder Georg und Schwester Johanna zu besuchen, welche die peinliche Pflicht durchgeführt und dem Zerstörungswerk der Versteigerungen von Möbelstücken, Betten, Wäsche, Porzellan, Glas und Küchengeräten aller Art sowie der von mir so geliebten Bilder bis zum Schluß beigewohnt hatten, bis dann auch unser alter, lieber Gasthof selbst für wenig Geld einem Gläubiger zugeschlagen worden war.

Immerhin stieg ich noch ein letztes Mal in den verschiedenen Stockwerken umher, um von dem Gehäuse meiner Knabenseele Abschied zu nehmen, also doch mit dem ganz bestimmten Gefühl, daß es das Kleid meiner Jünglings- und Mannesseele nicht mehr sein konnte.

Bruder Georg war ein schöner, energischer Mann geworden. Sein feuriger Blick und besonders sein Schnurrbärtchen war sozusagen herzensknickerisch. Er konnte mir diesmal nicht viel Zeit widmen. Nachdem er sich auf eine bei ihm übliche, lustig schnodderige Weise nach dem Befinden des Stoppelhopsers, Klütentreters und Furchenscheißers, wie er mich nannte, erkundigt hatte, wollte er wissen, ob ich es noch immer nicht lassen könne, den Pegasus zu beklettern und von ihm abgeworfen zu werden. Schließlich entließ er mich huldvollst mit den Worten: »Tu, was du nicht lassen kannst, Dichterling! Dichte ruhig weiter, bis der Mastbaum bricht, aber hebe dich jetzt aus meinen Augen, denn ich habe leider im Augenblick weder zum Lesen noch zum Machen von Gedichten Zeit!«

 

Johanna und ich gingen zu Tante Mathilde Jaschke, bei der die Schwester Schutz und Asyl hatte. Thildchen empfing uns, wie mir schien, mit ganz besonders guter Laune und großer Herzlichkeit. Sie wollte wohl über das traurige Muß der Stunde hinwegtäuschen. Noch wohnte sie in einer Etage des Kurländischen Hofes, den das verstorbene Fräulein von Randow innegehabt, zwischen altertümlichen Möbeln, die sie von ihr geerbt hatte.

Ich hatte das ganz bestimmte Gefühl, daß diese Dame mit Gut und Blut im Kreise unserer Familie stand. Wir waren die Menschen ihrer Wahl, ihr Entschluß war gefaßt, um jeden Preis unser Schicksal zu teilen. Im Augenblick fühlte sie, wie sie mit ihrem Vermögen, ihrer Heiterkeit, nicht zu vergessen ihrer selbstverständlichen Lebenstapferkeit ganz besonders am Platze war.

Sie wollte wissen, ob ich vorhätte, nach Proskau zu gehen, oder was sonst? Ich war geneigt, mich durch Privatstunden in Breslau auf das Examen zum Einjährig-Freiwilligen-Dienst vorzubereiten. Ich gedachte, das Pensum in einem Jahr zu bewältigen. In diesem Gedanken bestärkte sie mich. Warum habe ich eigentlich nicht zu dieser so hilfreichen Dame, die sprachlich und pädagogisch begabt und gebildet war, gesagt: »Nimm du doch die Sache in die Hand und bereite mich vor für dies bißchen Examen!« Sie hätte das in einem halben Jahr mir spielend beigebracht.

Der Breslauer Plan wurde ausgeführt.

Bei der Ankunft in Breslau fand ich Carl, Ploetz und einen gewissen Schammel vor, der ehemaliger Klassengenosse der beiden, nun aber Kaufmannslehrling war. Der schwankende Zwischenzustand, in dem ich mich noch während der Fahrt befunden hatte, wurde schon durch den lauten und frohen Empfang ausgelöscht. Gleich zu Anfang wurde mir die Eröffnung gemacht, ich sei in den Bund der Freunde aufgenommen, und während wir gegen das Innere der Stadt pilgerten, bald mit Carl und Ploetz, bald mit Schammel und Ploetz Arm in Arm, wurden mir allerlei Dinge geheimnisvoll angedeutet, in die ich an einem der nächsten Tage eingeweiht werden sollte.

