Gerhart Hauptmann
Das Abenteuer meiner Jugend
Gerhart Hauptmann

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Achtundvierzigstes Kapitel

Der harte Winter ging vorüber. Meine Milchkur und manche hypochondrische Gegenmaßnahme kamen nicht gegen den Husten auf, der mich quälte. Das Frühjahr brachte eine Linderung. Mit den Besuchen von den näheren und ferneren Pastoreien und Gütern kamen jetzt helle Sommerkleider und große Schäferhüte mit Bändern in Sicht, hübsche Mädchen, die sich in Hof, Haus und Garten lachend tummelten. Ich erschrak vor ihnen, ich wich ihnen aus. Ihrem Übermut hatte ich nur die Beängstigungen einer krankhaften Schüchternheit entgegenzusetzen. Sie würden, dachte ich, einen Menschen wie mich verachten, dem seine Verdorbenheit, im Sinne von Untauglichkeit, bis zur Nichtsnutzigkeit, will heißen: seine Jämmerlichkeit, auf der Stirn geschrieben stand.

Man hat mir später gesagt, daß die Mädchen ihrerseits sich nicht an den sich seltsam isolierenden Träumer heranwagten. Ich wäre gestorben in ihrer Gegenwart. Der überschäumende, allenthalben frei und selbstsicher auftretende Knabe von einst hatte allen heiteren Freimut verloren, das Lachen verlernt und die Fähigkeit, sich in Unschuld zu freuen.

Da kam etwa zwischen Ostern und Pfingsten das Ehepaar Schütz mit seinem wohl noch nicht siebenjährigen Töchterchen, Annchen Schütz, zu Besuch. Sie waren zwei Wochen unsere Hausgäste. Das Kind erweckte in mir eine heimliche, tief verschlossene Leidenschaft. Gut gehalten und hübsch herausgeputzt, war das Bergratstöchterchen immer von einer würdigen Frau begleitet, mit der ich in gutem Vernehmen stand.

Von meinem Zustand ahnte sie nichts und konnte natürlich davon nichts ahnen. Ich sah in dieser Siebenjährigen den lichten Boten aus einer anderen Welt, aus jener, auf die meine Verse hindeuteten. Ich genoß ihren Anblick mit ganz gewiß nicht geringerem Staunen, als Dante den der kleinen Beatrice genossen hat. Ich konnte sie öfter und immer wieder sehen, im Schutze meiner erheuchelten Gleichgültigkeit, die mich hinreichend deckte, wie ich vermuten durfte. Dabei vermochte ich nicht zu begreifen, wie alle, die Eltern, die Wärterin, Onkel und Tante, nicht bemerkten, wer sie war, und mit ihr, wenn auch freundlich, so doch wie mit einem gewöhnlichen kleinen Mädchen umgingen. Denn da sie sichtbar und fühlbar aus himmlischem Stoff bestand, gehörte sie nicht unter niedere Menschen. Man mußte ihr einen Tempel errichten und ihr mit Gesängen, Tänzen und heiligem Altarfeuer huldigen.

Im Grunde war ich dann wieder froh, ihre wahre Natur unerkannt zu wissen. Wenn sie ihr gnadenvoll beseligendes Auge mir zuwandte, überredete ich mich, es wäre der heimliche Sinn ihrer Sendung, mir allein erkennbar zu sein. Dies war vielleicht ihr eigener göttlicher Wille. Und so blieb es ihr auch wohl nicht verborgen, welche Hymnen in mir klangen, und ebensowenig die Opferfeuer, die unablässig in mir loderten.

Nein, sie war gewiß keine Sterbliche. Dagegen sprach die unwiderstehliche Macht, die sie auf mein ganzes Wesen ausübte. Trotz mancher Erfahrung ähnlicher Art hatte dieses Erlebnis eine mir bis dahin unbekannte Größe und Wunderbarkeit. »Ecce deus fortior me, qui veniens dominabitur mihi.« Hier war das Wunder, hier war der Gott, dessen Berührung die feinsten Ätherteilchen der Seele erbeben machte, die große Epiphanie, die mir weder das heilige Büchelchen noch die Versuche, höhere Intuitionen zu erzwingen, zuteil werden lassen konnten.

