Gerhart Hauptmann
Das Abenteuer meiner Jugend
Gerhart Hauptmann

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Vierunddreißigstes Kapitel

Die stärkste Warnung, die einem Menschen widerfahren kann, warnte mich nicht: der arme Pastorsohn Schidewitz wurde dicht an meiner Seite von den vergifteten Wässern hinweggespült.

Wir hatten am Abend den treuherzig-komischen Burschen wieder einmal unter uns. Er aß und trank mit besonderer Hingabe. Am Mittag des folgenden Tages rief mich ein Briefchen seiner Wirtin an sein Krankenbett. Ich traf ihn ohne Bewußtsein im Fieber.

Die Zeit meines römischen Niederbruchs jährte sich, als ich Schidewitz mit aufgesprungenen Lippen, wirre Worte ausstoßend, von hohem Fieber brennend, vor mir sich hilflos im Bette winden sah. Ich glaubte augenblicklich zu erkennen, daß er von derselben Krankheit befallen war wie damals ich. Ich fragte, ob man nicht einen Arzt geholt habe. Es war geschehen, der Arzt erschienen, aber er hatte nach kurzem Anblicken des Kranken nur gefragt, wer die Behandlung bezahlen würde, und, weil man darüber Auskunft nicht geben konnte, die Tür von außen zugemacht.

Ich verordnete kalte Umschläge, legte sie ihm selber mit Hilfe der Wirtin auf und beruhigte sie, als sie nun ihrerseits, den Verlust der fälligen Miete und kleiner Auslagen fürchtend, zu jammern begann.

Irgendwie war es mir möglich, aus den Briefschaften des armen Jungen seinen Heimatort und die Adresse des Vaters auszumitteln, so daß ich einen telegraphischen Notschrei an ihn richten konnte.

Ich sandte die Wirtin nach einem anderen Arzt, sie fand aber keinen, der ihr nach Erkenntnis der Sachlage folgen wollte. Der Abend brachte im Zustand des Kranken eine Verschlimmerung. Leider dachte ich nicht an ein Krankenhaus, als ich den Kranken verlassen mußte. Die Nacht bei ihm durchzuwachen hätte mir den Verstand geraubt. Der Vater käme ja morgen früh, dachte ich und sagte der Wirtin, sie möge für kalte Umschläge sorgen, bis er erscheine und sie für ihre Mühe belohnen werde. Ich selber wolle auch wieder beizeiten zur Stelle sein.

Der Kranke war bereits fortgeschafft, als ich am nächsten Morgen erschien. Etwas Fürchterliches war vor sich gegangen: man hatte Schidewitz im bloßen Hemd auf den Steinfliesen des Hauseingangs aufgefunden. Er mußte im Anfall eines Fieberdeliriums aufgesprungen sein, die eigene Tür und die des Entrees gefunden und aufgerissen haben und dann bei der herrschenden Winterkälte das Treppenhaus drei Stockwerke tief gelaufen, gestürzt, gerollt, zerschunden und halb totgeschlagen unten bewußtlos gelandet sein.

Gegen elf Uhr begaben Schmidt und ich uns ins jüdische Krankenhaus.

Ein junger Arzt erklärte, der morgens eingelieferte junge Mensch sei nicht zu retten gewesen. Man habe ihn, um das Fieber herunterzudrücken, noch in ein kaltes Bad gelegt. Er war tot, hatte ausgelitten und lag in der Totenhalle aufgebahrt. Als man uns fragte, ob wir ihn sehen wollten, bejahten wir.

Nie habe ich einen so furchtbaren Leichnam zu Gesicht bekommen. Kopf und Leib schienen mit verbranntem Schorf bedeckt. Er sah den Mumien ähnlich, die man in Pompeji ausgegraben und deren Form die verkrustete Asche festgehalten hat. Er war dem Inferno Berlins zum Opfer gefallen.

Der kleine Landpastor Schidewitz kam zu mir und bedankte sich. Das Ereignis selbst hat er auf eine seltsam gefaßte Weise hingenommen. Von dem Alten mit großen Lobeserhebungen bedacht, empfand ich dessenungeachtet über mein Verhalten keine Befriedigung. War ich viel besser als jene Ärzte, die den Kranken mit kaltem Zynismus sich selbst überlassen hatten? Sah ich nicht, wie es mit ihm stand und daß man ihn keinen Augenblick unbewacht lassen durfte?

