Gerhart Hauptmann
Das Abenteuer meiner Jugend
Gerhart Hauptmann

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Dreiunddreißigstes Kapitel

Es war nicht lange vor Ostern, als wir für drei oder vier Tage von der Schule befreit wurden, um in Salzbrunn die Hochzeit meines Onkels Gustav Hauptmann mitzufeiern. Sie wurde von Karl Tschersich und meinem Vater im Gasthof zur Krone ausgerichtet. Seit Wochen war das kommende Fest bei Carl und mir Tagesgespräch und vergoldete unseren düsteren Schulhimmel. Zwar mein Vater war mit einer so anspruchsvollen Vermählungsfeier seines Halbbruders nicht einverstanden. »Nehmt, was sie kostet«, hatte er zu dem nicht mehr ganz jungen Brautpaar gesagt, »und benützt es zu einer schönen Reise!« Aber dagegen stand der Wille der Braut.

 

Der Festtag kam endlich heran. Im Großen Saal unter den großen Kopien nach Rembrandt und Raffael stand eine Tafel in Hufeisenform für etwa achtzig Personen gedeckt und mit farbigem Blumenschmuck überladen. Das Wetter war bereits frühlingshaft.

Alle Einzelheiten der kommenden Veranstaltung waren von Johanna, Carl und mir lebhaft durchgesprochen worden, und ich kann mich erinnern, daß ich bei der Speisenfolge auf Spargel, von sehr vielen etwa der vierte Gang, und auf die Eisbombe am Schluß im voraus großen Wert legte. Nicht aber das Materielle war es, dem ich mit Spannung und Erwartung entgegensah, sondern eine lange Reihe von Vorführungen, die gegen den Schluß der Tafel geplant waren. Der Blaue Saal sollte als Theatergarderobe dienen. Seine beiden Eingangstüren schlossen Vorhänge.

Meine Schwester Johanna sollte auftreten. Das geradezu bezaubernd hübsche Ernstinchen Sagner, die Schwester der Braut, war als Marketenderin zu erwarten, weil doch die Marketenderin nicht fehlen durfte, wo einmal ein Hauptmann Hochzeit feierte. Onkel Paul wollte als Hausierer alle seine Straehlerischen Humore springen lassen. Reden sollten gehalten werden, und der Bräutigam selbst hatte mit vieler Mühe die seinige auswendig gelernt, die er trotz schwerer Stottergefahr zu halten entschlossen war. Der Lehrer Irrgang sollte hinterher Schubertsche Lieder vortragen. Auf alles freute ich mich wie ein Kind vor verschlossener Tür auf die Geschenke von Weihnachten.

 

Das Fest begann. Ich war irgendwo unter die Erwachsenen eingereiht. Ich löffelte meine Suppe und trank den Wein, der dazu gereicht wurde. Es kamen Pasteten, ich ließ mich auch zu dem dazugehörigen Wein nicht nötigen. Es kam der Spargel, von dem ich unmäßig aß. Und als ich auch den Spargel-Wein noch getrunken hatte, merkten ich und meine Umgebung, daß mir schlecht wurde. Von diesem Augenblick weiß ich nur noch, daß liebreiche Hände mich zu Bett brachten, mir aber auf meinen ausdrücklichen Wunsch das Versprechen gegeben wurde, mich nach spätestens einer Stunde wieder zu wecken, damit ich bei Beginn der Vorstellung dabei sei.

Ich erwachte und wußte zunächst nicht, was mit mir geschehen war. Auch konnte ich nicht sogleich ergründen, wo ich mich eigentlich befand. Ich war zu Hause, nicht in Breslau, das erkannte ich. Die Sonne lag blendend auf meiner Bettdecke. Also konnte wohl die Zeit der großen Ferien sein. Mein befremdender Zustand und das fehlende Wohlbehagen machten die Sache unwahrscheinlich. Plötzlich ging mir der Grund meines Hierseins auf, und ich wollte mir einreden, ich sei am Tag der Hochzeit, die gegen Mittag beginnen würde, aufgewacht. Der Selbstbetrug aber hielt nicht Stich. Mehr und mehr Einzelheiten von gestern kamen mir in Erinnerung. Es war etwas Unbegreifliches und jedenfalls Unerhörtes eingetreten. Ich rief meinen Bruder, rief meine Schwester, rief mit großer Heftigkeit meine Mutter herbei, denen das Mitleid die Sprache verschlug, als ich sie wegen der Hochzeit und was denn eigentlich los sei, fragte. Schließlich mußten sie zugestehen, das Fest habe ohne mich stattgefunden. Warum man mich nicht geweckt habe, fragte ich. Sie erklärten, was auch der Wahrheit entsprach, daß man es eine Weile vergebens versucht habe, dann aber zu dem Entschluß gekommen sei, meinen gesunden Schlaf nicht zu stören.

