Gerhart Hauptmann
Das Abenteuer meiner Jugend
Gerhart Hauptmann

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Neununddreißigstes Kapitel

Wir wurden von meinem Bruder und meiner Schwägerin Martha nach Zürich zu kommen eingeladen. Wir sollten samt den zwei Söhnchen, die wir mitbrachten, Gäste ihres Hauses sein. Die Freie Straße – nomen est omen! –, wo die Geschwister wohnten, liegt am Zürichberg und ist umgeben von Wiesen und Wäldern.

Natürlich war das Wiedersehen mit Carl, Martha und meinen Freunden Ploetz und Simon das glücklichste.

Simon, der ebenfalls an die Universität Zürich übergesiedelt war, steckte, durch Alfred Ploetz angeregt, bereits wie dieser tief im medizinischen Studium.

Als Kuriosum sei erwähnt, daß der Zug, den wir von Berlin nach Frankfurt benutzten, das Wunderwerk eines sogenannten Speisewagens eingestellt hatte. Wir staunten und waren entzückt darüber, nämlich Mary und ich. Leider aber, wie sich herausstellte, vertrug sie den Aufenthalt in dem schönen Gehäuse nicht.

Nichts von den Ingredienzien der »Modernen Dichter-Charaktere« spürte man zunächst in der Züricher Luft, sondern nur freudig hoffende Strebenskraft, keiner Traurigkeit zugänglich. Der Pendelausschlag der Seele bewegt sich nun einmal vom Licht zur Nacht und von Nacht zu Licht. Und die neue Umgebung schien zunächst nur den heitersten Tag zu beginnen.

Man war in der Schweiz, man war in einer landschaftlich unvergleichlich gebetteten Stadt. Ein mächtiger See warf die Bläue des Himmels zurück. Über ihm in der Ferne lag die schemenhaft leuchtende Kette der Alpen. Über den Stadtteil Enge wachte der grün bewaldete Ütliberg, den man unschwer ersteigen konnte. Noch beherrschte die Straßen das trauliche Schweizer Bürgerhaus. Ein solches hatten auch Carl und Martha inne. Empfängliche Jugend, als welche wir uns wohl bezeichnen konnten, spürte zum erstenmal den einzigartigen Geist schweizerischer Bürgerlichkeit. Mir zum mindesten ging es so. Und mir war, als sei ich darin geborgen.

Noch ahnte ich nicht, wie diese Züricher Zeit mein Leben und meine Erfahrung bereichern sollte, sowohl was die Fülle neuer Erscheinungen anbelangt, Persönlichkeiten verschiedenster Art, soziale Institutionen, Parteigebilde kämpferisch-politischer Art, als auch wissenschaftlich neue Gebiete.

 

Carl, Ploetz und Simon, verbunden mit einem Kreis von Studierenden, waren viel enger noch, als dies in Jena möglich war, um die Universität gruppiert. Und diese hatte damals, ich glaube fast als die erste, dem Frauenstudium ihre Hörsäle freigegeben.

Der Geist des Hauses, das Martha führte, war von einer überaus schönen Klarheit und Sauberkeit. Man muß bedenken, daß Simon und Ploetz, dann auch Mary, ich und die Kinder täglich hier ihre Mahlzeiten einnahmen. Ich habe nie von Martha ein Wort der Klage über zu viele Arbeit, ja überhaupt ein anders als freundlich gehaltenes Wort gehört. Niemals ist es an diesem Tisch junger Menschen formlos oder gar derb und roh hergegangen. Weil Martha ihren vornehm-einfachen Stil unbewußt aufrechterhielt, haben sich auch ältere Leuchten der Wissenschaft im Bannkreis des Hauses wohlgefühlt. Solche, nicht nur der Züricher Universität, die Carl und dem Kreise um ihn besonders nahe standen, waren die Professoren Forel, Gaule und Richard Avenarius.

August Forel war Direktor des Burghölzli, der großen Züricher Irrenanstalt. Er ist es, dessen Erschließungen von überwiegendem Einfluß auf mich gewesen sind. Er hat mir ein unverlierbares Kapital von Wissen um die menschliche Psyche vermittelt.

Das kleine Haus meines Bruders Carl und meiner Schwägerin Martha in der Freien Straße wurde damals etwas wie eine platonische Akademie, die allerdings mehr den Geist des »Gartens«, will heißen des epikurischen Kreises atmete. Es liegt keine Übertreibung darin. Ploetz und Simon, die täglich aus ihren Kollegs kamen, verbanden ihn mit dem Gesamtinhalt der medizinischen Wissenschaft. Carl, nach täglichem Verkehr mit Richard Avenarius, wälzte ruhelos grundstürzende Probleme der Philosophie.

