Gerhart Hauptmann
Das Abenteuer meiner Jugend
Gerhart Hauptmann

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Einunddreißigstes Kapitel

Bald saß ich mit andern Prüflingen Seite an Seite gequetscht hinter den zerkerbten Pulten einer Schulstube. Wir hatten Feder und Schreibheft mitgebracht. Auf dem Katheder saß ein baumlanger, mißgelaunter Mann, der mit kurzen, bellenden, unverständlichen Lauten Befehle austeilte. Er schien uns weniger als brave Jungens und Kinder deutscher Eltern, sondern mehr – der Mensch ist böse von Jugend auf! – als geborene Verbrecher zu betrachten. Wir begriffen noch kaum, was geschehen sollte, als er nach dem Kommando »Aufschreiben!« bereits eine Menge Aufgaben wie aus einem Schnellfeuergeschütz über uns Dummköpfe geschleudert hatte. Die meisten hatten nicht folgen können. Man half sich, indem man sich gegenseitig um Auskunft bat.

Plötzlich bekam der lange Mensch einen Wutanfall. Oh, dachte ich, wer mag wohl der arme Junge sein, dem wahrscheinlich jetzt der Kopf abgerissen wird? Indem ich aber nach dem armen Opfer Ausschau hielt, wurde ich selbst am Kragen gepackt, aus der Bank gerissen und an die Wand geschleudert, wo ich zum erstenmal in meinem Leben, und zwar ohne eine Ahnung zu haben warum, vor allen diesen fremden Jungens am Pranger stand.

So litt ich nicht nur aus diesem Grunde, sondern weil ich zur Untätigkeit verurteilt war, während die andern für ihre Aufnahme fieberhaft arbeiteten.

 

In einem von Eltern und Schülern dicht gefüllten Raum wurde ich nach Schluß des Examens aufgerufen und von Schuldirektor Klettke mit den allgemein hörbaren Worten »Du bist noch ein sehr, sehr schwacher Sextaner!« in die Realschule aufgenommen. Ich schämte mich dieser öffentlichen Rüge, die ja, wo sie gerechtfertigt war, einen unverschuldeten Zustand betroffen hätte, aber zugleich triumphierte ich, weil ich dem Vater eben doch das »Angenommen« melden konnte.

 

In Wirklichkeit war es ein falsches Bild, das man vom Stande meines Wissens und meiner allgemeinen Reife gewonnen hatte. Die neuen Eindrücke der großen Stadt, der gewaltig drohenden Schulanstalt dezentrierten mich. Der Wirrwarr der Massen ließ mich nicht zur Besinnung kommen. Die Verprellung aber durch Doktor Jurisch in der ersten Schulviertelstunde nahm mir zwei Drittel meiner Kraft. Sie hat bewirkt, daß ich in der Schulmaschinerie, solange ich ihr überliefert war, nur eine feindlich zermalmende Macht und durchaus keine Alma mater sehen konnte.

 

Die ersten Jahre meines Breslauer Daseins kamen einer Verbannung gleich. Wenn ich aber auch bei meiner übernormalen Heimat- und Elternliebe, in einen Zustand der Ausgestoßenheit versetzt, in einer lieblosen Atmosphäre an alledem darbte, was mir Lebenslust bedeutete, so nahm ich doch, bitter leidend, nicht im Sinne der Schule, sondern meistens außerhalb der Schule, auf Schritt und Tritt neu belehrende und die Vorstellungswelt bereichernde Eindrücke auf.

Die Haupt- und Residenzstadt Breslau traf eben Anstalten zu jenem gewaltigen Aufschwung nach dem Kriege 70/71, der ihre damals schon große Einwohnerzahl vervielfältigen sollte.

Widerwillig und langsam wuchs ich in sie hinein. Aber nach und nach mußte ich doch ihre Merkwürdigkeiten und altertümlichen Schönheiten empfinden lernen. Mein überall lebhaft suchendes Auge und mein doch selbstverständlich geweckter Geist konnten daran nicht dauernd vorübergehen.