Nun zog ich sie, völlig wild und sinnlos geworden, zur Verantwortung. Sie hatten mir das Fest gestohlen, auf das ich mich so unsäglich gefreut hatte, und sollten es mir nun wieder herausgeben. Indem ich mich aber weinend austobte, wußte ich, daß es unwiederbringlich für mich verloren war. Nun, ich war jung, meine Verzweiflung legte sich. Ich konnte das aus köstlichen Resten des Hochzeitsmahles bestehende Frühstück in leidlicher Fassung einnehmen. Und nachdem die Tröstungen meiner Umgebung und die Humore Onkel Pauls ihre Wirkung getan hatten, war ich wieder leidlich vergnügt mit einzelnen Gruppen der Hochzeitsgäste. Gegen Mittag hatte ich das Gefühl – so lebhaft schwirrten die Erinnerungen des vergangenen Abends durch die Luft –, als sei ich bis zum Schlusse bei der Hochzeit gewesen.

 

Bevor ich diesmal Salzbrunn verließ, mußte ich mir gestehen, daß mir noch immer dieser und jener Winkel meines Elternhauses unbekannt geblieben war, da ich das Zimmer, in dem die jungen Eheleute Unterschlupf gefunden hatten, beim Abschied von ihnen zum ersten Male sah. Dieses düstere Zimmer in seiner beinah unmöglichen Seltsamkeit war von den übrigen Teilen des Hauses völlig abgeschlossen und wurde durch die Küche und eine erbärmliche Hühnerstiege von Treppe erreicht.

Man betrat zunächst ein finster-muffiges Kammergeschoß über der Decke des Blauen Saales und von da das Gemach, ebenfalls über dem Blauen Saal; es hatte zwei Fenster, aber nicht ins Freie. Man öffnete sie und erreichte die obere Rundung der Saalfenster, die man nicht öffnen konnte. Und wenn man sich hinauslehnte, blickte man hinab in den Blauen Saal. Man hätte von hier aus ungesehen eine Verschwörung in diesem Raum aufs genaueste behorchen können.

Die Lage des neuen Ehepaares schien mir, wenn ich den verkrochenen Winkel mit dem Prunk des gestrigen Festes verglich, nicht verheißungsvoll.

 

Gewöhnung brachte naturgemäß schon im ersten Breslauer Jahr eine bedingte Linderung meiner Zustände. Zwar wurde ich Ostern nicht versetzt, und das traf mich bitter. Alle sagten mir, was ich mir selber nicht verheimlichte, daß ich ein volles Lebensjahr nutzlos verbracht und verloren habe. Dennoch fand sich mein Leben endlich durch einen Pensionswechsel wesentlich aufgehellt.

Wenn Carl und ich bei Rückkehr aus den Ferien längs des Stadtgrabens in einer wackligen Droschke oder zu Fuß an der Elfer-Kaserne und dem drohenden Backsteinbau des Inquisitoriats vorüber der inneren Stadt zustrebten, sahen wir ein gewaltiges Mietshaus unter den Händen der Maurer nach und nach aufwachsen. Gewaltige Buchstaben einer Reklame bedeckten die Brandmauer, als es fertig war. Noch ahnte ich nicht, daß dieses moderne Gebäude, schrägüber eben dem Inquisitoriat in der Graupenstraße, bald auf Jahre hin unser Asyl werden sollte. Als wir aber nach Ostern aus den Ferien kamen, gingen wir nicht mehr in das Knaben- und Ungeziefergeniste der Feldstraßenpension zurück, sondern konnten dem Droschkenkutscher eine andere Adresse sagen, die uns der Vater aufgeschrieben hatte.