Es ist eine Dreizahl von Professoren, deren Geist gewissermaßen über dem Häuschen der drei Doktoren Carl, Ploetz und Simon schwebte. In einer anderen Dreizahl tauchten über mir und ihnen drei diese noch überstrahlende Sterne auf. Gottfried Keller, der von je in Zürich lebte, Conrad Ferdinand Meyer, der am nahen Seeufer in Kilchberg wohnte, und Arnold Böcklin, der seltsamerweise damals von Florenz nach Zürich übergesiedelt war.

Böcklin war mir von Grund aus bekannt, Keller genugsam, um ihn begeistert zu verehren. Mein Verhältnis zu Conrad Ferdinand Meyer hob erst an. Die Ehrfurcht aber, die wir dem Trio entgegenbrachten, streifte gleichmäßig an Vergötterung. Wir strebten, auch nur ihren Anblick zu erhaschen, hätten jedoch nie den Mut gehabt, solche Gottheiten anzusprechen.

So anders die Richtung des Weges auch war, den ich schon damals ging, ist doch das wesentliche und beglückte Erfassen der beiden Dichter in Zürich von uns erlebt worden. Sie wurden von uns – Ploetz vielleicht ausgenommen – leidenschaftlich gelesen und diskutiert.

Karl Henckell und Frank Wedekind sind die Namen von jungen, werdenden Dichtern, die damals von dem Hause in der Freien Straße angezogen wurden. Man traf sich natürlich auch in Lokalen außerhalb.

Aus den medizinischen Kreisen gruppierte sich um Ploetz mancherlei: Agnes Bluhm, Pauline Rüdin und ein gewisser Tomarkin, der möglicherweise zwischen der medizinischen Wissenschaft und dichterischen Ambitionen hin und her schwankte.

Ich habe die Entwicklung dieser drei Persönlichkeiten durch mein langes Leben verfolgen können.

Zu Ferdinand Simon fühlte sich eine bedeutsame Frau, Fräulein Winterhalter, ebenfalls Medizinerin, hingezogen. Die schöne, zarte und überaus kluge Person besaß eine männliche Eigenschaft, nämlich sie rauchte schwere Zigarren. Ich nenne sie, weil sie für die Vielfalt und Seltsamkeit der Gestalten unter den ersten Studentinnen Europas charakteristisch ist. Ich könnte noch viele andere nennen, aus Deutschland und überall her, hauptsächlich aber aus Rußland und Polen herzugeströmt. Es ist klar, daß der Verkehr mit ihnen unseren Gesichtskreis erweitern mußte.

Was hatten diese jungen Mädchen, besonders aus Rußland und Polen, durchzumachen und zu leisten gehabt, bevor sie an einer deutschen Hochschule in deutscher Sprache hören und verstehen konnten! Welchen Gefahren und Beschwerden hatten sie sich, um ihren Lernhunger zu befriedigen, nicht ausgesetzt!

Wenn ich mich frage, was ich in den vorerst nur angedeuteten Züricher Kreis mitbrachte und was mich schicksalhaft erfüllte, so war es natürlich literarischer Gestaltungstrieb. Ich hatte Zola, dann als ersten Russen Turgenjew, später Dostojewski und schließlich Tolstoi wesentlich in mich aufgenommen, wobei das größte Erlebnis, das mich immerwährend durchwühlte, Dostojewski blieb. In diesem Sinne, wie angedeutet, blieben Keller und Meyer zwar göttliche, aber peripherische Eindrücke.

Ich nun habe den Kreis um Carl mit Dostojewski und wieder mit Dostojewski infiziert. Die russischen und polnischen Studenten und Studentinnen hielten das Dostojewski-Feuer lebendig, und das Irrenhaus Burghölzli und der große Psychiater Forel warfen Scheiter hinein.

In meinem Gedicht »Promethidenlos« wird an einer gewissen Stelle ein Irrenhaus das »Haus der höchsten Weisheit dieser Welt« genannt – ein schauerlicher Doppelsinn, der mir heute nur zeigt, in welchen Tiefen eines Überpessimismus ich damals ächzte. Dies Haus der höchsten Weisheit dieser Welt habe ich also in Zürich trocken und nüchtern kennengelernt und werde später davon berichten.

