Gerhart Hauptmann
Das Abenteuer meiner Jugend
Gerhart Hauptmann

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Vierundvierzigstes Kapitel

Von Zeit zu Zeit ging ich mit Onkel Gustav in das nahe Dorf Lederose. Dort, an der Straße, gegenüber dem Hoftor seines neuerworbenen Bauerngutes, wurde für ihn und die Tante ein Wohnhaus errichtet. Der Maurermeister aus Großbaudiß, der es baute, stand Onkel und Tante nahe durch schlichte Güte und Frömmigkeit. Mit einer gewissen innerlichen Feierlichkeit bemühte er sich um ihr Refugium. Es war ein solches, in das sie sich, jedes mit seiner unheilbaren Seelenwunde, verbergen wollten. Aber Gustav Schubert tat es in dem unabwendbaren Frieden seines Glaubens mit einer bewundernswerten Heiterkeit. Er lebe gern, sagte er, da jede Stunde, jeder Tag ihn seinem in Gottes Hut befindlichen Kinde näher bringe.

Es war nicht ganz ohne Humor, wenn der Onkel irgendeine persönliche Handarbeit unternahm, um mir ein derbes Zugreifen nahezulegen, wozu er selbst nicht die geringste Eignung besaß. So wendete er gelegentlich Heu mit dem Rechen, verweilte aber allerhöchstens zwei bis drei Minuten bei dieser Tätigkeit. Etwa die gleiche Zeit hantierte er mit der Rübenhacke, womit man den Boden um die Pflänzchen auflockerte. Am Bau in Lederose stellte er sich und mich unter die Handlanger, die sich Ziegel zuwarfen, das sogenannte Ziegelpaschen wurde geübt, in wiederum zwei Minuten entzog er sich dieser Tätigkeit und ließ mich allein zurück unter den Arbeitern.

 

Der Vater von Onkel Gustav war Schullehrer, er selbst ein unendlich gütiger, untadelig rechtlicher Mann, dessen Wesen keiner Härte und keiner Brutalität fähig war. Gegen Ochsen, Kühe, Pferde, Hunde benahm er sich gleichsam völlig abstrakt, immer den gleichen Abstand von ihnen beobachtend. Fahren, Reiten, Jagen reizten ihn nicht. Er hatte nie ein Stück Wild zur Strecke gebracht. Er schien der Natur und dem Landwirtsberufe fernzustehen, obgleich er seine Erfordernisse beherrschte. Mit den eigentlichen Agrariern der Umgegend – und am wenigsten mit dem ins Brutale gesteigerten Typ dieser Art – hatte er keine Ähnlichkeit. Nie wurde er laut, nie habe ich meinen Onkel schelten hören, und doch genoß er überall unter den Arbeitsleuten Autorität.

Die Aussicht auf das Refugium, an dem ich in der Kette der Ziegelpascher bauen half, war für mich keine verlockende. Was dem Ehepaar Schubert Erlösung bedeutete, empfand ich dumpf wie drohende Enge, wie eine Art künftiger Abkapselung, im besten Falle als etwas, dem ich ohne Verständnis entgegenging.

Mittlerweile setzte sich meine Entwicklung innerhalb des Dominiums Lohnig im Verhältnis zur Vielfalt seiner Anforderungen und Erscheinungen fort auf eine vielleicht zu sprunghafte Weise. War ich einmal in den Organismus des Gutes hineingerissen und hatte ich überall keine nur dienende, vielfach eine übergeordnete Stellung inne, so konnte ich auf die Dauer kein bloßer Popanz sein. Mein Selbstbewußtsein hatte sich an der Seite Brinkes mit dem wachsenden Verständnis für meine Arbeit und allerlei kleinen Erfolgen darin wiederhergestellt. Ein unterbundener Zug meines Wesens, die Neigung, auf andere bestimmend einzuwirken, wie es mir als Knaben gegenüber meinen Gespielen gewöhnlich war, trat wieder hervor. Was damals aber gegeben war, erwuchs hier in einem aufgezwungenen Kampf, in dem es die härtesten aller Widerstände zu überwinden galt. Ich hatte, unreif wie ich mit sechzehn Jahren sein mußte, dieses ungleiche Ringen herausgefordert. Nicht ohne alles Rüstzeug, aber ohne alle Erfahrung ging ich gegen die Mächte der Gewohnheit, des Hasses der Unterdrückten und der Trägheit an: Mächte, die ich so nur gegen mich aufstachelte.

