Gerhart Hauptmann
Das Abenteuer meiner Jugend
Gerhart Hauptmann

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Einundvierzigstes Kapitel

Ein über mir wachender guter Geist schien die Erlaubnis erhalten zu haben, mir Stufe um Stufe für einen unmerklichen Aufstieg unter den Fuß zu schieben.

Erwachsenen aus dem Bekannten- und Verwandtenkreise meiner Eltern zu begegnen konnte mir meist nur geschehen, wenn ich sie nicht rechtzeitig genug erblickt hatte, um mich zu verstecken. Die erste Frage, die ich in diesem Falle und auch bei neuen Bekanntschaften immer zu hören bekam, war die, in welcher Klasse ich sei. Da ich, wenn auch mit Überwindung, immer die Wahrheit redete, hatte ich jedesmal mit der Antwort mein Urteil gesprochen, weil ja das Mißverhältnis zwischen meinem Alter und der niedrigen Sprosse der Schulleiter deutlich zutage trat.

So stand es um mich, als ich eines Tages auf der Schweidnitzer Straße gänzlich ungewohnterweise durch eine vornehme Dame gestellt wurde. Sie hatte eine hübsche, ebenfalls elegante Zwölfjährige neben sich, die, wie sich ergab, ihr Töchterchen war.

Ob ich der kleine Hauptmann sei?

Da ich dies nicht verneinen konnte, bejahte ich es und setzte hinzu, ich wäre der Jüngste in der Familie.

Die Tochter sagte: »Du siehst, Mama, daß ich mich nicht getäuscht habe.«

»Je mehr ich Sie ansehe«, darauf die Dame, »um so unverkennbarer wird mir ja nun die Familienähnlichkeit.« Und in längerer Rede fuhr sie fort, meinen Vater und meine Mutter zu loben, die allgemeine Achtung herauszuheben, der sich die Familie zu erfreuen habe, insonderheit die musterhafte Erziehung, die uns Kindern zuteil wurde. Es bestand da ein unerwartetes Wohlwollen, das mich überaus angenehm berührte, dessen Quelle mir jedoch dunkel war. Denn der Name der neuen Bekannten, einer Frau Konsistorialrat Weigert und ihrer Familie, war in der Krone niemals genannt worden.

Zum ersten Male in meinem Leben durchdrang mich damals das Wunder über mir schwebender Huld.

Soll ich bei dieser Begegnung verweilen, in der sich die überstiegene Träumerei eines unverstandenen, verachteten, herumgestoßenen Jungen, eines Pariakindes, eines Halfcaste-Buben zu verwirklichen scheint? Ist es nicht so, wenn die vater- und mutterlose Waise, die ich ja in den Breslauer Straßen damals war, sich in die Vorstellung verträumt, daß eine verkleidete Königin ihm begegne oder gar die Mutter Maria selbst, um nicht nur die Niedrigkeit von ihm zu nehmen, sondern ihn vielmehr in ein Schloß, einen irdischen Himmel einzuladen, damit er dort nach Gebühr und Verdienst geachtet, geliebt, ja bewundert sei?

Ward ich nicht wirklich, als die Dame mich einlud, ihr Haus zu besuchen, womöglich am nächsten Sonntag bereits mit der Familie das Mittagsmahl einzunehmen, und als die Tochter diese Einladung voller Anmut herzlich und dringlich unterstützte, plötzlich unter die Götter aufgenommen?

Ich sah mich von oben bis unten ungläubig an, als sich die beiden Damen entfernt hatten.

 

Die Familie Weigelt gehörte den ersten Breslauer Kreisen an. Für die höchsten Spitzen des schlesischen Adels war der Konsistorialrat Respekts- und Vertrauensperson. Er hatte den jetzt regierenden Fürsten von Pleß, Hans Heinrich VII., den damals reichsten unter den Magnaten der Provinz, erzogen, und das Verhältnis zwischen Erzieher und Zögling war zur Freundschaft geworden. Weigelt blieb naher Berater, Mentor und Freund der Familie Pleß. Und demzufolge war seinem Hause der junge Graf und Erbe des Fürstentums, Hans Heinrich VIII., anvertraut, solange er die oberen Klassen des Gymnasiums zu St. Magdalenen besuchte.

Pastor Gauda begriff nicht recht, was ich ihm mitteilte. Die Einladung sei wohl nicht ernst zu nehmen. Bald kam indessen ein Brief an ihn, eigenhändig vom Konsistorialrat geschrieben, der die Einladung wiederholte und ihn ersuchte, mich für den Sonntag freizugeben.