Das engelhafte Kind, das mit irgendeinem bürgerlichen Vor- und Familiennamen zu benennen in meinen Augen schon anstößig war, schien niemand in seiner Umgebung, und so auch nicht mich, eigentlich zu beachten. Es zeigte keinerlei Lebhaftigkeit. Von den Drolerien anmutig zutraulicher Erscheinungen gleichen Alters haftete ihm nichts an. Es war zu schön, um eitel, aus zu reinem Stoff gebildet, um selbst stolz zu sein. Man konnte sein liebliches Antlitz weder heiter noch ernst nennen. Es war wie ein überirdisches Licht, das dem vergleichsweise blinden irdischen Auge das außerirdische Schöne erschloß und dabei den Betrachter auf eine unnennbare Weise beseligte.

Man sprach kaum von ihm. Geschichten wurden von ihm nicht zum besten gegeben. Wenn auch nicht mit dem tiefen Wissen, das ich besaß, wurde es von seinen Eltern sowie von Onkel und Tante mit einer Art Zurückhaltung, nicht eigentlich wie ein Kind behandelt, sondern wie etwas, dessen besondere Würde nicht unberücksichtigt bleiben kann.

 

Dante sah das Kind Beatrice schlafend in Amors Arm. Der Gott hielt dabei ein flammendes Herz in der Hand und sagte zu Dante: »Vide cor tuum!« Ich zögere nicht, diesen altgeheiligten Vorgang auch auf diese Kleine, mich einst Beseligende, und mich selbst umzudeuten. Hätte ich wie Dante vollinnerlich damals im Mysterium einer großen Kirche gestanden, ich hätte dieses Kind, wie er die Tochter Folco Portinaris, zur Tochter Gottes gemacht.

Ich lebte in einer Betäubung, in einer Bestürzung dahin und wußte kaum, was ich aus dieser Begnadung machen sollte. Sicher ist, eine Vita nuova hob damit ebenfalls in mir an. War ich einer solchen Begnadung gewürdigt worden, so hatte das ganz gewiß den Sinn, daß ich im Schlamme des Finsteren und des Gewöhnlichen nicht versinken solle, und selbst die Verdammnis, von der in den religiösen Gesprächen der Verwandten viel die Rede war, konnte mich nicht mehr unglücklich machen.

Das hier Angeführte gibt ganz gewiß gefühlsmäßig Richtiges jener himmlischen Liebeserfahrung wieder, die mich mitten in meinen Fegefeuersnöten beglückte. Nur daß ich den Namen Dante weder gehört hatte, noch also mir aus einem ähnlichen altgeheiligten Fall den meinigen zu erklären vermochte. So versuchte ich überhaupt irgendeine Erklärung nicht, hätte sie auch niemand, nicht einmal mir selbst zu geben vermocht. Mir würde dazu jedes Mittel gefehlt haben. Die bloße Beschreibung meiner Zustände ging über mein damaliges Mitteilungsvermögen weit hinaus.

Im Gefolge dieser Vita nuova, die allerdings eine unstillbar verzehrende Sehnsucht in sich schloß, richtete sich mein Ehrgeiz auf. Er war immer da, aber nach seinem halben Erwachen auf Lohnig wiederum, wie nach dem ersten Breslauer Schultag, ohnmächtig. Eine Abart davon freilich, wenn auch in verkümmertem Zustand, lebte noch. Eine Art Ingrimm war seine Grundlage. Ich hätte gewünscht und wünschte es brennend, doch hoffnungslos, besonders Tante Auguste und Tante Elisabeth die Geringschätzung heimzuzahlen, die Verachtung zu vergelten, die sie immer noch mir gegenüber an den Tag legten. Hatte ich doch noch beim Begräbnis des kleinen Vetters Georg gespürt, wie ihre Augen mit Kopfschütteln auf mir ruhten, weil sie sich nicht enthalten konnten, den Ratschluß Gottes unbegreiflich zu finden, der jenem den Lebensfaden abgeschnitten und mich, den Hoffnungslosen, am Leben erhielt.