Zu unserem Erstaunen hielt dann der Wagen vor jenem nagelneuen und blitzblanken Hause der Graupenstraße, wo wir im dritten Stock von dem masurischen Kraftmenschen Pastor Gauda und seiner blutjungen Frau auf eine unvergeßliche Weise herzlich willkommen geheißen wurden.

Nachdem man uns in unserem hübschen, blitzblanken Zimmer fünf Minuten allein gelassen, sauste der Pastor im Schlafrock herein. Er rang die Hände, er zeigte auf unsere Betten und Bettstellen: »Erbarm' sich!« sagte er in einer gewissen Hilflosigkeit ein übers andre Mal, »habt ihr wohl eine Ahnung, Jungens, von all dem Ungeziefer, das in euren Bettstellen, euren Matratzen, euren Bettdecken eingefilzt war und das wir mit unendlicher Mühe vertilgt haben?! Wir haben drei volle Tage gearbeitet, Insektenpulver, Petroleum angewandt, und schließlich sind wir ja noch all dieser Wanzen, Flöhe und Schwaben Herr geworden. Aber das war keine leichte Sache, glaubt es mir! Es hätte das ganze Haus verseuchen können.«

Wir waren bereits so abgestumpft, das Dasein des Ungeziefers schien uns so selbstverständlich, daß wir von dem Entsetzen des Pastors beinah überrascht waren.

»Nun, Jungens«, schloß er, »grüne Seife, kochendes Wasser, brennender Spiritus! Zwanzig Mark, wenn ihr noch eine Schwabe, eine Wanze, einen Floh findet!«

In der Tat, wir waren aus der Hölle in den Himmel geraten. In dieser luftigen und geräumigen Pastorwohnung herrschte ein gesunder, gutbürgerlicher Lebensstil, der sich besonders durch peinliche Sauberkeit auszeichnete.

 

Die Gattin des Pastors war neunzehn Jahre. Er hatte zum zweitenmal geheiratet, nachdem seine erste Frau, Mutter von drei Mädchen, im letzten Kindbett gestorben war.

Eine neue Breslauer Phase war angebrochen. Wenn ich an sie zurückdenke und sie abgeschlossen vor mir sehe, drängt sich eine Fülle von überwiegend freundlichen Erlebnissen auf.

Mein Mißverhältnis zur Schule erfuhr damit keine Änderung, mein Heimweh konnte dadurch nicht gestillt werden. In beiden Beziehungen war ich unverbesserlich. Allein ich hatte nun im Pastorhause ein Refugium, in das ich aus den Schulmauern mit Vergnügen zurückstrebte.

Es war nicht so, daß sich uns Brüdern die Seelen der Pastorsleute gemütisch genähert oder geöffnet hätten; übrigens hätte mich ein Versuch dazu wahrscheinlich um so verschlossener gemacht, wäre er nicht mit der allergrößten Vorsicht ausgeführt worden. Die Liebe der Eltern ersetzen zu wollen, hätte mich gereizt und verwundet. Es erschien mir wie eine Usurpation.

Erst viel später, aber noch in Breslau, lernte ich als wohlwollende Schmerzensmutter Tante Radeck kennen; sie stand mit uns ich weiß nicht in welchem Verwandtschaftsgrad. Ihr verstorbener Mann war fürstlich-plessischer Oberförster. An ihr entdeckte ich, was mir in Breslau immer gefehlt hatte: in ihr vereinigte sich natürliche Güte und Menschlichkeit, so daß es mich fast wie ein Wunder dünkte. Vor dieser klugen, stillen und mütterlich wissenden Frau lag mein Herz offen da und wurde gleichsam eins mit dem ihren.

Nein, etwas dergleichen konnte man bei dem jungen Pastorsehepaar nicht voraussetzen. Es war vielmehr eine deutliche Fremdheit da. Sie hat trotz guten Willens von beiden Seiten mit der Zeit nur zugenommen.

