Gerhart Hauptmann
Das Abenteuer meiner Jugend
Gerhart Hauptmann

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Vierzehntes Kapitel

Die Augen meines Vaters blickten durch doppelte Brillengläser. Sie waren hellblau. Er nahm außer des Nachts Brille und Pincenez niemals ab.

Sein Gesicht in der Ruhe war ganz Strenge und Ernst, tief eingegraben die senkrechten Stirnfalten, buschig die Brauen, üppig auf der Oberlippe der den Mund verdeckende Bart.

Für Körperpflege brauchte mein Vater Tag für Tag lange Zeit. Seine Anzüge waren vom besten englischen Tuch und beim ersten Schneider in Breslau gefertigt. Eine Sammlung von Schuhwerk wurde von ihm selbst gereinigt und blank geputzt, er hätte sie nie fremder Hand überantwortet.

Den damals üblichen Schlafrock verachtete er. Beim ersten Frühstück bereits war er bis auf die Busennadel tadellos angekleidet.

Jeden Morgen rieb er sich selbst mit einem in kaltes Wasser getauchten, rohen und rauhen Leinentuch, in das er sich dabei völlig einwickelte, von oben bis unten ab.

Dagegen war meine Mutter, seit ich sie kannte, gegen ihr Äußeres völlig gleichgültig. Sie nannte den Körper mit Luther einen elenden Madensack, der ja doch schließlich den Würmern anheimfiele.

Die schöne goldene Uhrkette auf meines Vaters Weste und die Berlocken daran sind mir von früh erinnerlich.

Schon sehr zeitig, scheint mir, ist der Scheitel meines Vaters gelichtet gewesen, er ging an den Schläfen in ganz kleine natürliche Löckchen aus.

 

Ich artete zunächst mehr der Mutter nach. Mich viel zu waschen oder viel gewaschen zu werden liebte ich nicht, ebensowenig mochte ich, wie schon gesagt, schöne Kleider. Sie bedeuteten Rücksicht auf Flecke, Beengung, ja gewissermaßen Gefangenschaft. In dieser Hinsicht ließ mich der Vater meiner Wege gehen, wogegen er auf meine Wasserscheu keine Rücksicht nahm und mich mit seiner Kaltwasserkur eigenhändig betreute.

Es wurden morgens Schwämme voll eiskalten Wassers über meinen gebeugten Nacken und Kopf ausgedrückt. Manchmal machte mich der Schmerz halb wahnsinnig, aber ich durfte nicht schreien, und auch sonstigen Widerstand gab es nicht, ebensowenig, wenn der Vater mich in das eigens für mich geschnittene naßkalte Abreibtuch wickelte und mich mit kräftigen Fäusten abschrumpelte. Hier war das schlimmste der erste Augenblick.

Der Protest meiner Mutter, die von alledem nichts hielt, half ebensowenig wie die zitternde Ergebung meiner zarten Kindlichkeit. Schön und erquickend war die von meinem Vater beliebte Art des Abtrocknens. Mir wurde ein weiches Bettlaken umgelegt, womit ich mich vor dem offenen Fenster gleichwie mit Flügeln plädern durfte.

 

Neues Schuhwerk ließ mir mein Vater in der Werkstatt des Schusters Bliemel zu Hinterhartau, neue Anzüge in der Werkstatt des Schneiders Leo am Ende der Promenade persönlich anmessen. Leo, ein Zwerg, der eine Zwergin geheiratet hatte, saß immer mit gekreuzten Beinen, stichelnd und von Tuchlappen umgeben, in einem winzigen Schaufenster. Heute scheint mir, daß dieses Männchen, sein Betragen und seine Werkstatt noch dem Mittelalter angehört haben.

Mit besonderer Sorgfalt nahm sich der Vater meines Schuhwerks an. Er selber hatte verbildete Füße, wovor er uns Kinder bewahren wollte. Ohne Rücksicht auf die Mode des spitzen Schuhs bestand er auf Breite und Weite.

Mein Vater handelte oder schwieg, Redensarten machte er nicht. Auf seinem Arm habe ich nolens volens mit viel Geschrei im Lehmteich hinter der Gasanstalt das erste Bad im Freien genommen. Noch sehe ich das bedrohliche, schwindelerregende Glitzern der kleinen Wellen um mich her.

