Gerhart Hauptmann
Das Abenteuer meiner Jugend
Gerhart Hauptmann

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Viertes Kapitel

Ich wurde der ganzen Schule merkwürdig. Es war ein Kampf um mich entbrannt und eine Spaltung sichtbar geworden. Viele, die mich früher verhöhnt und gemieden hatten, drängten sich nunmehr an mich heran. Auf alle Fälle hatte ich ja, wie sie sahen, mich durchgesetzt, wenn es auch fraglich war, ob man mich in den Schulkonzern wieder aufnehmen würde.

Ausgeschlossen, durfte ich auch den Vorlesungen von Professor Schultz nicht mehr beiwohnen. Die Pause zwischen der ersten und zweiten Stunde pflegte der Kunsthistoriker bei Haertel im Atelier zuzubringen. Um diese Zeit fanden sich gewöhnlich James Marshall und Architekt Rhenius, Junggeselle und eleganter Lebemann, bei uns ein, auch wohl dieser und jener mit Haertel befreundete Breslauer Künstler. Es wurde geraucht und debattiert.

Eines Tages, als sich diese Gesellschaft besonders zahlreich versammelt hatte, sagte Haertel plötzlich zu mir: »Man hat mir gesagt, daß Sie eine recht nette kleine Dichtung verfaßt hätten. Lesen Sie uns doch mal was vor!«

Mein Erstaunen war groß, denn ich hatte wirklich nicht angenommen, daß sich etwas dergleichen ereignen könne. Noch heute wüßte ich nicht zu sagen, wer Haertel diesen Gedanken gesteckt haben mochte. Möglicherweise mein Mitschüler Max Fleischer, der sich in letzter Zeit dem Kreise um Hugo Schmidt angeschlossen und einer Vorlesung der zwei oder drei Gesänge meines »Hermannsliedes« beigewohnt hatte. Er war wohl der einzige, dem man es zutrauen kann.

Auf der Drehscheibe meines dreibeinigen Modellierstuhles stand ein Muskelmann. Ich hatte die Hände sinken lassen, das Modellierholz weggelegt, fühlte wie immer den harten Einband meines Oktavbüchelchens in der Brusttasche und war entschlossen, mich nicht zu zieren, falls Haertel seinen Wunsch, meinen poetischen Versuch zu hören, wiederholen sollte. Ungefähr drückte ich ihm das aus.

Die Herren waren sehr aufgeräumt. Ein heiter-ironisches Zwischenspiel wurde von Schultz mit erhabenen Vergleichungen, in denen der Name Tasso fiel, von James Marshall durch Witzeleien bestritten. Rhenius fügte besänftigende Äußerungen des Mitleids ein und nahm Anlaß, mir ermutigend auf die Schulter zu klopfen. »Ut desint vires, tamen est laudanda voluntas!« sagte er.

Nun trotzdem, es kam plötzlich etwas Musisches in den Raum. Die Vögel sangen im kleinen Vorgarten. Die Statue Dürers war enthüllt und blickte geruhig auf mich herunter. Das war, ich begriff es sofort, ein vielleicht gottgesandter Augenblick, ganz ausdrücklich für mich beschlossen. Die hochmögenden Herren und Richter aber waren wohl auch für die glücklichen Gegebenheiten an Raum, Stunde und schöner Identität mit großen musischen Ereignissen der Vergangenheit nicht unempfindlich. Sie fügten sich gern dem schönen Schein, ob er auch bald durch das Fiasko eines blutigen Anfängertums, einer Versündigung am Geiste der Poesie, zerstört werden mochte.

Nimm alle Kraft zusammen, die Lust und auch den Schmerz!
Es gilt uns heut, zu rühren des Königs steinern Herz!

Dies ungefähr drückt mein Empfinden aus, als ich mein Oktavbüchelchen aufgeschlagen in der Linken hielt, mit der Rechten die Platte des Modellierstuhls gefaßt hatte, mich räusperte und zu lesen begann.

Da wurde es still, stiller und blieb auch still, nachdem der letzte Hall meines letzten Wortes, von den Wänden des hohen Ateliers zurückgeworfen, verklungen war.

War ich selber der Urheber dessen, was jetzt vor sich ging? War meine Dichtung der Begeisterung würdig, die sie auslöste? Möglich, daß sie nur der Art meines Vortrags galt. Möglich auch, daß schon ein Mittelmäßiges unerwartet und also überraschend kam, weil man ein Nichts oder eine Lächerlichkeit voraussetzte. Dann hätte ich den Beifall, der mich umgab, einer Urteilsüberrumpelung zu verdanken. Eine andere Erklärung schwebt mir vor. Meine menschliche Gegenwart, mein Vortrag, mein Gedicht, die außergewöhnliche Art, die mich in einen Wirbel von Konflikten gezogen hatte: dies alles hat zusammengewirkt, um meinen Hörern im Nu einen Begriff meines Wesens zu geben. Mein ganzes Sein wurde aufgeschlossen, die Zukunft wie die Vergangenheit. Und so war ich allerdings von dem Verhalten der Herren der wahre Urheber. Aber eben in meiner Ganzheit war ich es und nicht durch Dichtung und Vortrag allein.