Aber auch außerhalb seiner Mauern bin ich immer mit dem Notizbuch in der Hand, wo ich ging und stand, den psychischen Sonderbarkeiten der Menschen nachgegangen. Andere haben mir später gesagt, ich sei kaum ohne Notizbuch gesehen worden.

 

Zu den ersten Objekten meiner Studien gehörte die Heilsarmee. Immer wieder besuchte ich ihre Andachten. Die charakteristisch gekleideten Mädchen sangen die Kirchenlieder mit mänadischem Temperament, wobei sie die Schellentrommeln schwangen. Es kam ihre Zeitung »Der Kriegsruf« heraus, den ich lange gesammelt habe. Aber vor allem stießen sie immer wieder den gleichen jubelnden Lockruf aus, der, wie bekannt, »Komm zu Jesu! Komm zu Jesu!« lautet.

Jede Andacht unter der Leitung von männlichen und weiblichen Offizieren der Heilsarmee hatte zum Zweck, verstockte Sünder in den Zustand der Zerknirschung zu versetzen und ihr Damaskus herbeizuführen. Kam diese Gnade über ihn, so wurde der verlorene Sohn – oder die verlorene Tochter – mit aller Liebe zu den Geretteten herübergenommen, wo er dann aus reuigem Herzen eine mehr oder weniger lange, mehr oder weniger rührende öffentliche Beichte ablegte.

War dies nun oder war es kein Irresein? Es war jedenfalls bei Bekehrern wie Bekehrten eine Art Rausch, ein Zustand dionysischer Exaltation. Sie wirkte auf die zu Gewinnenden nicht durch Überzeugung, sondern durch Ansteckung.

Ganz allgemein lag damals in der Luft ein Hang zur Sektiererei.

Man sah auch in Zürich die Schüler des Naturmenschen und Anachoreten Dieffenbach. Ihre Haare wallten bis auf die Schultern. Wo man diese halbnackten Menschen sah und beobachtete, mußte man finden, daß ihnen etwas Fremdes, etwas Unberührbares anhaftete. Mir kam es vor, als hätten sie allenthalben die Tore ihrer Seelen zugemacht. August Forel stand nicht an, ihr Verhalten pathologisch zu nennen.

Und doch schien es, daß, abgesehen von der breiten Wirkung der Sozialdemokratie, das Weltverbesserertum in der Luft liege. So setzte sich Forel selbst, nicht ohne Fanatismus, für Frauenrecht und Antialkoholismus ein. Eine Welt ohne Wein, Bier und Schnaps, so schien es ihm, müsse gesund werden.

Das Frühlingshafte jener und besonders der Züricher Zeit bestand in einer immanenten Gläubigkeit. Soll ich die abgegriffene Dreizahl Glaube, Liebe, Hoffnung für sie beanspruchen? Ja! Denn wir waren davon erfüllt. Daß wir erst für die ferne Zukunft glaubten, liebten und hofften, was uns in göttlicher Jugendfülle umgab, ist uns damals kaum klargeworden. Fast mit jedem Schritt wurde damals ein neues Morgen gesucht und erlebt. Eine nagelneue Epoche ging über der Menschheit auf. Man suchte und fand überall das Neue.

 

Nie dagewesene Erkenntnis auch über den Menschen trat aus der Dunkelheit. So wurde das Gebiet der Hypnose durch Forel experimentell erforscht und vom wissenschaftlichen Standpunkt aus studiert. Es waren Wunder auf diesem Gebiet, die er in seinen Kollegs vorführte.

Aber auch sonst drangen Ahnungen ungeheuren technischen Fortschritts auf die Menschheit ein. Mein Bruder Georg aus Hamburg schrieb: Wir haben hier einen Explosionsmotor konstruiert. Sobald er einwandfrei gebrauchsfähig ist, brauchen wir keine Pferde mehr vor dem Wagen. Wir haben den lenkbaren Luftballon, wir haben blitzschnelle kleine Boote, ruderlos. Ja, wir werden wahrscheinlich ohne Ballon fliegen.

Es schien Wahnsinn, aber wir glaubten daran.

Beinahe täglich brachten Ploetz und Simon Nachrichten in die Freie Straße über den märchenhaften Fortschritt teils der Chirurgie, teils der Bakteriologie. Bald werde man von den Geißeln der Menschen, den Seuchen, nur noch vom Hörensagen wissen. Diphtheritis, Blattern, Cholera, Lues würden binnen kurzem ausgestorben sein, ebenso die Tuberkulose, die verbreitetste aller Krankheiten. Man sei dem Erreger des Übels auf der Spur, weshalb ihre Schreckenstage gezählt seien.

 


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