Gerhart Hauptmann
Das Abenteuer meiner Jugend
Gerhart Hauptmann

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Fünftes Kapitel

Der Gasthof hatte im Winter etwas Vergeistertes. Das Leben seiner sommerlichen Daseinsform durchspensterte seine winterliche. Die Korridore, die einzelnen Logierzimmer, die Säle, die Küche, die Waschküche waren von den Schatten der Gestalten belebt, die im Sommer darin gehaust hatten. Manchmal, etwa wenn nächtlicher Novembersturm das Haus umbrauste, stand ich plötzlich wie angewurzelt in einem der ausgestorbenen, finsteren Flure still, weil, wie in einem hellen Blitz, das Sommerleben des Hauses auflärmte: Wagengerumpel, Eimergeklirr, Kinder- und Kutschergeschrei im Hof, in den Sälen Tellergeklapper und dumpfes Gesumm, Menschengewimmel auf der Straße, polnische Juden mit Pajes und Rockelor, Lärm, Lärm und wieder Lärm! Alles nur einen Augenblick: dann heulte Finsternis um die Mauern.

Wie furchtsame Schafe drängten wir Kinder uns zusammen: wir hatten etwa in Numero Neun ein fürchterliches Husten gehört. Es war das Logierzimmer, in dem ein Lungenkranker vor Jahren gestorben war. Oder von irgendeiner leeren Stube aus wurde nachts die Schelle gezogen: Furcht und Grausen schüttelte uns. Solche Vorfälle wurden meist nicht aufgeklärt.

Mein Vater liebte Nachtlichte. Ein solches kleines, knisterndes Lichtwesen, das auf einer Ölschicht in einem Glas Wasser schwamm, hatte die trostlose Aufgabe, den Weg durch den eisigen Kleinen Saal zur Privatküche sichtbar zu machen. »Gerhart, geh doch mal! Gerhart, hole doch mal!« hieß es in den behaglich durchheizten Wohnzimmern. Dann mußte ich wohl oder übel in den Bereich des Nachtlichts hinaus, der hohen Fenster, erblindet durch Eisblumen, des Saals mit den frierenden Rembrandtbildern an der Wand, mußte mir Mut machen, mußte hindurchjagen, mußte durch die leere Hotelküche, die nach rostigem Eisen roch und wo der Wind Häufchen Schnee auf den kalten Herdplatten jagte, drehte und wirbelte.

Aber wir wären nicht Kinder gewesen, wenn nicht der Kobold in uns auch dieser Drangsal eine lustige Seite abgewonnen hätte. Meine Schwester Johanna ging uns hierin voran. Es handelte sich um das von Kindern so gern geübte Erschrecken. Einer von uns überwand seine Furcht und versteckte sich in der Finsternis. Kam der Beauftragte dann in Sicht, etwa langsam oder furchtsam vorschreitend, so schlug der Versteckte wohl mit einem Stock auf ein Möbelstück, was der Furchtsame mit einem Schrei und Flucht beantwortete. Oder der Beauftragte flog wie gehetzt von Eingangstür zu Ausgangstür, und diese wurde von außen zugehalten. Er rannte zurück, fand, daß auch die Eingangstür verriegelt war, und sah sich den grinsenden Bilddämonen an der Wand und allen möglichen Ängsten preisgegeben.

Fast möchte ich es als Glück meiner Jugend bezeichnen, daß sich unser Dasein nur im Winter zu einem echten Familienleben einengte: im Sommer trat an seine Stelle für mich eine überaus glänzende Vielfalt immerwährender Festlichkeit.

In der zweiten Hälfte des Monats April zogen Hausdiener und Zimmermädchen auf. Das große Reinemachen begann. Die hohen Glastüren des Großen Saals, durch die man eine Terrasse betrat, wurden weit aufgesperrt, desgleichen die Fenster des Kleinen Saals und aller Logierzimmer. Man trug die Matratzen an regenfreien Tagen vor das Haus, wo alsbald Schleußerinnen und Hausknechte unter lauten Späßen und Gelächter die Ausklopfer schwangen. Der ganze Ort widerhallte davon. Es wurden dabei manche Namen gerufen von Leuten, die nicht durchaus beliebt waren, wodurch die Schläge schneller und kräftiger niederknallten.

Des Ungeziefers wegen wurden inzwischen die Fugen der Bettstellen mit Petroleum abgepinselt. In den Fenstern standen die Mädchen halsbrecherisch, wuschen die Scheiben und rieben sie trocken. Oder der Schrubber herrschte, und die Dielen schwammen in schmutzigem Wasser. Überall roch es nach Seife und nassen Hadern, und die milden Lüfte des Frühlings drangen ins innerste Innere des Hauses ein.

