Gerhart Hauptmann
Das Abenteuer meiner Jugend
Gerhart Hauptmann

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Zwölftes Kapitel

Nicht nur durch das Taubensuchen, sondern auch durch die altüberkommenen Sitten mancher Jahrestage erweiterten sich mit meiner Kenntnis des Orts die der Bewohner, die der Menschen im allgemeinen und meine Kenntnisse überhaupt. Vier Tage vor Ostern, am Gründonnerstag, war die ganze Jugend Ober-, Mittel- und Niedersalzbrunns in Bewegung. In kleinen oder größeren Scharen zogen sie, Bettelsäcke umgehängt, von Gehöft zu Gehöft, von Haus zu Haus um durch einen überaus kurzen Gesang Gaben von den Bewohnern herauszulocken. Das unisono gesungene Liedchen hieß im Dialekt: »Sein Se gebata, sein Se gebata im a grina Donstig.« Hochdeutsch: »Seien Sie gebeten um den Gründonnerstag.«

Noch allgemeiner war am sogenannten Sommersonntag das bettelnde Herumziehen. Die hierbei gesungenen Lieder waren etwas umfangreicher, und eines lautete:

Ich bin a kleener Pummer,
ich kumme zum Summer,
lußt mich ni zu lange stiehn,
ich muß a Häusla weiter giehn.

Noch an ein zweites erinnere ich mich:

Rote Rosen, rote Rosen
bliehn uf eeem Stengel.
Der Herr ist scheen, der Herr ist scheen,
de Frau is wie a Engel.

Der Herr, der hat 'ne huche Mitze,
er hat se voll Dukaten sitze,
er werd sich woll bedenken,
zum Summer uns was schenken.

Ich und auch Carl schlossen uns, von den Eltern ungehindert, meist jeder einer andern Gruppe an und zogen stundenlang mit. Wir sangen vor dem Hause des Fräuleins von Randow, dem Flammenden Stern des Maurermeisters Schmidt, wir heimsten Geschenke von dem Gasthof Zur Sonne, dem Gasthof Zum Schwert, beim Demuthbauer, beim Rudolfbauer, beim Porzellanwarenhändler Gertitschke ein. Wir sangen aber nur einmal vor dem Hause der Enkes nebenan, dem Elisenhof, weil der Empfang kein guter war. Im ersten Stock ward ein Fenster geöffnet, und der Besitzer brüllte uns an, er werde seinen Hund auf uns hetzen, wenn wir nicht machten, daß wir fortkämen. Unsere zahmen Raubzüge gingen bis ins Niederdorf, wo wir fast überall, aber besonders in kleinen Leuten, willige Geber fanden. Zuweilen lud man uns ins Haus, um uns mit Butterbroten und Milch zu traktieren. Hauptsächlich aber waren es nach der Tradition Eier, die man uns gab und die wir in ziemlichen Mengen heimbrachten. Erst bei dieser Gelegenheit habe ich eigentlich mit leichtem Befremden das Ei und seinen Nahrungswert kennengelernt.

Um den Gehorsam deutlich zu machen, den wir ihm zu leisten gewohnt waren, erzählte mein Vater später oft und mit Heiterkeit, wie Carl mit einem Korb voll Eier, seiner Gründonnerstagsbeute, ins Zimmer getreten war und er ihn prompt und ohne zu überlegen zur Erde warf, als mein Vater ihn im Scherz mit den Worten »Schmeiß sie weg!« angeherrscht hatte.

Der Erlös unsrer Bettelei wurde von meiner Mutter in Eierspeisen nach unserm Wunsch verwandelt. Ich kann mich erinnern, daß Rührei mir aus irgendeinem Grund widerlich war, während mir Eierkuchen weniger widerstanden. Ich brachte wohl zum erstenmal mit den fertigen Speisen ihr Rohmaterial in Zusammenhang.

Der Taubenkult konnte im wesentlichen als Spiel gelten, obgleich auch sachlicher Ernst damit verbunden war. Ich habe von der Liebe zu diesen Tieren eine Art Abneigung, Taubenfleisch zu genießen, zurückbehalten. Auch entrüstete ich mich mit Carl über das von den Weißsteiner reichen Bauern vielfach ausgeübte Vergnügen des Taubenschießens. Die Tierchen wurden in Käfigen auf den Schießplatz gebracht und zu Aberhunderten aus der Luft geschossen, wenn man sie freigelassen.

 

Am Robinson und am Lederstrumpf, wie schon gesagt, habe ich lesen gelernt. Dagegen ist mein Ehrgeiz durch eine Geschichte, »Das Steppenroß«, besonders entfacht worden. Ich nahm dieses schnellste der Rosse in meine Träume auf, bestieg es selbst und besiegte damit alle Renner der Erde. Ob es damals in Deutschland Pferderennen gegeben hat, weiß ich nicht. Einst brachte jedoch mein Vater ein Spiel nach Hause, wo in Blei gegossene Reiter, ventre à terre, bemalte Jockeis auf Rennpferden, auf eine als Rennplatz graduierte Karte gestellt wurden. Nach der Entscheidung von Würfen aus dem Würfelbecher wurde mit ihnen vorgerückt. Ein nie gesehenes Schauspiel war mir dadurch nahegebracht und meine Vorstellungswelt bereichert.