Es war mehr als eine bloße Erfahrung, deren die Herren gewürdigt wurden. Was sie erlebten – veni, creator spiritus! –, war ein schöpferischer, ein genialer Augenblick.

Ich aber erlebte die mir unumgänglich nötige große Bestätigung, gleichsam des Gottes unsichtbar bejahendes Kopfnicken.

Platoniker, als der ich geboren bin – man wird als das auch geboren, sagt ein Philosoph –, ward ich an diesem Tage zusammen mit meinen Hörern in das Bereich der reinen Formen emporgehoben. Dort trafen wir uns und reinigten uns. Aber die Kraft, meine Protektoren von der Erde zu lösen und dort hinanzubringen, lag in mir. Das war die Erkenntnis, die mir geschenkt wurde.

Haertel und Marshall rannten umher. Der Kunsthistoriker Schultz war der ruhigste. Er nickte nur mit dem Kopf. Rhenius tobte vor meinen Ohren: »Und solch einen Menschen wollen die Esel hinausschmeißen!« – »Ein Dichter von Gottes Gnaden! Ein Dichter von Gottes Gnaden! Ein Dichter von Gottes Gnaden!« wiederholte Marshall immerzu. Haertel aber, dessen unbegreifliches Vertrauen zu meinen dichterischen Gaben keinerlei Unterlagen gehabt hatte, schritt wie ein Triumphator, brummelnd und Zigaretten qualmend, in seinem Studio hin und her oder stand wohl auch still und schüttelte die Faust gegen die Decke, als ob er über irgendwen, vielleicht den Direktor, das Jüngste Gericht herabrufen wolle.

 

Am folgenden Tage war ich zum ersten Male ein berühmter Mann. Die Kunstschülerinnen – es gab auch solche – umschwärmten mich. Ich mußte in ihre Stammbücher einschreiben. Einige unter ihnen waren schön. Man fragte mich, wann und um welche Tageszeit ich am besten dichte, ob ich rauche, Tee oder Kaffee trinke, kurz, die Kunstschule hatte in diesen Tagen keinen Schüler, berühmt wie ich.

 

So hatten wir uns denn viel zu erzählen, Carl und ich, als wir um Pfingsten in Sorgau zusammentrafen. Er war, wie ihn sein Bild gezeigt hatte. Alma mater, die ernährende, segenspendende Mutter der Weisheit, hatte ihn an die Brust genommen und mit olympischem Feuer gesäugt. Seine Augen sprühten davon, Begeisterungsflammen brachen gleichsam aus seinem Munde.

Wir schwelgten im Glück des Zusammenseins. Die Verschiedenheit unserer Naturen, die uns manche Stunde der Breslauer Zeit getrübt, ja verfinstert hatte, war in einer glühenden Bruderliebe, einer enthusiastischen Gemeinsamkeit untergegangen. So ganz anders mein Erlebnis auf der Kunstschule auch war als das des Bruders auf der Jenenser Universität, beide Erlebnisse wurden durch begeisterte Schönfärberei fast in ein und dasselbe zusammengeschmolzen.

Es fiel mir nicht ein, den Bruder in mein Leiden und Ringen einzuweihen, ihm von den schweren Verwirrungen und Verirrungen, von den tiefen Schatten zu sprechen, die meinen Weg manchmal bis zur Ungangbarkeit verfinstert hatten: hätte ich doch damit nur das herrlich leuchtende Phänomen getrübt, von dessen überschwenglichen Wirbeln ich mich ja doch mit tausend Freuden fortreißen ließ.

Carl hatte nur Frohes zu berichten.

Da war erstens ein neuer Freundesbund. Johannes Walther, Duisberg, Plarre – Plarre, Duisberg, Johannes Walther: diese Namen wurden, unzählige Male gesprochen, meiner Seele eingeprägt. Was Plarre studierte, weiß ich nicht; Walther war Geolog und Duisberg Chemiker. Die Gestalt Ernst Haeckels tauchte zum erstenmal vor mir auf und damit das, was die Legende von Adam und Eva umgestoßen hat und unter dem Namen des Darwinismus noch heut die christliche Welt skandalisiert. Rudolf Eucken, der Philosoph, wurde nicht ohne kritische Glossen geschildert, obgleich er als Redner und Freund der Studenten die Jugend entzückte und an sich zog. Das alles kam aus einer glücklichen Welt, in der man weitaus unbeschwerter atmen konnte, als es in dem Ringen mit der Materie um die künstlerische Gestaltung möglich war.