Ich glaubte zu erkennen, daß man gewisse Verrichtungen, wenn man sie anders angriffe, in einem Bruchteil der sonst darauf verwendeten Zeit durchführen könne. Es gelang mir zum dumpfen Ärger der alten Arbeiter durch Anfeuern meiner Kinderarmee mit überraschender Schnelligkeit noch vor Ausbruch eines Gewitters Heu in Haufen zu bringen, ich gewöhnte mir das Kommandieren an und wußte meinen Willen, oft einen gewiß recht dilettantischen, allmählich rücksichtslos durchzusetzen. Der Anfänger wollte bereits Reformer sein, wie denn Voreiligkeit in dieser Beziehung meine Schwäche geblieben ist.

 

Dieser Sommer, in dem sich übrigens bei mir der Stimmbruch vollzog und der mich in allen meinen Wesensteilen um und um gekehrt und fast gewaltsam erneuert hatte, endete im Herbst mit einer achttägigen Urlaubszeit. Und diese acht Tage überraschten mich wieder mit einer Fülle verschiedenartig aufwühlender Eindrücke.

Am Morgen meines Urlaubsantritts stand ich um vier Uhr auf, denn ich hatte beschlossen, den ganzen Weg bis Salzbrunn per pedes apostolorum zurückzulegen. Einer von den Hofejungens, über das schulpflichtige Alter hinaus, der sich besonders an mich angeschlossen hatte, erwartete mich, um mich zu begleiten. Der Junge war klug, und ich hatte den Wunsch, ihm bei seinem Fortkommen nützlich zu werden. Es gefiel mir, daß er aus dem Druck und Trott des Hörigendaseins heraus wollte. Wir wanderten viele Stunden lang erst im Dunkel und dann, bis die Sonne im Mittag stand, und Geisler, wie mein Begleiter hieß, mußte mir einen Käfig mit mehreren jungen Elstern nachtragen.

Wir pilgerten über Striegau, wo ich Geisler und mir Kaffee und Kuchen in einer Konditorei gönnte und am Staunen des Jungen mich erletzen konnte, der weder bisher eine Stadt gesehen noch von der Einrichtung einer Konditorei und ihren Leckerbissen einen Begriff hatte. Er kam aus dem Lachen nicht heraus, als er sich Apfelkuchen mit Schlagsahne schmecken ließ, eine Himmelsspeise, an die der kühnste Traum seiner Jugend nicht heranreichte.

Im weiteren ließen wir unter dem klaren Licht der Herbstsonne Dörfer um Dörfer hinter uns; über abgeerntete Felder der weiten Ebene flogen die Herbstfäden. Hatten wir vor Striegau den Streitberg mit seinem Kreuz und seinen Granitbrüchen im Blick, so sahen wir jetzt überall den Zobten, diesen aus dem flachen Gelände steigenden, sagenumwobenen Berg, der mich, in Erinnerung an die mit Schlossermeister Mehnert unternommenen nächtlichen Wagenfahrten, bewog, meine Fabulierkunst vor Geisler glänzen zu lassen: daß im Innern des Berges alte Männer seit Jahrtausenden um einen runden, steinernen Tisch säßen, durch den ihre Bärte gewachsen seien, wurde mir mit Staunen wortwörtlich geglaubt, wenn auch über die Art und Weise, wie das möglich sei, zögernd schüchterne Fragen laut wurden.

Am meisten war ich auf die Wirkung einer großen landschaftlichen Überraschung gespannt, die ich dem empfänglichen Gemüte des Dorfjungen zugedacht hatte. Bei der Stadt Freiburg fangen die Vorberge des Waldenburger Gebirges an. Von dort aus kann man die beiden Kirchen von Nieder-Salzbrunn auf einer langweiligen Chaussee erreichen, die den Freiburger Berg übersteigt, oder aber durch den herrlichen Fürstensteiner Grund.

Wenige Schritte, bevor es beginnt, ahnt man dieses wild und groß geartete Felsental noch nicht, das mit seinem ununterbrochenen Flußrauschen dann plötzlich wie durch Zauber erscheint und mit sagenhafter Großartigkeit überwältigt.

Geisler war, ich fühlte es, im Anblick all dieser ans Unwirkliche grenzenden Naturwunder, insonderheit des aus schwindelnder Höhe herniedergrüßenden Schlosses mit seinen Türmen und Söllern, ganz klein geworden. Ihm verschlug es das Sprechen, ihm und mir. Ja, es überkam uns etwas wie Furcht am Rande des durch Blöcke heftig brausenden und schäumenden Bachs im Dunkel der Felsenenge und andererseits etwas von den Gefühlen heiliger Scheu, wie sie der Eintritt in einen Dom verursacht.