Motive aller Art schoben sich durcheinander und ineinander – unmöglich, ihre Fülle aufzuzählen. Man darf immer wieder voraussetzen, daß ich ein Wildling war, zwar heimlich von meinen Eltern gelenkt und geführt, aber von dem naturgegebenen Wunsch dauernd beseelt, nichts von der Ursprungswesenheit aufzugeben. Selbst scheinbar im Schlepptau von Carl, verfolgte ich immer noch eigenste Wege.

Die großen Rundflüge der Tauben im Blau, ihre blitzenden Schwenkungen machten mich unzufrieden mit meiner Erdgebundenheit. Ein Zauberkasten mit Zauberstab, den ich geschenkt erhalten hatte, Erzählungen von Hexen und Hexern, die das Geheimnis besaßen, wie man durch die Luft fliegen kann, brachten mich auf das Flugproblem und seine möglichen Lösungen. Besonders da ich immer wieder des Nachts im Traum mich in Gegenwart aller ohne alle Schwere und Schwierigkeit in die Luft erhob mit einem so überzeugenden Empfinden von vertikaler Beherrschung des Raums, daß ich an eine Vergangenheit, ein Vorleben denken mußte, wo mir diese Bewegung ohne Schwere natürlich gewesen war.

An ein Vorleben dachte ich oft. Wie vielen, war mir gelegentlich so zumut, als ob ich alles mit und um den Gasthof zur Krone, mit und um meine Geschwister, Salzbrunn und seine Heilquellen schon einmal in der Tiefe der Zeiten Punkt für Punkt genau erlebt hätte. Das war nun der Gedanke einer ewigen Wiederkunft, den ich auch später naiverweise im Sinne des Lucretius Carus und seiner beschränkten Zahl von Atomen und ihren möglichen Kombinationen gedacht habe.

Der Zauberkasten machte mich vorübergehend zum Scharlatan. Ich übertrug die Versuche, Wunder mit dem Nimbus eines Zauberers vorzutäuschen, in mein Leben auf der Straße. Folgendes Stückchen, das ich vergessen hatte, wurde von Onkel Gustav Schubert auf Rittergut Lohnig beobachtet und mir später nicht ohne herzliches Vergnügen wiedererzählt.

Der Vorgang hatte sich, wie ich mich selbst entsinne, so abgespielt: Eine kleine Armee von Hofekindern wurde von Vetter Georg, der gewöhnlich mein Feldwebel war, und mir zu allerhand militärischen Aufzügen und sonstigen Übungen angeleitet und angeführt. Lebte man doch seit 1866 merklich zugleich in einer Nachkriegszeit und Vorkriegszeit. So vermehrte sich an jedem Geburtstag und jedem Weihnachten meine österreichisch-preußische Zinnsoldatenarmee. Schließlich war uns einmal das Militärische übergeworden, und wir dachten auf andere Unterhaltungen. Plötzlich aber, ich weiß nicht wie, behauptete ich, ich könne fliegen. Die Hofekinder sahen in uns beiden, dem Sohne des Gutsherrn und mir, Halbgötter. Sie zweifelten, aber waren glaubensbereit und forderten nun das Wunder zu sehen. Ich schämte mich innerlich meiner eitlen Aufschneiderei, ließ mich aber in ein Verfahren hineindrängen, von dem ich hoffte, es werde mir Gelegenheit geben, vor der Schlußprobe auszubrechen. Wenn das Wunder gelingen solle, behauptete ich, müsse vorher einer Reihe von mystischen Gebräuchen, und zwar aufs genaueste, entsprochen werden. Würden hierbei Fehler gemacht, so könne das Experiment nicht gelingen.

Gespannt, ein solches Wunder zu erleben, zeigte sich nun die Kinderschar von einer mich auf eine beunruhigende Weise ehrenden Willfährigkeit. Es wuchs meine Scham mit ihrem Glauben. Da es ein Zurück nicht gab, fing ich den traurigen Hokuspokus an.

Jedes Kind mußte einen Stein gegen ein Scheunentor werfen, nach einiger Zeit mußte es dreimal die Worte »Fliege, fliege, fliege!« ausrufen. War dies geschehen, ging es zur Pumpe, wo jeder der Teilnehmer ein Glas Wasser, ohne etwas davon zu verschütten, zu trinken hatte. Da ich einer großen Entlarvung entgegenging, zog ich diese angeblich unumgängliche Vorbereitung so lange wie möglich hin, ohne auf den Gedanken zu kommen, wegen eines angeblich gemachten Fehlers, den Versuch als gescheitert anzusagen. Endlich stieg ich fast verzweifelnd auf irgendeinen Vorbau der Gutsställe hinauf und sprang mit den wenig überzeugenden Worten »Ich fliege, ich fliege!« herunter.

