Gerhart Hauptmann
Das Abenteuer meiner Jugend
Gerhart Hauptmann

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Dreiundvierzigstes Kapitel

Mein neuer Beruf ließ mir viel Zeit zum Nachdenken. Und da ich von Ostern bis Michaeli, von Frühlingsbeginn bis Herbstende, von Saat zu Ernte und zum Ausdreschen der Frucht eine Zelle dieses großen Gutsorganismus war, wurde mein Nachdenken von einer Erfahrungsfülle ohnegleichen gespeist. Unmöglich das Unternehmen, einen Begriff von alledem zu geben, was während dieser Zeitspanne durch mein Bewußtsein ging.

Es waren vielleicht die Bilder, die im Großen und Kleinen Saal der Krone hingen, die mir eine Freude am bildhaften Sehen zurückgelassen hatten, wozu jetzt Gelegenheit sich in Hülle und Fülle bot. Im Dämmer des Morgens der Auszug der Ochsengespanne, ebendieselben in langer Reihe knirschende Pflüge langsam durch die braunviolette Krume ziehend, über die der erste Blitz einer gnadenlosen Arbeitssonne ging. Die Linie gebückter Gestalten, alte Weiber und Männer, die Kartoffeln legten oder Rübenpflänzchen setzten, der alte Knecht, der, mit der Hand das Kumt schief ziehend, den lehmigen Stiefel im Zugblatt, ächzend und fluchend den messerscharfen Rücken seines Ackergaules zu besteigen versuchte, was ihm schließlich mühsam gelang. Der Schäfer mit seinen Schafen auf der Brache, die hochgeschürzte Magd, die das Gras mähte, und wieder die gleiche, wenn sie auf dem hochgetürmten Grasfuder stand und mit kräftigen nackten Armen große Massen Grünfutter vor die Stalltüre warf. Und nochmals die gleiche, wenn sie sich mit den Grasmassen fluchend, stoßend und tretend zwischen den empfindungslosen Kühen durchdrängte, um das Futter in die Krippen zu schleudern: das alles waren Erscheinungen, die den Zeichner und Maler förmlich herausforderten, und eines Tages auf dem Felde, fast ohne Bewußtsein, hatte ich eine Art Skizzenbuch und einen Bleistift in der Hand und zu meinem eigenen Staunen einige charakteristische Linien zu Papier gebracht.

 

Das gegen den Sommer fortschreitende Jahr, eines der früchtereichsten und köstlichsten, klärte das Scheunendüster, mit dem meine Lehrzeit begonnen hatte, gründlich auf.

Der erste festliche Auftakt war die Heuernte. Und in der Heuernte wiederum war es die besondere Aufgabe, die man mir übertragen hatte, nämlich als Anführer von sechzig bis siebzig noch schulpflichtigen Kindern mit ihnen Heu zu wenden oder bei drohendem Regen in Haufen zu rechen. Die Wiesen lagen weit entfernt an der Grenze des Gutes, so daß wir ein Lager für den ganzen Tag errichten mußten, wo wir an kleinen Feuerchen mitgebrachte Suppe oder Kaffee wärmten und Kartoffeln rösteten.

In diesem Lager und nicht anders bei der Arbeit herrschte unbändige Lustigkeit. Diesen Jungen und Mädels gegenüber, die von Anfang an keinen Groll gegen mich zeigten, fand ich immer den rechten Ton. Während die Alten, nämlich Väter und Großväter dieser Schar, weniger die Mütter, immer noch eine heftige Abneigung zeigten, war dieses Kinderbataillon bereit, gesondert oder im ganzen, nötigenfalls für mich tätlich einzutreten.

Ich hatte meine Beliebtheit auf sehr einfache Weise erreicht. Meine alte Neigung, jüngere Kinder gewissermaßen zu betreuen, auf die Bedürfnisse ihrer Seelen einzugehen, half mir dabei. Wie ich vor dem Ofenloch in der Stube des Fuhrherrn Krause gespielt und ihnen Geschichten erzählt hatte und später die kleinen Gaudatöchter unterhielt, so machte es mir Vergnügen und wurde mir leicht, auf die Bedürfnisse dieser Hofekinder einzugehen, indem ich ihre Phantasie, wenn sie in den Arbeitspausen um mich im Grase saßen, mit Wahrheit und Dichtung nährte. Ich erzählte ihnen vieles, und nach Kräften ausgeschmückt, aus dem Bereiche der ihnen unbekannten Welt und Wirklichkeit, freute mich an ihrem Erstaunen, mischte, um ihnen Spaß zu machen, mitunter groteske Übertreibungen ein, die sie dann mit vielem Vergnügen entlarven konnten. Wildtöter mit seiner niemals fehlenden Büchse und Chingachgook, der Delaware, tauchten wieder auf und selbstverständlich das Steppenroß – Personen, Dinge und Abenteuer, die sie mit meinen Worten durstig eintranken.