Um sie zu demütigen, immer tiefer und tiefst zu demütigen, geriet ich in wahrhaft ausschweifende Vorstellungen von Glanz und Erfolg hinein.

Der Zustand war peinlich, war ungesund. Der neue, in dem sich ein anderer Ehrgeiz freilich auch nur in Wünschen und Träumen auslebte, hatte den kindlichen Engel und mein Liebeswerben um ihn zum Gegenstand: ein göttliches Ziel, das unzählige Male in der blühenden Märchenwelt meines Innern erreicht wurde.

Bald ritt ich als fahrender Ritter in goldener, bald in schwarzer Rüstung aus, um jeden niederzuwerfen, der meiner glorreichen Herrin nicht huldigen wollte. Auch Bilder aus verflossenen Kriegszeiten tauchten auf, glänzende Reiterregimenter, wobei die Gardekürassiere, deren stolze Umzüge ich in Breslau erlebt hatte, obenan standen. Ich gehörte dazu nicht gerade als Regimentskommandeur, aber doch als Rittmeister, der sich im Kriege besonders mit Ruhm bedeckt hatte. So ritt ich am Hause der Geliebten vorbei, die mir beglückt, ja begeistert zunickte und deren Ja mir nun sicher war. Weil ich mich so ganz einem Zustand der Schwäche verfallen wußte, war es Kraft und wiederum Kraft, was ich mir andichtete. Etwas, das ich nicht überwand und der Gebenedeiten zu Füßen legen konnte, gab es nicht: Königreiche, Juwelen, Gold, Schlösser, Sklaven, fremde Vögel, Gewänder aus Scharlach und Hermelin.

Es war eine schwere Prüfung für mich, als eines Tages mein gnädig-gnadenloses Idol entschwunden war. Doch erhielt sie bald in meinem Innern eine zweite Gegenwart, die ihre wirkliche Abwesenheit verbarg. Das Gnadenbildchen herrschte in mir. Sie mußte ja schließlich doch heranwachsen. Ich überredete mich, zu glauben, daß ich nach höchstens zehn Jahren um sie werben und sie zu der Meinigen machen würde. Wieso ich etwas so Unwahrscheinliches annehmen konnte, weiß ich nicht. Mein augenblicklicher Zustand bot weniger Aussichten als mancher frühere, den ich durchlebt hatte. Mein geistiges Vermögen reichte nicht an die Zeit meiner Kindheit hinan oder an jene, in der ich die Meininger Truppe gesehen und hernach vieles von Shakespeare, Schiller und Kleist in mich aufgenommen hatte. Als mir Pastor Gauda den Herder gleichsam aus den Händen nahm und ich Chamisso lieben gelernt hatte, war ich, verglichen mit heut, ein ganz anderer gewesen: geweckt und hell und nicht von schläfrigen Dünsten verfinstert.

Gewissermaßen von Vergangenheit und von Zukunft losgerissen, lebte ich ohne Zusammenhang. Breslau, die Schule, die Familie Gauda, die Familie Mehnert, die Familie Weigelt waren nicht mehr. Mit allen Lichtern und Schatten des Breslauer Lebens waren Shakespeare, Kleist, Schiller, Chamisso, der Zirkus und was sonst unter die Schwelle des Bewußtseins gesunken, gleichsam begraben von einer undurchdringlichen Erdenschicht. Nicht einmal mein Bruder Carl war für mich noch unter den Lebenden. Wie ein Nachtwandler schlich ich dahin.

 

In diesen fieberhaften Wechsellichtern meiner Aprilzeit, darin Regen, Hagel und Finsternis mit blauem Aufleuchten und stechenden Sonnenblicken abwechselten, wurde meinem Gemüt durch ein gänzlich unerwartetes Erlebnis noch überdies ein harter Stoß versetzt. Eines Sonntags hatte mich mein Weg in die Felder zwischen Lohnig und Dromsdorf geführt, wo mir einige junge Burschen begegneten. Ich traute meinen Ohren nicht, als sie mir klar und deutlich die Worte »Das ist der verfluchte Menschenschinder!« nachschrieen. Einen Zweifel, daß sie mich meinten, gab es nicht, da weit und breit außer uns niemand zu sehen war. Dem Anruf folgten die üblichen Drohungen.