Bei alledem hatte mich Onkel Schubert heimlich beobachtet.

Ein solcher Trieb, wenn er herrschend wird, macht den Hochstapler. Was ich tat, geschah zwar im Spiel, war aber schließlich auf einem übertriebenen Geltungsbedürfnis aufgebaut und dem Mißbrauch der Unwissenheit meiner Gespielen: ich übte Betrug, wobei ich außerhalb der zwar ungeschriebenen, aber unverbrüchlichen kindlichen Spielregeln geriet, das Vertrauen brach und Verrat übte.

 

Nach dem Eselgeschenk an den kleinen Georg, noch zu Lebzeiten des Großvaters, verbrachte ich auf Einladung der Verwandten meine Sommerferienzeit in Lohnig, in der ich mich außer durch das peinlich mißratene Flugexperiment durch allerlei andere Heldentaten auszeichnete.

Nicht aber das ist bei dieser jugendlichen Loslösung meiner Person vom bisherigen Schauplatz meines Lebens und Verpflanzung auf einen anderen die Hauptsache, sondern eine damit verbundene allgemeine Erfrischung, Erholung und Erneuerung.

Es war Juli, ich kam in die Erntezeit. Tagein, tagaus schwankten die hochgetürmten Erntewagen über den Hof, wurden auf die lehmgestampften Tennen gerückt und rechts und links in die Bansen abgeladen. Ununterbrochen rauschten und zischten die Garben. Hühner in ungezählten Mengen machten sich über die Weizenkörner, die ausfielen, her, und ebenso zahlreiche Flüge weißer Tauben wußten bei der Fülle des Segens allenthalben nicht, wo sie zuerst die Kröpfe füllen sollten.

Tante Julie und Onkel Gustav residierten im kleinen Herrenhaus, wo Vetter Georg und ich abends von der resoluten Gutsfrau im gemeinsamen Zimmer zu Bett gebracht und morgens wieder daraus erlöst wurden, denn zu schlafen in dieser allbeglückenden Sommerszeit war für uns keine leichte Aufgabe. Man bedenke, daß uns beiden Knaben nicht nur ein Esel, sondern auch ein Wagen mit schöngeschirrten Ziegenböcken zur Verfügung stand, – daß wir draußen auf den Stoppeln, wo die Leiterwagen mit vollen Garben beladen wurden, langsam fortrückend, auf den Pferden saßen und schließlich oben, in luftiger Höhe der Ladung, und auf ihrem bequemen Bett heimschwankten, – daß wir uns überall als Kinder des Herrenhauses wohlgelitten tummeln durften nach Herzenslust. Wir jagten uns auf den Weizenmassen der Scheunen, durch die endlosen Stallungen der Rinder und Pferde, zwischen der nach vielen Hunderten zählenden Bevölkerung der großen Schäferei herum. Wir wußten, daß unserem Kommando die ganze Jugend der Gesindehäuser jederzeit folgte, und wir genossen eine Verpflegung, die mich, verglich ich sie mit der sowohl sommerlichen als winterlichen des Elternhauses, märchenhaft anmuten mußte: Sogleich nach dem Aufwachen Kaffee mit dicker Sahne, frische Milch, mit Klumpen von Butter und Honig belegtes Weizengebäck; mittags Braten, Gemüse, Kompotte in Mengen und frische Früchte, frische Salate mit saurer Sahne angemacht, Käse, Butter und selbstgebackenes Roggenbrot. Zu alledem wieder Milch, soviel man wollte. Butter, Honig, Sahne wiederum zum Nachmittagskaffee. Nun, ich darf mir den Abend ersparen, er schloß sich den übrigen Mahlzeiten würdig an.

Was war dagegen daheim selbst im Sommer die trockene Semmel und ein mühsam erkämpfter Morgenkaffee, mein mühsam erkämpftes, lieblos auf einem Teller zusammengekleckstes Mittagessen, zur Vesper mein Glas Wasser und etwas Himbeersaft, des Abends die dünnbestrichene Butterschnitte, eine Ernährungsweise, die ich, solange ich daheim war, als gottgewollt und selbstverständlich ohne alles Murren empfand.

Herrlich blüht noch heut die Erinnerung an eine solche Schlaraffenzeit, aus der ich gänzlich verändert, kerngesund und nicht ohne leises Bedauern nach Salzbrunn zurückkehrte. Zum erstenmal empfand ich in dem ganzen Badebetrieb, inbegriffen mein Elternhaus, eine gewisse, mir eigentlich nicht entsprechende Künstlichkeit: noch konnte mir nicht zum Bewußtsein kommen, daß ich eigentlich immer von ihr fort mit unstillbarem Drang zur Natur strebte, wo sie unverbildet, ursprünglich und einfach ist.

 


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