Ich brachte nun fast jeden Sonntag bei Weigelts zu und wurde in einem immer gleichen herzlichen Geiste willkommen geheißen.

Es war der ungefähr mit mir gleichaltrige Konrad Weigelt, neben der einzigen Tochter der einzige Sohn, dem man mich zum Kameraden erwählt hatte. In welcher Klasse ich sei, fragte man nicht. Niemand fragte danach im Weigeltschen Hause. So nebensächlich war dieser Punkt geworden, daß ich nicht einmal weiß, die Bänke welcher Klasse zu drücken damals Konrad beschieden war.

Was wir im ganzen taten, ist schwer zu sagen. Wir schaukelten, wir turnten an Ringen oder Trapez, ich glaube, in einem hinteren Entree. Manchmal produzierte ich wiederum meine primitive Erzählerkunst, wobei meist Bruder und Schwester zuhörten. Der junge Graf Hans Heinrich lud uns zuweilen in sein Zimmer ein, dessen Wände man vor Jagdtrophäen nicht sehen konnte. Der Primaner betrug sich gegen uns Knaben schlicht und wohlwollend.

An Kenntnis der Welt und besonders der höchsten Kreise war Konrad Weigelt mir weit voraus. Er erzählte, der junge Graf sei unfähig, zu leben ohne einen Komfort, den Pensionen gewöhnlichen Sterblichen keineswegs bieten können.

Den Höhepunkt unserer Sonntagsnachmittagsunterhaltung bildete das Theaterspiel. Es ist mir entschwunden, welche Ideen ich damals gehabt und auf der hübschen Puppenbühne, die Konrad besaß, verwirklicht habe. Ich weiß nur, daß manchmal auch die Erwachsenen, und wie mir vorkam, nicht zwangsweise, zusahen und zuhörten.

Nach Jahren erzählten mir einmal die Damen Weigelt mit übertriebenem Lob manche Einzelheiten davon.

Ich werde nicht fehlgehen, wenn ich mein Anregungsmaterial mit den Eindrücken der Meininger, mit Chamisso, mit Theodor Körner, Herders »Stimmen der Völker in Liedern« in Zusammenhang bringe. Ich werde den »Taucher«, werde »Salas y Gomez« und »Das nußbraune Mädchen« deklamiert haben, wie ich denn jetzt meist den Protagonisten vorstellte.

 

Mit einer Reisetasche, die er selber trug, erschien eines Sonntagabends ein hochgewachsener vornehmer Herr. Es war Graf Bolko von Hochberg, Bruder des Fürsten Pleß, der auf der Herrschaft Rohnstock unweit Striegau residierte. Von dieser Persönlichkeit wußte ich damals schon mancherlei. Er war leidenschaftlicher Freund der Musik und hielt ein Quartett, die damals berühmten Hochbergschen Geiger. Die Familie zierte, ich möchte sagen, eine innige Geistigkeit, die sich auch im Religiösen auswirkte. Man rühmte ihre evangelisch-lutherische Gläubigkeit und Frömmigkeit. Graf Bolko von Hochberg galt als überaus wohltätig. Er schenkte zum Beispiel einem armen musikalischen Schullehrer ein Klavier. Sein Gesicht aber wirkte im höchsten Grade abweisend und hochmütig.

Später setzte ihn Kaiser Wilhelm II. über die Hofbühnen. Ich war weit entfernt, zu ahnen, als ich mit ihm am Weigeltschen Abendtisch sitzen durfte, daß wir beide es einmal in tiefem Ernst miteinander zu tun bekommen sollten. Er hatte ein Werk von mir, »Hannele Matterns Himmelfahrt«, im Königlichen Schauspielhaus zu Berlin aufgeführt und dadurch seine Stellung erschüttert.

 

Dieser besonderen Breslauer Zeit entsprach ein Unterstrom von Ereignissen, der in den Ferien jeweilig an die Oberfläche trat. Sie beschäftigten meine Phantasie und bildeten die Objekte meiner Sorgen, solange ich selbst nicht von ihnen mitgerissen wurde.

Es handelt sich hier um Schicksale, Versuche, Aufschwünge und Fehlschläge, die den Endkampf meines Vaters in Ober-Salzbrunn ausmachten. Sie stellten sich mir im großen und ganzen als eine unverständliche Wirrnis dar.