 

Einige Wochen hindurch war ein jeder unserer Abende eine bleischwere Gedenkfeier für Schidewitz. Ohne ein Symbol wie das schwarze Granitkreuz für Georg Schubert in Lederose lastete das schwärzeste »Memento mori!« über uns und gab unserer Trinkstube etwas Grufthaftes. Kein sentimentales »Dein, Herr Jesu!« tröstete uns. Die Tatze, die wir am Werk gesehen hatten, war grausam, grausig und gnadenlos. Der Bravste, zum Entbehren und Darben Willigste wurde – war es zum Lohn oder Hohn? – darüber hinaus noch angefordert und in Höllenqualen lebendig zu Asche verbrannt: eines Pastors liebender Sohn, Sohn eines berufenen Dieners Gottes!

Dieses schwere Erlebnis kam einer äußersten Tiefenlotung gleich, die eine Stelle in meiner Seele wie einen jederzeit zu erweckenden schmerzhaften Grundklang zurückgelassen hat. Lange wurden wir den Duft der Verwesung nicht los, und das Bewußtsein von der unvoraussehbaren Schnelligkeit eines unsichtbaren Nachrichters fuhr fort, uns zu beunruhigen. Heut, Montag, dachten wir, sitzen wir um den runden Tisch, haben Pläne, arbeiten, denken darauf hin, setzen ein langes Leben voraus, hoffen auf Glückseligkeit, Begegnungen mit Freunden und schönen Frauen, und Freitag können wir bereits unter der Erde sein . . .

Es war, als ob wir uns jetzt erst recht ins Leben hineinwühlen, vom Leben nicht eine Stunde ablassen sollten.

»Lasset uns essen, trinken und fröhlich sein, denn morgen sind wir tot!« Es war, als wenn eine Stimme diesen Grundsatz in uns einbohren wollte. Ein dumpfer und finsterer Lebenshunger kam über uns. Er zog uns nicht nach oben, ins Licht, sondern schien uns dem Abgrund zu überantworten.

Der Sohn des Pastors primarius Späth in Breslau besuchte uns, derselbe, den ich als armer Hungerleider oft so sehr beneidet hatte, wenn er sich vor der Kunstschule im Vorgenuß lächelnd die Hände rieb, ehe er sich nach Hause zur wohlgedeckten Tafel aufmachte. In einer Weißbierkneipe des Rosenthaler Viertels fing unser Abend an, er wurde im Zentrum fortgesetzt. Wir gingen dann in die Bodega über, besuchten hernach das Café Keck, später das Riesenbierlokal der Bötzowbrauerei in der Schönhauser Allee, und dann erst, etwa nach ein Uhr nachts, zogen wir über Pankow hinaus ins Freie.

Die Nacht war schwarz, unsere Trunkenheit schwärzer und grausiger.

Die Nachtwächter in den Dörfern paktierten mit uns. Es ging so lange, bis ich die beinahe noch gefüllte Flasche Kognak wie einen Todfeind wütend an einem Prellstein zerschlug.

 

Der Gedanke, Schauspieler zu werden, hatte in mir mehr und mehr Boden gefaßt. Ich wünschte, aufzutreten, gesehen zu werden, schöne Gesten auszuführen und königliche Kostüme zu tragen. Ich wollte den Hamlet spielen, der ich vielleicht auch ein wenig war, aber man sagte, ich spräche zu sehr durch die Nase, und dieser Sprachfehler wäre mir hinderlich.

Ich suchte den Laryngologen Professor Krause auf. Der junge, schon recht namhafte Arzt behandelte mich. Dabei lenkte er seine Aufmerksamkeit nicht nur auf das Innere meiner Nase, wie es schien, sondern auf meine ganze Person. Er wußte nicht, wie ich lebte, er kannte mich nicht. Und doch wußte er es und kannte mich, wie sich herausstellte. Er fragte mich, was ich für einen Beruf hätte. Als ich ihm etwas verschwommen antwortete, sagte er kurz und scharf: »Sie sind also eine verfehlte Existenz!« – Als ich an einem der nächsten Tage wiederkam, hielt er mir eine längere, unzweideutige Ansprache:

»Sie führen ein unverantwortliches Bummelleben, junger Mann! Ihre Gesundheit ist nicht die stärkste, junger Mann! Wenn Sie es auch nur ein halbes Jahr so forttreiben, sind Sie nicht mehr ein junger, sondern ein toter Mann!«

Ich weiß nicht mehr, wie ich auf die Straße gekommen bin, ich sah dicht vor meinen Füßen den Abgrund klaffen. Und doch ist in diesem Winter meine erste epische Dichtung »Promethidenlos« beendet worden.

Jetzt wurde die Hochzeit vorbereitet.

Ein gesunder Mensch war ich damals also nicht. Die schlimmen Folgen des Typhus, hatte mein gefühlvoller kapitolinischer Krankenwärter gesagt, zeigen sich erst in den folgenden Jahren. Hatte ich irgend etwas getan, um dem vorzubeugen? Ich hatte sie eher mit aller Gewalt herbeigeführt.

 


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