Nicht nur von Natur hatte ich den Geist der Romantik in mir, sondern ihn auch aus Uhland, Chamisso, Körner eingesogen. Und jenes Schloß, das sich über die Tiefe der wilden Waldesschlucht erhob, hatte, noch eh ich es kennenlernte, in meiner Vorstellungswelt seinen Platz gefunden. Vorfahren meiner Mutter und zuletzt noch mein Großvater waren, wie schon gesagt, bei den hier residierenden Grafen Hochberg, nun Fürsten Pleß, in allerlei Ämtern tätig gewesen, mein Onkel Adolf war es noch.

Die Burg dieser Herren von Fürstenstein war für mich eine Art Götterburg, und natürlich diente der Mensch den Göttern. Was dort mit Türmen, Erkern, Giebeln und Terrassen heruntergrüßte, war Walhall. An diesem Anblick wollte ich den armen Dorfjungen teilnehmen lassen. Er sollte Walhall sehen. Ich enthob ihn damit, wie ich dachte, seiner dumpfen Niedrigkeit.

 

Eine Stunde später erreichten wir durch einen langen Fußgängertunnel das Plateau des Bahnhofs Sorgau mit seinem Schienennetz. Mitten darin erhob sich ein roter Backsteinbau, der Wartesäle, Verwaltungsräume und Beamtenwohnungen in sich schloß. Dies alles war mir nicht unbekannt, ich hatte es beim Vorüberfahren vom Coupéfenster auch nach und nach entstehen sehen. Hier wohnten nun meine Eltern, hier war ihr neuer Wirkungskreis.

Ich traf meinen Vater hinter einem langen, mit einer schwarzen Marmortafel belegten Büfett, meine Mutter in einer mit Gas beleuchteten, unterirdischen Küche an, in besserer Stimmung als seit Jahren. Die Heimkehr, die neue Umgebung, das mir innewohnende eigene Aufschwunggefühl, das hier unerwartet in einen verwandten Zustand des Familienschicksals münden konnte, gipfelten in einer Art Freudenrausch. Dieses immerwährende Schmettern der Eisenschienen, Zischen, Fauchen und Jagen der Dämpfe aus den Schloten und Ventilen dieser Eisenkolosse von Lokomotiven, das Schreien der Schaffner, Schlagen der Coupétüren, ohrenzerreißende Läuten der Perronglocke rissen mit sich fort und jagten die Trägheit aus dem Blut. Der Gutshof Lohnig und die unabwendbare gewaltige Rhythmik dieses Verkehrsknotenpunktes: Verschiedeneres war nicht auszudenken!

Meine Mutter, während sie mich in der Küche fütterte, äußerte sich über die Annehmlichkeiten des neuen Geschäftsbetriebs. Erstens gehe er in wesentlich gleicher Art durch das ganze Jahr und kenne, anders als diese verwünschten Badehotels, keine tote Zeit. Zu bestimmten Zeiten kämen bestimmte Züge mit ungefähr immer der gleichen Zahl Reisender, die hier soundso lange Aufenthalt hätten und etwa immer den gleichen Konsum. Soundsoviel koste, soundsoviel bringe ein Tag, dabei bleibe es ohne erhebliche Schwankungen, und so brauche man nicht mit Hoffen und Bangen dem Ausfall jeder neuen Saison, jedes neuen Monats, jeder neuen Woche entgegenzuzittern. »Hier kommen wir vorwärts«, sagte sie, »und vor allem, es ist nicht ausgeschlossen, daß wir einmal einen ganz großen Bahnhof bekommen, wo dann wirklich ein Vermögen zu erwerben ist.«

Die einsame Lage des Bahnhofs hatte den Nachteil, der auch der Vorteil war, daß als Gäste nur jenes Publikum in Betracht kam, das die Züge auswarfen. Der Vorteil dieses geschäftlichen Nachteils lag in der ungestörten Stille, die mittlerweile in den Wartesälen herrschte und sie gleichsam zu Privaträumen machte. Noch am selben Tage stellte mich der Vater dem stattlichen, jungen Bahnhofsinspektor Morawe vor, der sich abends an unsern Tisch setzte, wo, wie ich erfuhr, bald dieser, bald jener der vielen Beamten erschien, die immer dies oder das aus ihrem Verkehrsbereich zu berichten wußten.