Ich empfand die Epoche als Übergangszeit. Erfolge, die sie mit sich zu bringen schien, stießen bei mir meist auf ein graues, trübes Unbeteiligtsein. Es war, als ob sich mein Schicksal bereits absentiert und von dem der Salzbrunner Scholle gelöst hätte.

Die von mir verschlafene Hochzeit meines guten Onkels Gustav Hauptmann leitete nicht, wie erwartet wurde, eine Epoche gesunden Fortschritts für den armen Stotterer ein. Von dem traurigen Wohnzimmer überm Blauen Saal, das man durch die Küche und über eine Hühnerstiege erreichte, ist die Rede gewesen. Das Ehepaar wohnte nicht lange darin. Das Geld Karl Tschersichs, des Kohlenbauern, setzte den mit dem Gastwirtsgewerbe vertrauten Onkel als Besitzer in den ersten Gasthof der nahen Kreisstadt ein. Er führte den Namen Zum schwarzen Roß und galt allgemein als Goldgrube.

Von Kind auf kannte auch ich das Schwarze Roß in Waldenburg. Bei Schlittenpartien, besonders zu Onkel Adolf nach Görbersdorf, wurde dort Station gemacht und ebenso, wenn die Eltern bei festlichen Gelegenheiten, besonders zu Weihnachten, in den Pfefferküchlereien, Bäckereien und berühmten Wurstläden am Markt, wo ja auch das Schwarze Roß gelegen war, ihre Einkäufe machten. Die Läden in Waldenburg waren berühmt. Die Auslagen der Konfektionäre konnten sich sehen lassen, da es in der Stadt und ringsum außer einer lebhaft konsumierenden Arbeiterbevölkerung viele gutbezahlte Beamte und eine Menge reicher Leute gab.

Der grundgütige Onkel Gustav, lange Jugendjahre hindurch unser Hausgenosse, der uns Jungens, Carl und mir, keine Bitte abschlagen konnte, Besitzer des Gasthofs Zum schwarzen Roß – das war eine Tatsache, die ein junges Gemüt wohl mit einer freudevollen Bestürzung erfüllen konnte. Sie erweckte den Anschein, als ob der Halbbruder meines Vaters sein Glück gemacht, eine gediegene Grundlage für sein Leben erhalten und in ökonomischer Hinsicht ausgesorgt habe.

Für uns lag der stets von Gästen wimmelnde, an Markttagen überfüllte Gasthof, seitdem er dem Onkel gehörte, im Schlaraffenland, was wir selbstverständlich sogleich erkannt hatten. Hatten wir früher, um zwei Paar Würstchen zu essen und einen Schnitt Bier zu trinken, den Vater um ein Markstück ersucht, so durften wir es uns jetzt unter den glücklich ermunternden Augen des freundlichen Wirtes ganz nach Belieben wohl sein lassen, ohne ans Bezahlen zu denken.

Im Schwarzen Roß zu sitzen und, durch gelegentliche Schlucke aus dem vor mir stehenden Glase leicht illuminiert, das Gewimmel um mich zu sehen, das Gewirr der Stimmen zu hören, das Auge durchs Fenster über den belebten Markt schweifen zu lassen war der größte Genuß für mich. Wie der arme Hausierer, das Marktweib, der kleine Kätner, der eine Kuh gekauft oder verkauft hatte, der Referendar oder Amtsrichter, der reiche Weißsteiner Herrenbauer, der wie ein Fürst geachtete Großfabrikant aus Waldenburg oder Altwasser, der Bergmann, der Obersteiger, der berühmte Großschlächtermeister – wie, sage ich, alle diese verschiedenartigen Funktionäre des Kreises in Stadt und Land sich hier durcheinanderschoben, begrüßten, berührten und wieder trennten, konnte ich nicht genug beobachten. Ich empfand und genoß zudem die Spannung, die über allem lag. Das ganze Getriebe war irgendwie gesetzmäßig. Man spürte das Drama, das sich darunter auswirkte, an verstohlenen Blicken, Bemerkungen, heimlichem Lachen und einer Grimasse hier und da hinter dem Rücken eines Eintretenden, kleine verräterische Zeichen, auf die man Jagd machte. Dieses Schwarze Roß war ein natürliches, notwendiges, gesundes gesellschaftliches Organ in höherem Sinne, als die Krone mit ihrem Sommerleben und ihrem Winterschlaf sein konnte. Und darum wurde ich zu jener Zeit von dem derb robusten Leben des Hauses stärker als von dem doch immerhin etwas gekünstelten und flaueren der Krone angezogen.