Da waren zunächst die herrlichen Kirchen von St. Magdalenen und St. Elisabeth, die mehr als der Dom auf der Oderinsel das Wahrzeichen der Stadt bildeten. Sie drängten sich nahe an den Ring, das uralte Zentrum der Stadt, der den schönsten gotischen Profanbau, das berühmte Rathaus, umgibt. Von hier gingen viele enge Gäßchen aus, darunter die von jüdischen Trödlern bewohnte Stockgasse. Das jüdische Leben war weder vom Ringe noch von der Schweidnitzer Straße hinwegzudenken. Weniger trat es in den Stadtteilen zwischen Ring und Oder hervor, wo sich parallel zu dem Fluß die Kupferschmiedestraße erstreckte. In diesen Stadtteilen, die am meisten noch Mittelalter atmeten, beim Gabeljürgen oder den alten Fleischbänken, hielt ich mich am liebsten auf. Sie waren mir etwas Heimisches, während ich, eben doch wohl der Gotik irgendwie verwandt, schon durch einen Barockbau wie die Universität mich erkältet fühlte.

Ich habe mich oft gefragt, warum ich mir in der ersten Breslauer Periode so verlassen erschienen bin und bis zur Verzweiflung unglücklich war. Ohne hierauf besonders zu antworten, weiß ich heut, daß ich in einem katholischen Breslau es niemals gewesen wäre. Mir fehlte die Seelsorge. Was in mir darbte und bis zum Verschmachten ohne Nahrung blieb, war das Gemüt. Offene Kirchen mit ihrer heiligen Messe und ihrem Olymp von Halbgöttern wären den Bedürfnissen meiner Phantasie entgegengekommen. Die Priesterschaft mit ihrem Kult der unsterblichen Seele hätte mich vor dem späteren völligen Niederbruch meines Selbstbewußtseins wahrscheinlich bewahrt.

Der deutsche Sieg durch das preußisch-potsdamsche Prinzip führte dazu, in ihm das einzige Heil zu sehen und es möglichst überall zu verstärken. Die Schulen mit ihren Reserveoffizieren als Lehrern spürten die erste Wirkung davon. Der Schüler mußte sich darauf einstellen.

Wenn der Lehrer die Klasse betrat, schnellten die Knaben von den Bänken und standen so lange steif und stramm, bis das Kommando »Setzen!« in schneidigem Tone erklungen war. Die Art, wie vom Katheder herunter gelehrt wurde, glich genau der Instruktionsstunde beim Militär; und wenn Jurisch mit bellender Stimme Religionsunterricht erteilte und über dies und das aus den Evangelien Fragen tat – »Wie sagt Paulus? Was spricht der Jünger Johannes? Was lehrt Jesus in der Bergpredigt?« –, so zog er den Schüler gleichzeitig, falls dieser um eine Antwort verlegen war, an der zartesten Stelle des Ohrläppchens in die Höhe, so weit, wie es grade noch gehen wollte, ehe es riß. Einfache Worte, gütiges Wesen, freundliche Unterstützung des Schülers waren als Sentimentalität verpönt. Sie galten als weichlich, sie galten als unmännlich. Der hinter den Pädagogen Stehende, unsichtbar Maßgebende war nicht Lessing, Herder, Goethe oder Sokrates, sondern der preußische Unteroffizier.

Hier, in der Schule, sah ich mich einem Etwas gegenüber, das man vielleicht mit einer sprechenden Wand vergleichen könnte.

Aber diese Wand, gleichsam mit Schießscharten ausgestattet, war jederzeit gefahrdrohend. Eine Übermacht, gegen die es keine Berufung gab, war verschanzt dahinter. So sah ich damals die Situation.

 

Carl und ich bewohnten ein gemeinsames Zimmer in einer Schülerpension der Kleinen Feldstraße. Sie lag im dritten Stock eines verwahrlosten Mietshauses. In einigen Tagen wurde es klar: aus Dielenritzen, Tapetenlöchern krochen, rannten, sprangen Flöhe, Schwaben und Wanzen hervor. Von zerquetschtem Ungeziefer und eigenem Blut sprenkelte sich mein Bettlaken. Schwaben und Wanzen schwammen im Waschwasser. Ich begreife noch heute nicht, wie der ehemalige Oberamtmann, der die Pension unterhielt, mit seinen gebildeten, klugen Töchtern zusehen konnte, wie sich diese Schülerunterkunft in eine Brutanstalt für jede Art Ungeziefer verwandelte.

Etwa dreißig Schüler, vom Sextaner bis zum Primaner, waren in den Zimmern der Pension zusammengepfercht, manche der kleinen, niedrigen Räume mit fünf Betten bestellt, so daß Carls und meine klägliche Unterkunft geradezu eine große Begünstigung darstellte. Ein zweisitziges Schreibpult am Fenster und zwei uns gehörende eiserne Bettstellen waren neben einem Waschständer ihre Ausstattung.