Wie aus einem Gefängnis befreit, dem Leben zurückgegeben, sah ich heute die Stadt, die ich wie ein Erlöster verlassen, wiederum als ein Erlöster an: hatte sie mich dereinst ersticken wollen, gab sie mir heut die Lebensluft, die ich entbehrt hatte. Es war ein Ruck, den ich plötzlich empfand, und wie ich eingehenkelt zwischen den Freunden ging, schien mir jeder meiner Schritte wie ein wirklicher Schritt nach vorwärts zu sein.

Es ging an der öden Fassade der Elfer-Kaserne entlang, das Inquisitoriat mit dem Kriminalgericht wurde passiert, dessen Inneres ich von den Gauda-Tagen her so gut im Gedächtnis hatte. Wir landeten bei einer Frau Hüsgen im zweiten Stock eines Hauses der Großen Feldstraße, wo ein kleines, eigenes Zimmer neben dem meines Bruders auf mich wartete. Es war ein schöner Oktobertag, der uns, nachdem ich mich etwas gesäubert hatte, wieder ins Freie zog, wo wir nach einem belebten Stadtbummel in einem der Biergärten an der Promenade endeten.

 

Es war für mich ein Tag von hoher Bedeutsamkeit, nicht nur durch den neuen Rhythmus, den er mir gab, sondern durch eine Erkenntnis, die plötzlich im Laufe des heiteren Disputierens in mir aufleuchtete. Sie hat mich zu einem neuen, einem selbstbewußten Menschen gemacht und ist mir bis heut nicht verlorengegangen. Es wurde mit ihr gewissermaßen das gesunde und gerade Wachstum meiner Knabenjahre wieder aufgenommen und nach jahrelangem Siechtum auf höherer Stufe fortgesetzt: eine Möglichkeit, an der ich noch jüngst in Salzbrunn verzweifeln wollte.

Vor meinem inneren Auge nämlich gebar sich, Athene mit Schild und Speer, die Urteilskraft. In der Zeit meines seelischen Siechtums hatte ich mich wie eine Fliege im Spinnennetz unentrinnbarer Abhängigkeiten herumgewälzt, nicht einmal bemüht, mich zu befreien. Nun war ich frei, denn ich wurde von der neugeborenen Göttin für frei erklärt. Es ist der Mensch, der den Staat, die Kirche, die Schule für seine Zwecke geschaffen hat. Ich bin solch ein Mensch, ich bin der Mensch. Und weil ich der Mensch bin, bin ich der Schöpfer. Feste Bildungen, im Sinne von ein für allemal gegebener, unveränderlicher Art, sind menschliche Institutionen nicht. Es sind veränderliche Gebilde. Nur dadurch sind sie wachstumsfähig, nur darin besteht die Möglichkeit, sie zu vervollkommnen, und ich bin berufen, ich möchte sagen mit jedem meiner Gedanken, daran mitzuarbeiten. Es gibt in dieser Beziehung nur Menschen gleichen Berufes neben mir, nicht über mir. Und so habe ich mich an jenem Tage, indem ich mir dies alles sagte, bewußt und klar zum Ritter geschlagen.

Die Stunde dieser Erkenntnis war der Zeitpunkt meiner Geburt als Persönlichkeit. Es ist selbstverständlich, daß auch diese Persönlichkeit noch lange knabenhaft unreif und fehlbar blieb. Das zeigte sich bald, als ich mit meinen Kameraden gemeinsam zwar in ein einigermaßen sinnvolles, aber doch kindliches Unternehmen verwickelt wurde. Ich empfand es als Spiel nach dem schönen Ernst der Lohniger und dem quälenden der Lederoser Zeit.