Carl hatte in Jena ebenfalls mancherlei Kämpfe gehabt, aber nur solche, bei denen er Beweise von geistiger Überlegenheit geben konnte. Dem Präsiden eines Korps, das ihn anwerben wollte, hatte er auf der Kneipe in längerer Rede deutlich zu Gemüte geführt, warum er in eine solche Verbindung nicht eintreten könne. Das Haupt sei der Träger der Vernunft. Es beherberge alles, was den Menschen über das Tier erhebe, ja noch über sich selbst hinaus, und er denke nicht daran, sein Gesicht und seine Gehirnschale auf Zwangsmensuren den Hieben von Schlägern und Säbeln auszusetzen. Ebensowenig lasse er sich zum Fuchsen eines Burschen erniedrigen: an der hohen Stätte, wo sich Geist zur Freiheit erheben solle, sei eine solche Knechtschaft Widersinn. Ebenso das zwangsweise Trinken, das auf Kommando Bierhinabstürzen, wodurch der Geist, statt befreit, gelähmt werde und der Körper, in ähnlicher Weise wie der Kopf durch Säbel und Rapier, ruiniert.

Das mutige Bekenntnis zur eigenen Wesensart, wie es den Bruder immer auszeichnete, machte ihn in Jena auffällig, erwarb ihm Feinde, mehr aber noch Anhänger. Diese hatten sich zwanglos mehrmals um ihn zusammengefunden und über allerhand Themen der Philosophie und Naturwissenschaft diskutiert. Daraus war ein Verein geworden, in dem er den größten Einfluß besaß, obgleich er das Präsidium ablehnte. So begann er mit Protest und Reformation. Er bewegte sich auf dem fremden Boden, als ob er von je dort zu Hause sei.

Welches Ziel sich der Bruder gesteckt hatte, ergab sich noch nicht. Ebensowenig war ihm ein Ringen anzumerken, sondern nur Wohlgefühl, Lebensfreude und Glaube an stürmischen Aufstieg und herrlichen Sieg.

Er liebte und verehrte bereits alle berühmten, besonders die älteren Lehrer der Hochschule. Er kannte genau ihre Lebensgewohnheiten, regelmäßigen Spaziergänge, ihre Eigenheiten und Seltsamkeiten. Karl von Hase, der freie wissenschaftliche Theologe, wurde genannt, den Carl ganz besonders verehrte, und mancher andere. Die damals noch altväterisch bequemen Verhältnisse Jenas kamen zur Sprache, die Gasthäuser, in denen ein braver Student sich buchstäblich ohne Geld durchfüttern konnte, wenn er sich nur verpflichtete, seine Schulden zu bezahlen, sobald er erst einmal in Amt und Würden sei.

Natürlich schlug auch die Nähe Weimars in Carls Berichte hinein, da von dort aus noch die fortlebende Seelenwärme Goethes in die berühmte Universitätsstadt herüberdrang. Hatte sich doch überdies ein sehr wesentlicher Teil seines Lebens und Wirkens in Jena vollzogen.

Der hohe Flug unserer brüderlichen Geister wurde durch den mächtigen Saal, Wartesaal dritter Klasse, unterstützt, der uns fast ganz allein zur Verfügung stand und darin wir stundenlang auf und ab schritten. Keiner der Züge hatte ja mehr als zehn Minuten Aufenthalt, und die kurze Menschenüberschwemmung, die jeder brachte, wurde sofort wieder eingesogen.

Damals waren wir beide die innigsten Freunde. Ich glaube nicht, daß von vielen eine so beglückende Gemeinschaft der Seelen erlebt worden ist. Obgleich mein Streben scheinbar anders gerichtet war, trafen wir in dem Ziel zusammen. Und hier, bei den hallenden Gängen längs des spiegelblanken, schwarzen Marmorbüfetts, auf dem eine rote, bauchige Porzellanlampe stand, war es, wo ich zum ersten Male den Namen Platon vernommen habe. »Platon! Platon! Platon!« wiederholte immer wieder das Echo im Saal, und ich weiß noch genau, wie mich bei Carls bedeutsamem Privatissimum olympisch-feuriges Leben durchrieselte.