 

Dieser Lehmteich hat mir später einen empfindlichen Streich gespielt. Ich trieb mich wie stets auf der Straße in der Nähe des Gasthofs herum, die Saison war in vollem Gange. Da sprach mich ein Junge, ein geborener Hanswurst namens Geisler, an, der einen herrlichen Apfel in der Hand hatte. Der etwa zehn Jahre alte Armenhäusler langweilte sich. Er mußte im Auftrag einen weiten Weg machen und verfiel darauf, mich zur Gesellschaft mitzulocken.

Der Geislerjunge hatte mich gern. Nur um mir eine Freude zu machen, biß er Maikäfern die Köpfe ab, zerkaute Glas, stach sich Nadeln durch die Finger und machte den wilden Mann. Jetzt kaufte er mir die Begleitung bis zu einem Haus in Richtung des Niederdorfs gegen einen ersten Biß in den Apfel ab. Als ich den Apfel bis zum Griebsch in mir hatte, waren wir unversehens bei der Gasanstalt und dem dahinterliegenden Lehmteich angelangt. Ich war mehr als eine halbe deutsche Meile weit von unserm Hause verschleppt worden.

Das nun aber, was im Augenblick hier am Teiche geschah, brachte den zurückgelegten Weg, den Gasthof zur Krone, die Geschwister, die Eltern, ja mich selbst völlig in Vergessenheit. Der Lehmteich wurde abgelassen, und zu Aberhunderten sprangen, schnalzten und panschten in dem immer seichter werdenden Wasser große Karpfen und kleine Forellen herum. Sie wurden von Männern in aufgestreiften Hosen aus dem gelben Schlamm herausgegriffen, am Ufer in Wannen und Fässern zusammengehäuft. Krebse wurden aus ihren Löchern hervorgezogen und zum allgemeinen Vergnügen und Entsetzen herumgereicht.

Alles dieses nahm mich gefangen. Die großen und kleinen Fische, die ich zum erstenmal lebend und nahe sah, ihre glotzenden und verzweifelnden Augen, die Fanglust, die mich ergriff, und zugleich die bittere Erkenntnis des todesnahen Zustandes, in den alle diese Wesen, noch eben frei und glücklich, geraten waren: die packende Gegenwart von alledem betäubte mich. Ich hatte noch nicht Mittag gegessen, und als ich den Heimweg antrat, um, wie ich glaubte, dazu noch rechtzeitig vor der Mahlzeit einzutreffen, war es nahezu Abend geworden.

Meine Eltern müssen verzweifelt gewesen sein. Die Polizei war verständigt worden, nach allen Himmelsrichtungen hatte man Boten ausgeschickt, die dann unverrichteter Dinge zurückkamen. Es waren Zigeuner gesichtet worden, der Demuthteich wurde abgesucht, ich konnte zum Baden verführt und ertrunken sein.

Nun, die ungeheure Spannung und Angst hat sich bei meinem Vater, als er mich wieder an der Hand hatte, in die Form einer ziemlich harten Züchtigung aufgelöst.

 

Es war natürlich, daß ich aus den Schulbänken, wo ich mit den zerlumpten Armenhäuslern Seite an Seite saß, einmal Krätze und Läuse heimbrachte. Ein anderes Übel, eine Hautflechte, die meinen ganzen Körper überzog, war ernsterer Art: Krankheit und Versuche zu ihrer Heilung wurden Martern für mich. Mein Vater hatte wie bei Carls Lungenentzündung den Chirurgus Richter und meinen Onkel, Doktor Straehler, herangezogen. Dieser, Badearzt und ein schöner, humorvoller Mann, verordnete Pinselung mit Petroleum. Hätte man es angezündet, der Schmerz hätte nicht können größer sein. Da sich auch diese Qual als nutzlos erwies, ging mein Vater mit mir zu einem Schäfer, der den Ruf eines Wundertäters besaß. Leider tat er diesmal kein Wunder, und da die Flechte nur immer greulicher wucherte, trat mein Vater mit mir eine Reise nach der Provinzialhauptstadt an. Es scheint, daß die Konsultation eines Dermatologen dann das quälende Übel behob.