In einem verschlossenen Zimmer durch Ploetz, Schammel, Carl und einige andere junge Leute ins Gebet genommen, erfuhr ich, daß ich gewürdigt worden sei, in eine bestimmte Gemeinschaft einzutreten. Näheres könne mir aber nur eröffnet werden, wenn ich durch einen altgermanischen Schwur tiefstes Stillschweigen angelobe. Hochbeglückt, ja beseligt, tat ich das, und man wollte nun wissen, ob ich in einen Geheimbund einzutreten willens sei, der ein pangermanisches Ziel habe und die Vereinigung aller germanischen Stämme und Völker herbeiführen solle. Von Ploetz in diesem Sinne belehrt, wußte ich einigermaßen Bescheid über die nach seiner Ansicht unbedingte Notwendigkeit einer solchen Entwicklung. Ich trat ohne weiteres in den Bund und hatte nur noch die Aufnahme durch eine nächtliche Zeremonie zu gewärtigen, die am folgenden Sonntag stattfinden sollte.

Vom dumpfen Großknechtideal, dessen schmerzhafte Prägung ich noch vor kurzem wie ein Brandmal spürte, zum Gründer eines Weltstaatenbundes – welch ein Schritt! Es ging vorwärts mit Siebenmeilenstiefeln. Der Sonntag kam, der Abend, die Dunkelheit, und wir fanden uns, von Ploetz geführt, in den Einsamkeiten verdüsterter Landschaften, weiten vernebelten Wiesen der Ohleniederung, im schwach erhellenden Licht der Mondsichel unter einer großen Eiche. In der Ferne verriet sich der Gebäudekreis eines Landgutes durch Hundegebell und eine Häufung von Dunkelheit.

Etwas von schlechtem Gewissen kam in uns sowohl durch die Nacht wie die Geheimtuerei. Es bestand kein Verbot, einen pangermanischen Weltstaat zu gründen, ihn hätte ja doch Deutschland angeführt. Dennoch flüsterten wir, als ob wir uns vor Entdeckung zu fürchten hätten. Ganz ohne alle Gefahr war übrigens diese Sache nicht, die schließlich einen Geheimbund vorstellte, verdächtig in einer aufgeregten Zeit um das Jahr 78 herum, in dem nacheinander am 11. Mai und am 2. Juni die Attentate von Hödel und Nobiling auf Kaiser Wilhelm I. stattgefunden hatten.

Was auf der Ohlewiese vor sich gehen sollte, war nach altgermanischem Muster die Zeremonie der Blutsbrüderschaft. Schweigend wurde ein Rasenstreifen ausgehoben und mit vieler Mühe durch abgebrochene Zweiggabeln gestützt und in die Höhe gehalten. Unter ihn tretend, leisteten wir einander den Blutsbruderschwur. So waren wir denn verbunden, mit Gut und Blut und auf Lebenszeit, sowohl der Idee wie untereinander.

Der mystische Pate dieses mystischen Vorgangs war Felix Dahn, der besonders auf den tüchtigen, sonst so nüchternen Alfred Ploetz durch seine Romane »Odhins Trost«, »Kampf um Rom« und anderes den entscheidenden Einfluß ausübte. Bald danach und den ganzen Winter hindurch trat die Beschäftigung mit dem pangermanischen Ideal in den Hintergrund.

Die Blutsbrüder, in der Mehrzahl Primaner außer mir, büffelten für das Abiturium, das zu Ostern steigen sollte. Mich besuchte alle drei Tage ein Lehrer, der Dallwitz hieß, kaum das Ende der Stunde erwarten konnte und ebensowenig wußte wie ich, was zu meinem Examen notwendig war oder was er mit mir anfangen sollte. In diesem Betrachte war nun wieder der Winter, war der kommende Sommer zusammengenommen ein verlorenes Jahr.

 


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