 

Der derbe Masure gab mir Nachhilfeunterricht, mitunter zu Hause in seinem Studierzimmer, manchmal, da er Gefängnisgeistlicher war, in seiner Amtsstube. Sie lag im Innern des Inquisitoriats. Ich wurde, als wohlbekannter Knabe, durch ich weiß nicht wieviel rasselnde Eisengittertüren eingelassen und von einem der Aufseher durch die Gänge, Treppen und Hallen des gewaltigen Zuchthauses zu ihm geführt. Ich sah die Gefangenen in der Anstaltstracht, wie sie das Mittagessen in großen Kesseln auf Rädern heranbrachten, die Zellensträflinge zum Fassen ihrer Portionen antraten, und nicht nur einmal erbaten und erhielten auch der Pastor und ich einen Teller voll Graupensuppe. Das Leben hier innen mißfiel mir nicht, da ich ja ungehindert ein und aus gehen durfte.

Es kam vor, daß die Audienz eines Sträflings in der Amtstube bei meinem Eintreten noch nicht vorüber war. Ich durfte ihr dann bis zu Ende beiwohnen. So hatte ich Gelegenheit, die hier üblichen Umgangsformen kennenzulernen. Es berührte mich seltsam, wenn der Pastor weißbärtige Männer mit du anredete. Meist kam es mir vor, als ob er ihnen die Bibel auf eine recht derbe, lutherische Weise auslegte. Mir schien es zudem, daß er dem großen Reformator ähnlich sah. In der Tat, er sprang sehr derb mit den Leuten um, und ich sah deren manche, vom Aufseher abgeführt, wie begossene Pudel fortschleichen.

 

Um Kriminalfälle, Gerichtsverhandlungen, vor allem aber um das große Gefängnis und seine Sträflinge drehte sich begreiflicherweise meistens das Tischgespräch. Da war der Chef einer großen Firma, der die Unterschrift seines Schwagers unter einen Wechsel gesetzt und darauf Geld empfangen hatte. Hätte man dem Schwager gesagt, von wem der präsentierte Wechsel stammte, er würde sich ohne Bedenken dazu bekannt haben. Aber man verschwieg ihm das, und so konnte er eben nur feststellen, daß jemand seinen Namen mißbraucht habe.

Man sah von den Fenstern des vorderen Wohnzimmers aus einen Flügel des Inquisitoriats und reihenweise die vergitterten Fenster der Zellen. Oft stellten wir fest, daß in einem von diesen länger als in den übrigen Licht brannte. Das bedeutete eine Vergünstigung, die man dem vornehmen Wechselfälscher gewährt hatte. So lebte man viel in Gedanken mit ihm, nahm Anteil an dem Schwinden der Zeit und dem schließlich gekommenen Augenblick, da der verarmte und bürgerlich tote Mann wieder in Freiheit gesetzt wurde.

 

Oft regte der Pastor sich über die Abschaffung der Prügelstrafe auf. Da seien zum Beispiel jene Verbrecher, die regelmäßig im Herbst Delikte begingen, auf denen eine ungefähr fünf Monate dauernde Freiheitsstrafe lag. Sie wollten dem kalten Winter entgehen und betrachteten das Gefängnis gleichsam als Sanatorium, eine Verpflegungsanstalt auf Staatskosten. Sie würden das Kommen vergessen, sagte der Pastor, wenn sie mit fünfzig Stockschlägen auf den Bloßen empfangen würden.

Gauda wurde von vielen unterstützungsbedürftigen entlassenen Sträflingen heimgesucht. Ich kam eines Tages aus der Schule und befand mich im Treppenhaus, als ein Kerl vom dritten Stock bis zum ersten Treppenabsatz herunter- und mir entgegenflog. Ich ergriff die Flucht und erreichte die Wohnung durchs Hinterhaus.

Die Pastorin hatte dem Stromer geöffnet und dieser sogleich seinen Fuß in das Entree gesteckt, so daß sie die Glastür nicht schließen konnte. Sie verbat sich das, es half aber nichts. Da war auch schon der Pastor zur Stelle. Er hatte den Menschen mit seinen herkulischen Fäusten beim Kragen gepackt und mir nichts dir nichts die Treppe hinuntergeschleudert. Ein Wunder, daß er nicht Hals und Beine gebrochen hat.

 

Der Pastor war meist recht aufgeräumt. Selbst in Gegenwart seiner jungen Frau, die im Begriff war, Mutter zu werden, legte er sich keinen Zwang im Reden auf.