Die Fahrt nach Breslau geschah auf der kaum fertiggewordenen Strecke der Breslau-Freiburger Eisenbahn. Man erreichte den Zug in Freiburg oder Altwasser. Ich vermochte, nach Hause zurückgekehrt, in Schilderungen des Wunderbaren, das ich erlebt hatte, besonders in der Schule, mir nicht genug zu tun.

In Wahrheit nahm ich das heulende, zischende, donnernde Dampfroß, das mit dem Zuge schwerer Wagen blitzschnell dahinstürmte, als eine Gegebenheit. Schließlich war es kein größeres Wunder als irgend etwas von dem, was meinem Hineinschreiten in die Welt in endloser Fülle überall entgegenkam. Die Maschine pfiff, wenn wir uns einer Station annäherten, worauf der Schaffner, den jeder Wagen hatte, mit allen Kräften bis zum Kreischen der Schienen die Bremse zog. Während der Fahrt beschäftigte mich am meisten das Spiel der Telegraphendrähte, ihr Auf und Ab vor den Fenstern. Ich wußte nicht, wie ihre Bewegung zustande kam. Peinlich empfand ich die Ohnmacht unsrer Gefangenschaft und war befreit, als wir in Breslau aussteigen konnten. Mein Vater selbst aber war vielleicht die wesentliche Entdeckung, die ich bei dieser Bahnfahrt gemacht habe.

Er war auf einmal mein Kamerad und nicht mehr die steife Respektsperson. Das intime Verhältnis von gleich und gleich übertraf noch den Zustand, wie er bei Fuhrmann Krause herrschte. Auf jede meiner Bemerkungen ging er mit schalkhafter Miene ein, mitunter lachend, so daß ihm unter den scharfen, goldgerahmten Brillengläsern die Tränen herunterrollten. Was sich dann im ganzen außer der ärztlichen Konsultation begab, war für meinen zarten Organismus zuviel. So warf mich nachts mein rebellierendes Hirn aus dem Bett, und als mich mein Vater mitten im Zimmer fand und aufweckte, überfiel mich ein unaufhaltsamer, hemmungsloser Heimwehkrampf.

Der städtische Lärm, der Tabaksqualm einer alten Weinstube und schließlich der Besuch eines großen Theaters, den ich erzwang, waren schuld daran.

Ich sah in diesem für mich gewaltigen Hause »Orpheus in der Unterwelt«, wobei die Musik mir störend war. Ich konnte es kaum erwarten, bis wieder gesprochen wurde. Eine Rakete, die beim Hinabsteigen des Orpheus in die Unterwelt durch die Versenkung emporzischte und platzte, bedeutete für mich einen Höhepunkt.

 

Bei Vaters Rückkehr in den häuslichen Pflichtenkreis und den der Familie trat sogleich die alte Entfremdung wieder ein. Mein Vater übte eine große Selbstdisziplin, mitunter aber übermannte ihn die der ganzen Familie eigene leichte Erregbarkeit. Irgend etwas mochte von uns Kindern verfehlt worden sein, sei es, daß wir ein längeres Ausbleiben durch eine Flunkerei entschuldigt oder etwas, das er wissen mußte, verheimlicht hatten. Er begann dann etwa mit den Worten:

Wer lügt, der trügt;
wer trügt, der stiehlt;
wer stiehlt, der kommt an den Galgen.

Und nun wurde mit der Wucht drohender Worte die Möglichkeit, ja die Wahrscheinlichkeit einer schrecklichen Zukunft im Gefängnis, im Zuchthaus und eines grausigen Endes unter dem Galgen oder auf dem Block ausgemalt. Man kann einen solchen Aufwand, wie mein Vater ihn zu unserem Schrecken manchmal trieb, unmöglich als proportional der Geringfügigkeit unserer Vergehen bezeichnen.

 

Mein Vater bekämpfte in uns die Furchtsamkeit und besonders auch die Gespensterfurcht. Wenn winters Geistergeschichten erzählt wurden, was damals allgemein üblich war, warf er meist nur sarkastische Brocken ein. Die Korridore alter Schlösser mit ihren kettenschleppenden weißen Frauen, die Erscheinung Sterbender bei Verwandten, die hunderte Meilen entfernt wohnten, im Augenblick des Todes genossen bei ihm keine Glaubhaftigkeit. Ein bestimmter Fall aber, den er selber erlebt hatte, blieb auch für ihn unaufgeklärt.