Das Dasein hier, wie das ganze Breslauer Dasein überhaupt um jene Zeit, war für Leib und Seele gleich ungesund: Pensionslärm, Hader der Schüler nach dem Aufwachen, bei hygienisch unmöglichen Zuständen und dem Ungeziefer, verdorbener Luft, Ausdünstungen zusammengedrängter Körper.

Hiernach der Weg mit dem Bücherpack durch die lärmige Stadt in die lärmige Schule, wo man unter Spannungen aller Art fünf Stunden meist sitzend und angstschwitzend zubrachte; der Heimweg wiederum unter der Bücherlast. Zwei Stunden für Mittagessen und Schularbeiten: Lärm, Gespräche, Neckereien, Prügeleien, allerlei Schabernack. Abermals Schulweg, lärmige Schule; Heimweg, Abendessen und bei der blakenden Petroleumlampe unter Wanzen und Schwaben Schularbeiten.

Noch ist zu bedenken, daß Breslau im Sommer ein tropisches, im Winter ein sibirisches Klima hat.

Was Wunder, wenn ich im Schlaf nunmehr die einzige Wohltat des Lebens sah und die ärgste Marter im Aufwachen!

Ich hatte zunächst keinen Sinn für das Leben mehr, weil die Bedingung meiner Wesensentfaltung und damit mein Wesen selbst mir genommen war. Ich fühlte mich sinnlos und willenlos in einem so oder so hin und her bewegten Strome von Menschen treibend, von Wirbel zu Wirbel fortgerissen. Mir sausten die Ohren, schmerzte der Kopf, und ich wußte in meiner Bestürzung nicht, wo das hinauswollte.

Mein eigenwilliges, glückliches Naturell, das sich im großen ganzen anspruchslos in Licht und Luft unter freiem Himmel entfaltet und bewahrt hatte, würde man damals vergeblich in mir gesucht haben. Nicht einmal ich selber wußte noch etwas davon. Womit ich zu ringen hatte, ununterbrochen zu ringen hatte, war das mir überall unentsprechend Häßliche, das sich sintflutartig an- und aufdrängende exaltierte Menschentum unter den Zöglingen und den von Affekt zu Affekt fortgerissenen Männern, denen alle Macht über uns gegeben war.

Früher konnte ich mich meiner Mutter und meinen Freunden mitteilen, stundenlang war mir vergönnt, mit mir allein zu sein. Ich hatte wohl eine Sorge hie und da, behob sie und durfte mich wieder frei fühlen. Hier aber kamen zehn Bissen Sorge auf einen Bissen Brot, und das war wohl keine erziehliche Tatsache.

Am ärgsten fiel ins Gewicht, daß es weder eine leibliche noch eine geistige Ruhe gab. Die freien Stunden füllte die Befriedigung der unumgänglichen Notdurft des Körpers aus, Schularbeiten und Schulwege, und was davon übrigblieb, entbehrte bei meiner seelischen Gebrochenheit des Aufschwungs durchaus.

Die Eltern glaubten das Rechte zu tun, wenn sie uns beide zusammen und mich gleichsam in die Hut meines älteren Bruders taten. Carl saß bereits in der Tertia. Er war herzensgut, er war brüderlich, übrigens aber ein Nervenbündel, das unter denselben erregenden und ständig aufpeitschenden Umständen wie ich selber litt.

Er hatte es sicherlich schwer mit mir, der ich es ganz gewiß nicht leicht mit ihm hatte.

Zu Anfang gab er sich alle Mühe, mir Mut zu machen, mir soviel wie möglich beizustehen. Doch er hatte mit sich selbst zu tun, seinen eigenen Aufgaben, seinem eigenen Fortkommen. Bereits in die lichteren Regionen der Schule aufgerückt, konnte er sich von dem Inferno keinen Begriff mehr machen. Ich kann es mir heute nicht vorstellen noch erklären, daß ich den Aufgaben meiner beschämend jugendlichen, beschämend läppischen Mitschüler nicht gewachsen war, angeblich selbst das Sextanerpensum in einem ganzen Jahr, auch nicht in zweien bewältigen konnte. Aber nach den Ansichten meiner Lehrer war es so. Ich durfte mein Leben in dieser Zeit, so war ihr Beschluß, immer nur in der letzten oder vorletzten Bank zubringen.