Es waren Verheerungen, die dieser mir zunächst unbegreifliche Schimpf bei meiner Zerflossenheit und meinem Kleinmut in mir anrichtete. Ich hatte mich zu fragen, wie ich zu einem so schrecklichen Ruf unter der ländlichen Bevölkerung kommen, so viel Haß auf mich ziehen konnte. Und wenn ich fand, daß ich eine solche Schande wirklich verdient hatte, so blieb mir nur noch übrig, auf den Rest von Selbstachtung zu verzichten, der mir noch geblieben war, und, trotzdem mein Vater Feigheit darin sah, aus der Welt zu gehen.

Nun wurde mir freilich klar, daß mein übler Ruf mit meinen Versuchen, einem gewissen Schlendrian auf Dominium Lohnig zu steuern, und mit meinem Frühaufstehen in Lederose zusammenhing. Was in Lohnig geschah, entsprang schließlich einer gesunden Tatkraft auf dem naiven Grunde von Unerfahrenheit. Meine Lederoser Praxis, die vor allem doch wohl über meine eigenen Kräfte ging, war Folge eines von meinem Lehrherrn geschürten übereifrigen Pflichtgefühls, da ich ja doch einen Großknecht ersetzen sollte.

Der »Menschenschinder« wurmte mich. So stark war der Schrecken, der Schmerz und der Gram, den ich empfand, daß ich aus keiner noch so reinen Absicht heraus mich je wieder im Leben einer solchen Verkennung aussetzen wollte. Ich wollte kein Fronvogt, wollte kein Arbeitstreiber, kein Aufpasser und kein Großknecht ferner sein, und wenn ich noch so sehr darüber meine Pflicht versäumen sollte. Kein schroffes befehlendes Wort sollte fortan über meine Lippen gehen.

Es war ein Damaskus, was ich erlebt hatte. Es riß mir einen Abgrund auf. Es genüge nicht, dachte ich, einen Gedanken einseitig zu verfolgen, man müsse ihn möglichst allseitig berücksichtigen. Zugleich erkannte ich die empfindlichste Seite meiner Natur, besann mich auf die Hauptmannsche Menschlichkeit, deren Lob manches einfache Weiblein und Männlein in Salzbrunn vor die Ohren von uns Brüdern gebracht und uns somit im Wohltun befeuert hatte. Das natürliche Großknechtideal war ja übrigens auch in der ehrgeizträchtigen, glanzvollen Traumwelt um Beatrice Schütz fast verblaßt und konnte in peinlich ernüchterten Augenblicken höchstens noch als Popanz auftauchen.

 

Noch vor Pfingsten kamen Tante Auguste und Tante Elisabeth zu Besuch.

Das mit ihnen in Lederose Erlebte hat zwei sehr verschiedene Höhepunkte, von denen der eine immerhin bewies, daß ich noch über Reste gesunder Kräfte verfügen konnte, während der andere eine rätselhafte Erfahrung war, die mir in dem buckligen Täntchen Auguste mit der langen, spitzen Nase, dieser Leserin von Thomas a Kempis und Tholuck, einen diabolischen Zug offenbarte.

Der erste Höhepunkt war ein Streit, der entstehen mußte, als die Damen bei Tisch auf das Darlehen zu sprechen kamen, das sie meinem Vater gewährt hatten. Sie seien, sagten sie – und der Gedanke ging von Tante Elisabeth, der jüngeren, aus –, damit überrumpelt worden. Diese Überrumpelung käme einer Erpressung gleich, mein Vater habe schlecht an ihnen gehandelt.