Nachts bei Mondschein im Herbst kam er nach Hause. Auf dem Platz zwischen Elisenhalle und Elternhaus angelangt, hörte er seinen Namen rufen. Als er mit »Hier bin ich!« geantwortet hatte, trat eine kurze Stille ein. Die Stimme kam – oder schien zu kommen – aus einem düsteren Wäldchen auf dem Kronenberg, der unseren Vorgarten fortsetzte. Diesem Wäldchen gegenüber lag der Elisenhof, einer Familie Enke gehörig. Unsere Hintergärten grenzten aneinander Zaun an Zaun.

Ein junger und leider kranker Mensch aus dieser Familie hatte mit meinem Vater Freundschaft geschlossen. Ich denke, das Ganze muß, als noch meines Vaters Vater, Großvater Hauptmann, lebte, vorgefallen sein. Nun also, der Ruf wiederholte sich, mein Vater empfand ihn als Hilferuf, und als er wiederum mit »Hier bin ich!« geantwortet hatte, rannte er, wie um Hilfe zu bringen, gegen das Wäldchen hinauf.

Eine Weile vergeblichen Suchens überzeugte ihn, daß er einer Gehörtäuschung unterlegen sei, in der Stille der Nacht nicht ungewöhnlich. So war er bis vor das Kronenportal zurückgekehrt und wollte soeben den schweren Schlüssel im Schloß umdrehen, als es abermals klar und deutlich »Robert!«, seinen Vornamen, rief. Mit leichtem Schauder betrat er das Haus, ohne weiter Rücksicht zu nehmen.

Am nächsten Morgen wurde die Nachricht gebracht, daß der junge Enke gestorben sei. Und zwar in der Tat um die gleiche Zeit, in der mein Vater das Rufen gehört hatte.

Auch diesen Fall entkleidete mein Vater nach und nach des Wunderbaren. »Gespenster, die sich allzu mausig machen, soll man einfach beim Kragen nehmen«, sagte er, »oder ihnen mit einem tüchtigen Stock zuleibe gehen.« Hie und da, besonders im Herbst, wo er Zeit fand, sich uns zu widmen, wurden entsprechende Mutproben mit uns angestellt. An den späteren Nachmittagen, wenn die Nacht bereits hereingebrochen war und Mondschein sie zu schwachem Dämmer aufhellte, traten wir etwa aus dem Kleinen Saal auf die Terrasse hinaus, um noch ein wenig Luft zu atmen. Die Elisenhalle, mit ihrem dorischen Giebelbau, warf ihren Schatten auf den Platz, kein Mensch war zu sehen weit und breit und ebensowenig ein Laut zu hören.

Da konnte mein Vater plötzlich behaupten, daß er da und da, weit hinten auf einer Bank der Elisenhalle, seinen Hut vergessen habe, und den Wunsch äußern, ich möge sehen, ob er noch dort liege, und ihn womöglich zurückbringen. Es wäre ein Panamahut oder irgendso, und er würde ihn sehr ungern einbüßen.

Die Halle war offen nach Osten gegen den Park und gegen Westen geschlossen. An dieser Seite, hinter der unmittelbar die kupferfarbene Salzbach rauschte, hatte man nach Art eines Basars Verkaufsläden eingebaut.

Wenn man über die große Freitreppe auf den lehmgestampften Boden des Tempelbaues trat, weckte man lauten Widerhall. Am Ende des Raumes traf man, nachdem man über hölzerne Stufen einen Holzpodest erstiegen hatte, auf große Glastüren, die zum Kurhaus gehörten und dessen Gesellschaftssäle abschlossen. Rechts davor eine niedrige Tür führte in einen kleinen, meist übelriechenden Raum, der auf der andern Seite durch ein gleiches Türchen verschlossen war. Nicht einmal am Tage war es uns Kindern angenehm, durch diesen »Sichdichfür«, dieses lichtlose Loch, hindurchzuschlüpfen. Es lief auf eine Brücke über die Salzbach aus.