Ich empfand dies alles als etwas Beglückendes, wälzte mich auf den Matratzen herum oder berauschte mich zwischen den allerlei Polstermöbeln, die man ebenfalls, um sie auszuklopfen, in den vorderen Ziergarten gebracht hatte. Der Reiz des Ungewöhnlichen, Sessel und Sofas zwischen Gartenbeeten zu finden, versetzte mich in Begeisterung.

Eines Tages hatte dann der Gasthof zur Preußischen Krone zu seiner eigentlichen Bestimmung zurückgefunden. Die Lungen seiner Fenster bewirkten gesundes Ein- und Ausatmen. Durch seine hellen, wiederum sehenden Augen ergoß sich Licht und spülte aus allen Winkeln die Finsternis. Die Zimmer glänzten vor Wohnlichkeit. Die Kerzen in den silbernen Leuchtern trugen frische Manschetten. Von Kellnern wurden Gläser geputzt. Frau Riedl, genannt die Mamsell, war eingetroffen. Sie hatte hinter einem Büfett vor der Küche ihren Stand, um, wenn es so weit war, die Speisen von dort den Kellnern weiterzureichen. Die Küche, in die nun der Koch eingezogen war, erschien heiter, hell und gar nicht mehr fürchterlich. Lorbeer, Palme, Zypresse und Feigenbaum, alles in Kübeln, schmückten die Außenwand und so die Terrasse vor dem Großen Saal. Die Vögel lärmten in den Anlagen. Einige gedeckte Tische waren im Garten aufgestellt.

Krause wusch seinen Omnibus, während um ihn die Schwalben schrillten, die in den Ställen und Unterm Saal zu Neste trugen. Sandberg stand vor der offenen Ladentür und weidete sich an seinem Schaufenster, in dem er die Schnittwaren neu geordnet hatte. Im Eingangsraum des Gasthofes hatte ein Bijouteriehändler seine Auslage.

 

So war die Krone aus ihrem Winterschlaf erwacht, hatte ihre Wiedergeburt, ja ihre Auferstehung gefeiert, sich gewaschen, geputzt und Festkleider angelegt. Und nun mußten die Kurgäste kommen, die den Vorteil von alledem haben und bringen sollten. Denn die alte Krone war nicht nur eine Glucke, die winters ihre Flügel über uns hielt, sondern sie legte auch goldene Eier.

Eine Persönlichkeit, die immer wieder besonderen Eindruck machte, war der jeweilige Koch. Man nannte ihn allgemein den Chef. Ein solcher Chef nahm mich, solange ich klein genug dazu war, sooft er konnte, auf den Arm, und ein Name, den er mir gab, Pflaumenfritze, ist mir in Erinnerung. Er trug mich nämlich jedesmal in die Speisekammer und ließ mich in einen Sack gedörrter Pflaumen hineinlangen.

Ein andrer Koch, ein junger Mensch, der mich ebenfalls auf den Arm genommen hatte, ist mir erinnerlich und ein niedlicher Vorgang, der die ganze Küche erheiterte: der lustige Chef nahm mit den Fingern frisch gekochte Spargel von einer Platte, tauchte die Spitzen in Butter und ließ sie mich abbeißen, der übriggebliebene Stengel flog zum offenen Fenster hinaus.

Frau Milo hieß eine Kochköchin, die neben dem Chef wirkte. Auch sie nahm mich eines Tages – etwa dreijährig mochte ich gewesen sein – auf den Arm. Da fiel mir auf, daß irgend etwas an ihr befremdlich hervorragte. Ich hatte den Begriff einer weiblichen Brust noch nicht, so klopfte ich mit der Hand auf den unbegreiflichen Gegenstand und stellte die Frage, was das wäre, worauf die ganze Küche vor Lachen fast außer sich geriet und Frau Milo dunkelrot im Gesicht wurde.

Vom Arme irgend jemandes aus sah ich zum erstenmal die wohlgeordnete Speisekammer vom Dachrödenshof. Das war ein benachbartes Haus, das mein Großvater Straehler, der Brunneninspektor, gebaut hatte und in dem er mit zwei unverheirateten Töchtern wohnte.

Das Interesse der Köche und ähnlicher kinderlieber Menschen setzte aus, als ich älter geworden war und zur Schule ging. Es wäre mir auch nur lästig gewesen.

Ein Wildling wie ich fürchtete Zwang von allen Erwachsenen. Wo ich nur konnte, mied ich sie. Die bloße Berührung durch einen von ihnen war mir unleidlich.

 


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