Der junge Jenenser Ordinarius Rudolf Eucken spielte für Carl gewissermaßen die Rolle des Sokrates. Ich selbst habe später Eucken gehört. Wenn er auf dem Katheder stand, so konnte er wie Sokrates von sich sagen: er sei von Dithyramben nicht sehr entfernt. Und was uns, Carl und mich, betrifft, so paßte auf uns ein anderes Wort des Sokrates, wonach der Satz, daß Wahnsinn schlechthin ein Übel sei, nicht zutreffe; denn unsere größten Güter seien einem Wahnsinn, freilich einem von den Göttern verliehenen, zu verdanken.

Etwas von diesem göttlichen Wahnsinn hatte sich in der Bahnhofshalle, diesem symbolischen Wartesaal, auf uns niedergesenkt.

Sokrates würde in uns zwei echte Schüler erkannt haben. Wir spürten seine Aura um uns. Es hätte uns kaum gewundert, wäre er durch eine der scheppernden und donnernden Glastüren eingetreten. Er würde sich an das schwarze Büfett gelehnt und sofort mit Fragen begonnen haben. »Nun also, mein lieber Phaidros, nun also, mein lieber Charmides . . .« Kurz, wir waren nicht in Sorgau, wir waren in Griechenland. Der Eros zum Schönen war in uns lebendig geworden.

Irgendwie nahmen auch meine Eltern teil an unserer fortreißenden Euphorie und Eudämonie. Sie hatten uns lieb, spürten den Aufschwung in uns und wurden von unserer festlich frohen Erregung mitgenommen. Die lächelnd erwärmte Teilnahme meiner Mutter verlor dennoch nicht ganz einen nachdenklich sorgenvollen Zug.

Während diese heißen und goldglänzenden Böen der Jugend über uns hingingen, lag über dem Schicksal meines ältesten Bruders, Georgs, Dunkelheit. Carl und ich wußten nur ungefähr, daß er krank gewesen, aber nicht, wo er danach geblieben war. In Wahrheit wurde insgeheim von Mathilde Jaschke an seiner Zukunft gearbeitet, da sich das goldene Herz nun einmal das Glück der ganzen Familie Hauptmann zu begründen in den Kopf gesetzt hatte. Wieder war es das gleiche Vergnügen, wenn die Adoptivtante und Schwester Johanna für ein Kaffeestündchen von Salzbrunn herüberkamen, wo denn auch Carl und ich uns ganz ins Familiäre zusammenzogen und um die Wette mit Johanna und Thildchen Jaschke Seifenblasen steigen ließen. Da hieß es etwa: »In vier Wochen ist die letzte Ziehung der Sächsischen Lotterie, oder auch der Preußischen Lotterie. Wenn wir nun mit dem Großen Lose herauskommen?« Oder Mathilde sagte: »Einem Manne wie Georg muß geholfen werden. Jedes Mädchen, das ihn bekommt, kann sich gratulieren!«

Hier konnte sich unsere Freundin aufregen.

Wie wäre auch nur die Qualität der meisten Männer mit seinem Temperament, seiner Klugheit, seinem Humor und seiner Herzensgüte zu vergleichen gewesen! Dieser Männer, dieser, dieser . . . – Es fehlten ihrer Verachtung die Ausdrücke.

Und Vater! Was für ein Mann doch Vater war! Hier war es Johanna, die sich wiederum nicht zu lassen wußte. Dieser Respekt, den er allen einflößte, wenn er mit seinem weißen Bismarck-Schnurrbart hinter der schwarzen Marmorplatte stand! Überhaupt diese Bismarck-Ähnlichkeit . . . Es brauchte nicht viel, um Carl und mich in den Familienverhimmelungsrausch hineinzureißen.

Wenn Vater da war, verbot es sich.

Hielt ich das Wintererlebnis in seiner verwickelten Ganzheit sogar vor Carl geheim, so natürlich erst recht in diesem Kreis. Es würde wahrscheinlich Entsetzen erregt haben.

Man hatte mich am letzten Tage vor den Ferien wiederum feierlich in die Kunstschule aufgenommen. Ein kurzes, von beiden Seiten freundlich geführtes Gespräch mit dem Direktor, Baurat Lüdecke, war vorausgegangen. Er freue sich, waren seine Worte, daß die Berichte, die zu meinem Ausschluß geführt hätten, sich zu seiner Genugtuung zum Teil als mißverständlich, zum andern als übertrieben erwiesen hätten. Nicht ganz ohne Rührung schüttelten wir uns zur Versöhnung die Hand.

Da nun einmal dieses glückliche Ende erzielt worden war, konnte man am Ende dem Kitzel nachgeben, wenigstens den Gipfel dieser einigermaßen peinlichen Umstände zum besten zu geben mit dem Triumphe als Krönung, den mir der Vortrag des »Hermannsliedes« im Atelier des Professors Haertel gebracht hatte.

 


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