Im Familienkreis galt ich als das verhätschelte, zutunlich weiche Nesthäkchen. Man wußte hier nichts – und nicht einmal ich selber wußte es – von dem Ruf, den ich auf der Gasse genoß, wo ich als ein verwegener, durchtriebener, gänzlich furchtloser Bursche genommen wurde. Wie oft war die Nacht über unserer wilden Spielerei hereingebrochen: der finsterste Winkel im Eifer des Kriegsspiels schreckte mich nicht.

Jetzt, im andern Seelenkostüm, war ich scheu, ängstlich, furchtsam, verzärtelt, zimperlich. Nur mit heroischer Überwindung konnte ich dem Wunsche des Vaters nachkommen. Schon die Überquerung des Platzes, wo sommers die Droschken standen, war keine Kleinigkeit. Es kam dann das Ersteigen der Freitreppe mit dem tiefen, düstern Raume als Hintergrund. Kaum daß ich den hallenden Boden betrat, auf dem die dicken Schatten der Säulen lagen, fing ich auch schon zu laufen an, worauf sogleich vom Schall meiner Sohlen Tausende dämonischer Stimmen laut wurden. Sie schrien und peitschten allseitig auf mich ein. Und nun kamen die blinden Glastüren der Kursäle, die, eisige und leere Höhlen, dahinter lauerten. Das Kurhaus war im Winter geschlossen. Die Scheiben klirrten von meinem Schritt, und unter mir tönte hohl die Holzdiele. Zur Rechten hatte ich den scheußlichen Sichdichfür, worin ich mir etwas wie lauernde mörderische Erinnyen vorstellte. Wenn ich den Hut nun durchaus nicht entdecken konnte, lief ich, vielleicht mich anders besinnend, nicht wie gehetzt davon und zurück, sondern bewegte mich steif und auf lautlos-furchtsame Weise. Und nun traten wohl vor die vernagelten Läden die sommerlichen Inhaber: das Gespenst Gertischkes, des Porzellanmalers, des Glaswarenhändlers Krebs, von dem bekannt war, daß er überall seinen Sarg mit sich führte. Das alles war mehr als gruselig.

 

Damals war Beleuchtung durch Gas eben aufgekommen. Mein Vater neigte zu jeder Art von Modernität, so legte man auch in der Preußischen Krone Gasröhren. Die Brenner mit der in einer Explosion sich entzündenden fächerförmigen Flamme waren primitiv. Unsere verhältnismäßig kleinen Wohnzimmer erfüllten winters an langen Abenden giftige Rückstände. Das rügte die allen Neuheiten abgeneigte Mutter. Den Stolz des Vaters auf diese Art Beleuchtung beugte das nicht.

Eines Tages nahm er mich mit in die Gasanstalt. Nun wurde mir deutlich, daß die Gasbeleuchtung von Ober-Salzbrunn überhaupt unter seiner Leitung stand und von ihm eingerichtet worden war. Die Heizung der Retorten und die Bedienung des Gasometers lag in der Hand eines Werkmeisters namens Salomon. Er, den selbst ich sofort als Lungenkranken erkennen konnte, hatte vielleicht die Salzbrunner Stellung in der Hoffnung, an den Heilquellen zu genesen, angenommen. Dieser Salomon mit seinem Ernst, seiner hohlen Stimme, seinem blauen Kittel, mit der Kohlenschaufel vor der zitternden Weißglut seiner Retorten hat mir einen tiefen Eindruck gemacht. Ich sah zum erstenmal den modernen Arbeiter, eine Menschenart, die mir einen ganz andern Respekt abnötigte als jede, die mir sonst vor die Augen gekommen war. Ein neuer Adel, schien mir, umgab diesen Mann, der hier seine Höllenschlünde in Brand setzte, in ihrer gefährlichen Nähe hantierte mit gelassener Selbstverständlichkeit und einem unbeirrbaren Pflichtgefühl. Er erklärte mir, wie man den Gasometer auffüllte, und mein Vater deutete an, daß ein einziger hineinverirrter Funke eine Explosion verursachen könne, die uns alle in Stäubchen zerreißen würde.

Welche Atmosphäre von schlichtem Mut, Opferbereitschaft in jedem Augenblick, ernstem Willen zur Verantwortung umwitterte diesen Mann, über den ich von Stund an immer wieder nachdenken mußte.

Der respektvollen Art meines Vaters diesem Manne gegenüber konnte ich anmerken, daß er ähnlich wie ich zu ihm stand.

 


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