Daß sie ungefähr so dachten, wie sie sprachen, vermutete ich, daß sie aber diese empörende Rücksichtslosigkeit besaßen, einen abwesenden Vater in Gegenwart seines anwesenden Sohnes dermaßen anzugreifen, empörte mich. Wie konnten sie glauben, ich sei erbärmlich genug, das stillschweigend einzustecken, den Anwurf auf meinem Vater sitzen zu lassen?! Mit heftigen Worten sprang ich auf und verließ mitten während der Mahlzeit den Tisch, ohne dahin zurückzukehren.

 

Ich glaube, Auguste hatte sich eine recht selbständige Art von Frömmigkeit zurechtgemacht. Bei Menschen suchte ihr männlicher Geist, wie mir vorkam, keinen Halt, während Tante Julie die Verbindung mit einer apostolischen Autorität, einem Superintendenten, Pastor oder Zinzendorfschen Heiligen, immer nötig hatte. Eher war es bei ihr umgekehrt. Man suchte ihren Bannkreis, ihr Gespräch in diesen Kreisen, weil man für die Belehrungen des sonderbaren alten Mädchens nicht unempfänglich war.

Es muß eines Sonntags gewesen sein, die Morgenandacht lag hinter uns, in welcher irgendein Kapitel der Heiligen Schrift vorgelesen, ein Gesangbuchlied gemeinsam gesungen, das Vaterunser gebetet und schließlich vom Onkel der Segen gesprochen worden war. Das Lied begleitete Tante Julie auf dem Harmonium. Mit Tante Auguste allein im Zimmer, brachte ich das Gespräch auf einen gewissen Umstand, den ich bedauerte, daß nämlich Tante Julie nur noch Harmonium und nie mehr Klavier spielte. Ich hätte leider seit jener Zeit, als Georg gestorben und ich im Schubertschen Hause sei, nur Choräle und wieder Choräle gehört.

Tante Auguste saß mit einer Handarbeit nicht weit vom Klavier. Sie trug das immer noch dunkle Haar zurückgestrichen, mit einem schwarzen Samtband überm Scheitel und von einem Netz gerafft. Ihr Kleid aus braunem Seidenstoff war überdeckt mit kleinen Blumen, die Röschen sein konnten. Ein schwarzer Herrenschlips schloß es oben an der Halsgrube ab über vielen geraden Fältchen, die überm schwarzen Gürtel zusammenliefen. Sie verdeckten ihre brettflache Brust. Selbstverständlich, daß der Rock, wie bei diesem Zeitkostüm üblich ist, bis auf die Erde ging und bei großer Stoffülle Falten zeigte.

Auf ihrem schiefen, zurückgebliebenen und, wie gesagt, mit einem kleinen Verdruß behafteten Körper saß ein unverhältnismäßig großer, ausdrucksvoller Kopf, der nicht durch die lange, spitze Nase, sondern durch unter der Brille scharf prüfende Augen und geprägte Züge bedeutsam wurde. Schmale Lippen hatte der im Schweigen stets fest geschlossene Mund, dessen herabgezogene Winkel plötzlich aus tiefstem Ernst in tausend Schärfen, bittere Ironien, ja sogar in alle erdenklichen Humore überspringen konnten.

Tante Auguste sah niemals wie ein Engel aus. Sie konnte an eine Knusperhexe erinnern. Das tat sie jetzt, als sie mit den langen Fingern ihrer rechten Hand die Brille hob und mich forschend anstarrte. Ich sagte: »Tante, du spielst ja doch auch Klavier. Würdest du mir nicht das Vergnügen machen und mir – ich hungere darnach – etwas vorspielen?«

Sie konnte ein Lachen hören lassen, das wie »Hääähäää!« und durchaus nicht gerade melodisch klang. Mit diesen Lauten erhob sie sich, tat den Schritt ans Klavier, befreite die Klaviatur, nahm Platz und sagte: »Ich will's versuchen.«

Musikalische Naturen, die außerdem einen produktiven Sinn haben, verlieren sich am Klavier. Auguste geriet ins Phantasieren, aber, um gleichsam die Weihe des dem Totenkultus gewidmeten Hauses nicht zu verletzen, benutzte sie von den Pedalen nur das dämpfende. Ich weiß, daß ich von ihren Läufen, ihren Harmonien und sich auflösenden Disharmonien, ihren Melodien und Rhythmen hingerissen war. Meine Augen wurden durch ihre beseelten dürren Hände mit den Spinnenfingern festgehalten.