Nie habe ich wohl im Leben eine reinere Freude gehabt, als wenn ich in dem parkartigen Weidegelände unweit des Schilfrandes eines kleinen, von uralten Pappeln, Eichen und Rüstern umstandenen Sees all diese neugierigen, gläubigen Augen auf mich gerichtet sah: es war wirklich ein Seelenhunger, der hier gestillt wurde.

Damals war ein großer Vogelreichtum in der Gegend um Lohnig herum und natürlich besonders in den Gras-, Baum- und Seegebieten. Man hörte und sah den Pirol den ganzen Tag, am Seeufer bekam man Rohrdommeln zu Gesicht, im Schilfe lärmten Schwärme von Rohrspatzen. Brinke und ich hatten Nester von großen Raubvögeln in einsam stehenden alten Eichen entdeckt. Die herrliche Schleiereule drückte sich abends an das Fenster der Kanzlei, wenn ich und Brinke, todmüde von einem langen Arbeitstage, unsere Funse brannten und dabei, was ich von ihm gelernt hatte, eine Partie Schach spielten.

Als die Hofejungen bemerkt hatten, daß ich Vögel liebte, und ich ihnen schließlich auch von der Sammlung ausgestopfter Vögel und Vogeleier des alten Müllers von Wilhelmshöh erzählt hatte, hatte ich binnen acht Tagen einige hundert Vogeleier beisammen, die ich, von Brinke belehrt, ausblies und in Kästen mit Häcksel legte. Als ich sah, daß die Jungen im Zutragen solcher Naturobjekte dauernd unaufgefordert wetteiferten, nahm ich ihnen das Versprechen ab, jedes Nest nur um ein Ei ärmer zu machen. Mehr als zwei Exemplare von einer Vogelart nahm ich nicht. So hatte ich in ganz kurzer Zeit eine schöne Sammlung zustandegebracht, in der vom winzigen Ei der Grasmücke und des Rohrsperlings bis zu dem des Pirols und der Rohrdommel, des Storches und so weiter so ziemlich die ganze lokale Vogelwelt vertreten war.

Man brachte mir auch lebendige Vögel. Ich hielt in der Kanzlei zwei Dohlen und einen frei herumfliegenden kleinen Kauz, der ganz zahm wurde und mir bei der Abendmahlzeit schnabelklappend auf dem Kopfe saß.

Brinke war durch mich in das geradezu aufgedrungene Verhältnis zur Ornithologie ebenfalls verwickelt worden, es zog ihn, nicht ohne mein Verschulden, etwas von seinen bis dahin so genau erfüllten Verwaltungspflichten ab. Schließlich war er doch nur zwei Jahre älter als ich, Knabe und Jüngling kämpften in ihm wie in mir.

Ich hatte ihn mit der kleinen Dichtung »Otto der Schütz« von Kinkel bekannt gemacht, von der auch sein Sinn, wie der meine, betört wurde, und so gingen wir denn auf den Fang von Falken aus, die wir, um die Falkenjagd wiederum zu beleben, zu zähmen gedachten.

Das waren nun freilich Pläne, die mit der Nüchternheit und Trockenheit einer Gutsinspektorskarriere nichts zu tun hatten.

Plötzlich waren nun also die unwahrscheinlichsten künstlichen Vogelgestalten aus dem Museum des Müllers von Wilhelmshöh zu lebendigen Wundern geworden und begleiteten jeden Schritt, den ich ging, vom Morgengrauen bis in die Nächte . . . Ich fühlte voll innerer Freude oft und oft, welchen Fortschritt, welchen Gewinn das für mich bedeutete.

 

Mein Umgang mit Brinke führte mich in das Bereich der Freundschaft ein. Bruder Carl war eine Gegebenheit. Es konnte vielleicht eine Freundschaft aus unserem Verhältnis werden; was uns aber bis jetzt zusammenhielt, war das Familienband. Der Zufall hatte mich und Brinke zusammengeführt. Äußerliche Nähe jedoch braucht die innere nicht immer herbeizuführen. Aber das vielfältig Gemeinsame unseres Gefühlslebens einigte uns. Diese junge, leider sehr flüchtige Freundschaft baute sich in einer höheren Ebene auf, unter der um jene Zeit mein unbewußtes oder halbbewußtes Kindheitsglück, inmitten meiner Spielkameradschaften, fast vergessen lag.