Die dauernde Erniedrigung dieses Zustands, den ich zunächst nur als einen kläglichen Mangel meiner Natur hinnehmen mußte, hing ähnlich einem unsichtbaren Grabtuch über mir, durch das die Sonne nur manchmal hindurchdringen konnte. Es lag eine ähnliche Verschleierung über meinem Gemüt wie sommers bei klarem Himmel und glühender Sonne über der Stadt, wenn der Essenrauch der Fabriken unbeweglich darüber lagerte.

Ich sah in den mir aufgedrängten Verhältnissen eine Nutzlosigkeit, eine Sinnlosigkeit, die mich heimlich zu einem einzigen, einem verstockten Protest machten.

Bald gab mein Bruder es auf, mir zu helfen. Unser Zusammenleben nahm für uns beide quälende Formen an. Fragte ich ihn bei der Schularbeit, so leistete er, bei der eigenen gestört, widerstrebend und ungeduldig Beistand, was mich wiederum reizte und aufbrachte. Immer wieder brach ich in weinenden Jähzorn der Verzweiflung aus, und es kam nicht selten vor, daß ich seine und meine Schreibhefte, Tintenfaß, Feder, und was immer von dem verhaßten Schulmaterial zu fassen war, in die Ecke schleuderte.

Lag ich übermüdet abends zu Bett, störte mich seine brennende Lampe, und ich tobte dawider, um nicht auch noch um die wenigen Stunden des Vergessens betrogen zu sein, während ich mich am Morgen, wenn er mich weckte und zum Schulgang mahnte, eigensinnig und wütend gegen das Aufstehen wehrte. Unser Zusammenleben nahm immer ärgere Formen an, wobei Prügeleien, die sich in den Salzbrunner Jahren nie zwischen uns ereigneten, gewöhnlich wie das tägliche Brot wurden.

 

Weder unter Lehrern noch unter Schülern genoß ich damals Sympathie oder hatte gar einen Freund. Unter den Insassen der Pension ebensowenig. Weder der Oberamtmann noch seine Töchter würdigten mich eines freundlichen Worts oder Blicks.

Die Sonntage brachten Lichtpunkte und ein kleines wöchentliches Taschengeld, das sie verschönen konnte.

Man verließ etwa um neun Uhr früh mit einigen Kameraden das Haus in der Kleinen Feldstraße, bewegte sich ein Stück durch die Große Feldstraße, überquerte den Stadtgraben, bog schlendernderweise in die Promenade – sie lief neben dem Stadtgraben unter schattenspendenden Bäumen her –, erreichte den durch den festlichen Kuppelbau gekrönten Hügel der Liebichshöhe, einen städtischen Aussichtspunkt und Vergnügungsort, und erquickte sich in dem Atrium, wo ein Springbrunnen plätscherte, an einem Glas Selterwasser mit Himbeersaft. So genoß man das dolce far niente, sonntäglich ausstaffiert, um später bei Fleischermeister Pietsch zu landen und sich an den damals berühmten Pietsch-Würstchen zu delektieren, von denen das Paar zehn Pfennige kostete. Uns den Appetit für das Mittagessen zu verlegen, fürchteten unsere immer hungrigen Mägen nicht.

Hätte man an die Schularbeiten gedacht, man würde auch diese bescheidene Morgenfreude nicht ohne Gewissensskrupel und Sorge genossen haben. Aber der Schularbeit und der Sorge gehörte schon wieder der Nachmittag.

 

Immerhin enthüllte sich das Breslauer Stadtbild mehr und mehr an solchen Sonntagen und prägte sich mit Bauten, Plätzen, Straßen und Gassen und deren Namen dem Gedächtnis ein. Auch das landschaftlich Schöne entpuppte sich: so die Oder, der schöne Strom, stille Gegenden an der Ohle, in der ich mit Carl zuweilen badete.

Auf der Oder unter der Ziegelbastion zogen die dort verankerten Flöße mich an mit den an Wespennester gemahnenden Hütten der sogenannten Wasserpolacken. Stundenlang konnte ich sie beobachten. Wie sie die beinahe ins Wasser gebauten Schlafstellen auf ihren aneinandergekoppelten Baumstämmen trocken hielten, begriff ich nicht, ebensowenig, wie sie das Reisigfeuer, über dem sie ihre Suppe kochten, ermöglichten.

Hier konnte ich das Elend meines mir nun einmal widersinnig erscheinenden Daseins, ähnlich wie im Schlafe, vergessen. Ich wurde einer der Ihren, wenn ich den Hantierungen dieser Flößer zuschaute, und wandte mich seufzend sozusagen ins eigene Schicksal zurück, wenn ich, aus der Versenkung erwachend, leider wieder ich selbst wurde.

 


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