Pauline hieß unser schönes Dienstmädchen. Er sang ihr Lob in allen Tonarten. Gut angezogen und im Salon, stäche sie jede Fürstin aus. Vielleicht hatte er recht, ihr war ein schönes, feines Wesen zu eigen. Einmal packte ihn in Gegenwart seiner Frau und Schwiegermutter der Übermut. Er sprang auf vom Tisch, nahm das verdutzte Mädchen in beide Arme und flog mit ihr wirbelnd im Tanz zwei-, dreimal um den Eßtisch herum.

Die Pastorstöchter aus erster Ehe mögen damals zwei, fünf und sieben Jahr gewesen sein. Sie waren nicht hübsch und für mich kaum anziehend, aber sie hingen sich an mich an. Von der blutjungen Stiefmutter keineswegs übel behandelt, fehlte ihnen doch das, was nur eine Mutter geben kann.

Es war, wie immer in solchen Fällen, verkehrt, sogenannte Lieblosigkeiten der jungen Stiefmutter aufzumutzen, die ja nur auf einem Mangel beruhten, dem auf keine Weise zu steuern war. Mittags wurden die Kinder neben der Tafel am Kindertischchen abgespeist. Ich fand dabei das Verhalten der Pastorin ruhig und gleichmäßig, ihr Gatte schien nicht zufrieden damit. Es fielen manchmal scharfe Bemerkungen.

Waren die Mädchen nun vernachlässigt oder nicht, die Pastorin, die der Geburt eines eigenen Kindes entgegensah, hatte jedenfalls viel mit sich selber zu tun, und so konnte niemand es ungern sehen, wenn ich mich mit den kleinen Halbwaisen beschäftigte.

Mit der Zeit brachte ich täglich Stunden im Kinderzimmer zu, ein seltsamer Zug, über den der Pastor den Kopf schüttelte. Mir selber kam mein Verhalten meinem Alter nicht ganz entsprechend und seltsam vor. Ich leugne nicht, daß ich mich manchmal während all der kindlichen Unternehmungen, die ich anführte, einen Augenblick lang in mich hineinschämte.

Was war das für eine Beschäftigung: Püppchen anziehen, Stühlchen in Puppenstuben zurechtrücken, mit kleinen, blechernen Bestecken und Tellern herumhantieren, Kinderreime aus läppischen Bilderbüchern vorlesen, Bauklötze übereinander aufschichten und mit dem farbigen Gummiball die entstandenen Gebäude einwerfen? Nun ja, die Freude, das Lachen der Kinder war um mich her. Ich versah die Geschäfte des Kindermädchens. Ich steigerte mich zu dem gewiß höchst löblichen Dienst einer Kindergärtnerin. Und das war der Grund, warum auch der Pastor meine seltsame Neigung und Zeitvergeudung duldete.

 

Wiederum war das Geschichtenerzählen im Kinderzimmer ein wesentlicher Teil meiner Tätigkeit. Ich knüpfte gleichsam dort an, wo ich vor acht Jahren im Zimmer und am Ofen des Fuhrmanns Wilhelm Krause geendet hatte, als ich mich den unersättlichen Ohren des kleinen Gustav und der nun längst verstorbenen Ida Krause gegenüber befand. Die Namen der kleinen Mädchen außer der Ältesten, Milka, weiß ich nicht mehr, aber auch sie hingen gierig an meinem Munde und duldeten nicht, daß eine Geschichte zu Ende ging.

Ich glaube, dieses Geschichtenerzählen war mein wesentliches Narkotikum. Ich weiß, daß ich dabei die ganze verlorene Welt meines ersten Jahrzehnts immer wieder erneuert und variiert habe. Ich selbst war der Knabe, dessen natürlich heldenhafte Geschichte immer wieder zur Sprache kam. Der Gasthof zur Krone, sein Hof, sein Vorder- und Hintergarten, seine Säle, Zimmer und Bodenkammern, war der Schauplatz seiner Wirksamkeit, nur daß ich ihn bald in ein mystisches Schloß oder eine Zauberburg umwandelte, darin eine Liebes-, Hexen- und Räuberromantik, von Dornröschen über Rotkäppchen bis zum Menschenfresser und Blaubart, sich auslebte. Auch Lederstrumpf und Robinson Crusoe spielten wieder hinein und das weiße mexikanische Steppenroß, dessen imaginierte Windesschnelle ich dem Helden, der ich selbst war, dienstbar machte und das mich jedes Pferderennen gewinnen ließ.

 


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