Dieses Vergessen ist als ein Zeichen der Gesundheit zu buchen. Die Dämonen der alten Krone besuchten mich nicht mehr, kaum noch hatte ich unter Heimweh zu leiden. Bei mehr und mehr erneuter Sinnenfreude waren auch Glaube und Hoffnung da.

Glaube, das ist das Gegenteil von allem, was lähmen und töten will. Hoffnung, das ist die Illusionskraft der Seele, die in ihrer Illusion neun Zehntel des Glückes, das sie erwartet, vorweg genießt. Liebe aber und Freude sind ein und dasselbe.

Brinke und ich, wir nahmen uns vor, zusammenzubleiben und womöglich auf unserer Freundesgemeinschaft ein ganzes tätiges Leben aufzubauen. Das war es, was diese Beziehung in der Idee von allen früheren unterschied.

 

Der Sommer auf einem großen Landgut hat starke Akzente. Der klassische Sämann, der, die Körner vor sich im Tuch, über den Acker schreitet – es wurde bei uns neben der Maschinensaat auch noch diese uralte Form angewandt –, ist der stille und schlichte Anfang einer mächtigen Symphonie. Der gebückte Zukunftsdienst mit der Hacke über der Erde, über den Zuckerrübenpflänzchen, gleichsam ein Dienst am Unterirdischen, wird in der hurtig-lebendigen, froh-berauschten Heuernte von einem oberirdisch leichten abgelöst. Wir ernteten dann auf weiten Geländen die Ölfrucht, den Raps. Er wurde in schwankenden Riesenfudern eingefahren. Zum Mähen, Binden, Auf- und Abladen waren viele fremde sogenannte Gärtner und Tagelöhner eingestellt. Ein zähes Ringen unter glühender Sonne, ein Rauschen der großen Sensen, ein Rauschen des trocknen Rapsgestrüpps, dessen schwarzer Same aus knackender Schote sprang, das Rauschen der Garben, die hohe Kraftentfaltung aller im Schweiße, nicht nur des Angesichts, schwoll mächtig auf. Die Ernteleiterwagen kreischten und wollten zerbrechen. Vierspännig, mitunter sechsspännig, wurden sie mit tief versinkenden Rädern über die Stoppeln gebracht, Knechte fluchten, brüllten, schlugen, Pferde gaben ihr Letztes an Kraft.

Es wurde dann der Roggen, schließlich der Weizen von Sonnenlicht und Wärme unter Donner, Regen und Blitz reifgesotten und ‑gebacken, bis auch hier diese unbarmherzigen Reihen von Sensenblättern die Halme durchschnitten, Felder und Felder niederwarfen und diese Armee von menschlichen Räubern den gesamten Raub mit zähem, kurzem, gewaltigem Angriff in die Speicher brachte. Hier steigerte sich alles zum Brio, zum Fortissimo, bis es dann in der Atempause des Herbstes zusammenfiel.

In diesem glanzvoll glühenden, heißen und rastlosen Durcheinander, das zuweilen bis zum späten Abend ging, wurden Brinke und ich auf lange Zeitspannen auseinandergerissen. Gelegentlich aber fanden wir uns. Wir hatten uns etwa, immerhin einigermaßen pflichtvergessen, aus der allgemeinen Hetze hinweggestohlen, um in seinem oder meinem Schlafzimmer, auf der Bettkante sitzend, Schach zu spielen. Einmal ertappte uns Onkel Gustav bei dieser Beschäftigung, und wir bekamen sein mildes Entsetzen auf eine beschämende Weise zu spüren.

Die wachsende Neigung, ins Zimmer zu flüchten, war die Ankündigung einer Umstellung, die sich mit mir während meiner Landwirtszeit allmählich vollzog. Nicht mehr wie auf der Schule, ja selbst im Elternhaus, herrschte die Neigung, so schnell wie möglich im Freien zu sein, sondern die große Verlockung war jetzt das Haus. Der freie Himmel, die freie Natur war die gnadenlose, harte Fron, das Haus, das Zimmer dagegen Schutz, Ruhe, Sicherheit.

Ich sah den Onkel, die Tante natürlich oft, meist aber nur, wenn wir uns im Betriebe begegneten.