Der Vater ließ sich von Lohnig berichten. Meine Erzählungen interessierten ihn. Beinah war ich über mich selbst erstaunt, über meine unaufhaltsame Redseligkeit, über die Fülle von Erlebnissen, die sich in mir gestaut hatten und nun sturzbachartig den Damm durchbrachen. Ich kritisierte den schläfrigen, althergebrachten, wie mir vorkam, verrotteten Gutsbetrieb, die Schlaffheit des übergütigen Onkels, dem nie ein hartes Wort über die Lippen kam und der vor seinem Gesinde, vor seinen Taglöhnern eher klein wurde und zu kuschen schien. Ich renommierte, wie ich mir bei den Arbeitern Respekt verschafft, einem gewissen Schlendrian entgegengewirkt habe, leider aber in diesem Bestreben von Onkel Schubert nicht unterstützt würde.

Am zweiten Tage meines Sorgauer Aufenthaltes, einem Sonntag, kam Schwester Johanna mit Tante Mathilde zu Besuch. Wir saßen im kleinen Wartesaal um den Kaffeetisch. Die Sonne schien auf das Porzellan, und wir waren alle recht guter Laune.

Ich erzählte viel, wir lachten viel, und übrigens war ich Hahn im Korbe. Vater hielt den Nachmittagsschlaf.

Es war ein beglückender Kaffeeklatsch, bei dem selbst die ernsten und sorgenvollen Ereignisse der Familie in einem heiteren, hoffnungsfrohen Sinne erörtert wurden.

Tante Mathilde kam auf ihr Lieblingsthema Ägypten und den Afrikareisenden Nachtigal, auf den Kreis der Liebigs in Reichenberg, auf die Stellung, die ihre Freundin Marie von Liebig für sie bereitgehalten hatte, falls sie zum Katholizismus übertrete. Nein! Da geriet sie in heitere Wut: sie hatte ihr gründlich Bescheid gegeben, aber noch mehr, noch weit mehr jenen Patres und Fratres, die das arme Geschöpf in der Hand hatten.

Es wurden viele Pläne gemacht. Man sah sich bereits in irgendeiner schönen, größeren Stadt, Johanna und Tante Mathilde waren zusammengezogen, wir fühlten uns bereits als die glücklichen Inhaber einer neuen Bahnhofspacht an dem gleichen Ort, wozu uns der Staatsanzeiger mit seinen Ausschreibungen helfen sollte, der, zu diesem Zwecke gehalten, zwischen den Kaffeetassen lag. Dieser Bahnhof Sorgau also, diese Plattform mitten im Feld, mit ihren blanken Schienengleisen, die nach Osten, Westen und Nordwesten ins Weite hinausführten, war mehr eine Hoffnung, als er eine Erfüllung darstellte. Die Übersiedlung hatte unsere allzu festen Wurzeln zunächst einmal aus dem Boden gehoben und gleichsam auf die Bahn gebracht. Aber mehr auf den Bahnhof als auf die Bahn. Es war nur eine Zeitfrage, wann uns auf Wartezeit gestellte Wanderbereite ein Zug mit sich nehmen würde. Besonders Johanna, die immer den Himmel voller Geigen sah oder sich so stellte und fortgesetzt die überheblichsten Begriffe vom Werte unserer Familie hatte, erklärte immer wieder, daß dieses Sorgau für uns nur ein Sprungbrett sei, von wo aus wir mit einem gewaltigen Satz mitten in unabsehbare Felder voll großer Rosinen springen würden.

 

Wenige Tage danach war diese berauschende Kaffeestunde leider wieder zu einem verblassenden Märchen geworden, und das entlegene, gänzlich andersgeartete Landwirtsdasein auf Lohnig hatte mich wieder eingeschluckt.

Mit dem Verlassen des Rittergutes und der Übersiedlung in das neue Haus und Bauernanwesen in Lederose begann eine Zeit, die mich derart in mich selbst zurückdrängte, daß ich sozusagen mein einziger Umgang war. Ich war und wurde ganz Innerlichkeit, wobei in Betracht zu ziehen ist, daß ich, in den Zustand männlicher Reife übergehend, zur Verschwiegenheit gedrängt, Entdeckungen über Entdeckungen an und in mir machen mußte.

Brinke, mein Freund und Berufskollege, verließ mit uns allen das Rittergut, aber nur, um irgendwo eine Stellung anzutreten, die der Onkel dem tüchtigen Menschen verschafft hatte. Es war kein kleiner Schlag für mich, diesen reinen und kindlichen Kameraden zu verlieren. Seine freundschaftliche Nähe würde mich vor manchem bewahrt haben, was sich in der Folge auf mein Gemüt legte.

Immerhin, ich bedaure nichts, hat doch das seltsame, dumpfe Wesen, in das ich versank, eine gefährliche Form von Einsamkeit, ja Weltabgeschiedenheit, unzweifelhaft Zukunftswerte besessen.

 


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