Sie bemerkte das, wie es schien, und plötzlich gab sie mir einen fast unmerklichen Wink mit dem Kopf, der mich veranlassen sollte und auch veranlaßte, meinen Stuhl an ihre rechte Seite und dicht an die Klaviatur zu rücken. So sah ich, wie ihre Finger noch einige Zeit in den Bässen und mittleren Lagen herumhuschten und dann zu mir in den Diskant flatterten. Und hier wurden plötzlich geradezu betörende Klänge laut, deren Wirkung auf mich die Hexe mit dämonisch schillernden Augen von meinem bestürzten Antlitz zu lesen nicht müde wurde. Ich lauschte und schaute, schaute die Tante, schaute noch mehr ihre verzauberten Hände an, die wie Geister in ihrem Dienst diese verführerische Musik ausführten.

Das Erlebnis war groß trotz äußerer Geringfügigkeit. Ebenso die drei Entdeckungen: jene, die ich an Tante Auguste machte, jene, die ich an der Musik machte, und die an mir. Unmöglich das Wunder zu beschreiben, dessen Zeuge ich sein durfte und das mir als solches, wenn auch nicht seinem Gefühlsinhalt nach, während eines langen Lebens unverloren geblieben ist.

Eine ähnliche Erschließung eines Bereiches seelisch-sinnlicher Wonnen, unerwartet und jäh wie diese, ist mir nie wieder zuteil geworden. Eine Erklärung dafür habe ich nicht. Meine Mutter erzählte mir einmal die Legende von dem jungen Mönch Petrus Forschegrund, einem Novizen, der eines Tages aus seinem Kloster verschwand und nicht zurückkehrte. Hundert Jahre später pochte an die Klosterpforte ein fremder, junger Novize des gleichen Mönchsordens, der, eingelassen, sich vor Staunen und Befremden nicht zu fassen wußte, weil er weder den Abt noch irgendeinen der Patres und Fratres mehr antraf, die vor hundert Jahren gelebt hatten. Er heiße, sagte er, Petrus Forschegrund, habe vor kaum einer halben Stunde das Kloster verlassen und sich nur deshalb ein paar Minuten versäumt, weil ein kleiner Vogel im Walde so überaus köstlich gesungen habe. Der Abt überlegte, man forschte nach und fand, daß wirklich ein Petrus Forschegrund vor hundert Jahren verschollen war. Da wußte der Abt: Petrus war einer großen Gnade gewürdigt worden. Er hatte ein Vöglein aus dem Paradiese singen hören, dabei waren ihm hundert Jahre im Nu vergangen.

Diese Erfahrung würde keine sein, wenn in ihr nicht ein irrationales, völlig eigenartiges und völlig unerklärliches Element, ganz außerhalb der allgemeinen, ich möchte sagen legitimen Verzauberung durch Musik wäre. Sie trennt sich davon durchaus in meiner Erinnerung. Sie ist mehr, weit mehr, und hat, wie gesagt, sich nicht wiederholt.

Die Möglichkeit dieser Verzauberung wäre wohl ohne die innerlichen Gärungen der Epoche, in der ich stand, vor allen Dingen aber ohne meine kleine Beatrice als Vorstufe, nicht gegeben gewesen. Wie aber wußte das alte Knusperhexchen Auguste, die sich kaum um mich zu kümmern schien, daß es so und nicht anders mit mir stand?

Sie hatte mir mit einem hämischen Lachen mit der Schlüsselgewalt einer Päpstin Johanna die Pforte zum Paradiese aufgemacht und sie mit dem gleichen hämischen Lachen wieder zugeschlagen, so daß ich nun erst wie ein Verstoßener außen stand.

 


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