Immerhin flochten sich auch intime Stunden ein. So wenn Tante Julie – eigentlich war ich darüber erstaunt – mich mitten aus der Arbeit heraus zu einem Gange auf den Dromsdorfer Kirchhof abholte, wo wir dann am Grabe des kleinen Georg saßen und uns schweigend des Toten erinnerten.

 

Aber ich tat das auch öfters allein.

Bei solchen Gelegenheiten überkam mich immer wieder eine Zwangsidee. Die Worte »Wenn ihr Glauben habt als ein Senfkorn, werdet ihr Berge versetzen!« hatten sich mir besonders eingeprägt. Ich wollte ihre Wahrheit erproben.

Der kleine Kirchhof von Dromsdorf mit seinen verwitterten Erbbegräbnissen und verblichenen Grabtafeln, seinen Scharen roter Käfer, die Totengräber genannt werden, seinen drei oder vier uralten Bäumen, unter deren Riesenwipfeln das bemooste Dach des Kirchleins lag, war ein Ort, der seelenhaft schweigend zu sprechen wußte. Die hohen, schwankenden Gräser, die alles bedeckten, schienen mit immerwährenden zarten Gesten und auf und ab schwellenden Flüsterhauchen von dem zu reden, was unter ihnen verborgen lag. Überall trösteten Kreuze mit Gottes Kreuzestod. Ein sehr altes Epitaph zeigte einen Säulenstumpf, den oberen Teil mit dem Kapitell zu Boden gebrochen.

Vielleicht auch waren die Gräser mystische Zungen von Generationen gebrochener Herzen, von toten Seelen, die einander verstanden. Sie waren vielleicht in einer anderen Welt auf diese Hilfsmittel, wie wir in der unseren auf andere, hingewiesen. Der Ort, wie gesagt, verführte zu mystischer Träumerei.

Daß etwas, was so vielfältig reich gelebt hatte, nicht mehr sein könne, begriff ich in dieser Kirchhofstille nicht. Der Tod erschien mir als eine Scheinbarkeit, die zu entlarven die Worte der Schrift mir helfen sollten. So wiederholte ich denn mit aller mir möglichen inneren Glaubenskraft jene anderen Worte, mit denen Jesus von Nazareth den Jüngling zu Nain vom sogenannten Tode erweckt hatte. Nicht nötig zu sagen, mit welchem Erfolg.

Ich darf nicht behaupten, ich sei durch die äußere Machtlosigkeit meines Auferstehungsbefehls von dem Gedanken einer Fortexistenz nach dem Tode geheilt worden. »Niemals war ich nicht, noch du, noch diese Fürsten, noch werden wir alle in Zukunft jemals nicht sein!« Diese Sätze der Bhagavadgîta, die Krischna zu König Arjuna spricht, und ihr Inhalt sind in mir lange, bevor ich die Gîta kennenlernte, in luziden Momenten lebendig gewesen. Besonders in den später zu schildernden, ich möchte sagen: heiligen Stunden einer gewissen Hohenhauser Zeit.

So habe ich denn auch nach meinen Dromsdorfer Totenfeiern das verrostete Gitter der Kirchhofstür nie anders als seltsam getröstet hinter mir ins Schloß gedrückt.

 

Mit dem Tode des kleinen Georg und durch dieses Ereignis freigelegt, fing ein mystischer Quell zu strömen an. Seine dunkle und rätselhafte Flut hat durch den Kult, den Tante Julie mit dem toten Sohne trieb, mehr und mehr zugenommen. Die Grabstätte und der seltsame, selbst gleichsam verstorbene Kirchhof haben das unterirdische Strömen im Unbewußten, Halbbewußten und Bewußten weiter genährt.

So wachte ich eines Morgens mit der Erinnerung eines beglückenden Traumes auf. Ich sah eine wunderbar schöne Frau. Ihr Haar, ihre Augen und ihr Gewand waren braun. Ein Knabe stand vor ihr, ein holdes Geschöpf, dessen Schulter sie gütig berührte. Es lag so ungefähr etwas in alledem, als ob eine himmlische Mutter einen Neuling willkommen heiße, ihm ihren Schutz und alles Köstliche verspreche, das Gärten, Tempel und Paläste des Himmelreiches dem Unschuldsalter zu bieten vermöchten.

Ich erzählte diesen Traum Tante Julie und war erstaunt, mit welcher Spannung sie zuhörte. Besonders beschäftigte sie das Kleid der Himmelsfrau und die braune Farbe, die in der ganzen Erscheinung vorherrschte. So, sagte sie, habe sich die Mutter Maria dem frommen Jung-Stilling zuweilen gezeigt.

 


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