 

Zwanzig Minuten entfernt vom Zentrum der Stadt und vom Schwarzen Roß liegt der Julius-Schacht.

Mein Vater, der, wie gesagt, in Salzbrunn die Gasanstalt eingerichtet, zeitweilig im Gasthof zur Krone auch ein Leinengeschäft betrieben, den Elisenhof und das Kurhaus gepachtet hatte, griff am Ende sozusagen nach dem Strohhalm eines Kohlengeschäftes, dessen Büro, dicht am Julius-Schacht, täglich von ihm besucht wurde. In den Ferien sah er es gern, wenn ich ihn – er fuhr seinen Zweisitzer mit dem Rotschimmel selbst – dorthin begleitete.

Von diesem Rotschimmel war schon die Rede. Es ist derselbe, den der Zufall wohlbehalten nach dem Kriege wiederum in unsern Stall zurückbrachte, von dem er ausgezogen war. Das mächtige Tier war nun nicht mehr so feurig wie vor dem Kriege, als es mehrmals mit meinem Vater durchgegangen war, der nur zur Not sein Leben gerettet hatte. Ich mußte mit Vater die Post öffnen und war weit mehr als er deprimiert, wenn keine Bestellungen eingingen, mehr als er selbst erfreut, wenn ein oder zwei Waggons von der und der Kohle verlangt wurden.

Bei diesen Fahrten und diesen Aufenthalten am Julius-Schacht war ich sozusagen ins Herz des Industriebezirkes gedrungen. Es ist mir eigentlich rätselhaft, daß ich den mir so vertrauten Bergmann und alles dort Gesehene und Gefühlte nie dargestellt habe.

Frau Enke im benachbarten Elisenhof, die Besitzerin des Luisenordens, war gestorben. Diakonus Spahner, der Erzieher der Söhne und während eines Jahrzehnts Faktotum im Haus, hatte bald darauf eine Pfarre bezogen und sich verheiratet. Die Söhne wurden in alle Welt zerstreut, da ihr überschuldetes Elternhaus unter den Hammer gekommen war und bereits fremden Leuten gehörte. Die neuerrichteten Gurgel- und Trinkhallen der Demuthquellen gingen dem gleichen Schicksal entgegen, wie es hieß, und da eben dies Schwert des Damokles auch über der alten Glucke, dem Gasthof zur Krone, hing, lag hier viel innerlich Morsches, dem Verfall Geweihtes, zusammengedrängt.

 

Die Sprengungen zum Zwecke des Bahnbaus hatten aufgehört, die Arbeiter waren abgezogen, der Bahndamm und die Bahnhöfe Ober-Salzbrunn und Sorgau standen fertig da, und eines Tages kam die Nachricht, der Restaurationsbetrieb dieses letzteren sei, auf den Namen meiner Mutter, meinem Vater übertragen worden. Da nun aber die Krone nominell noch immer im Besitz meines Vaters und da Gustav Hauptmann nicht mehr verfügbar war, mußte für einen Leiter gesorgt werden. Also hatte mein Vater meinen ältesten Bruder Georg aus Hamburg zurückgerufen, die Leitung der Krone in seine Hand gelegt. Verwaltungsaufgaben, Abschlüsse, Abwicklungen und Verwicklungen, Aussichten und Beengungen, Einigungen und Unstimmigkeiten lagen in der Luft.

Tante Auguste und Tante Liesel im Dachrödenshof waren voll Bitterkeit. Sie hatten nur Gift und Galle für meinen Vater. Sie buchten ihr hergeliehenes Geld bereits als Verlust. Über uns hing der Untergang. Sie hatten alles vorausgesehen. Es schrie nun einmal zum Himmel, wie mein Vater all diese Jahre gewirtschaftet hatte: Pferde, Badereisen, teure Schulen und Pensionen für die Kinder, in der Kleidung sinnlose Eleganz und bei alledem in Sachen der Religion, wenn nicht Unglauben, dann doch sträfliche Lässigkeit.

Dagegen strahlte immer das gleiche menschlich wärmende Licht vom Kurländischen Hof, wo Tante Mathilde Jaschke wohnte: so nannten wir sie seit einiger Zeit. Sie hatte es selbst mit den Worten begründet, sie gehöre ja doch zu unserer Familie. Die Neigung, der Beistand eines so lieben und starken Charakters gerade in dieser Zeit für alle Mitglieder unserer Familie muß als ein unschätzbares Gut gebucht werden. Liebe, Glaube, starke Hoffnung, Gewißheit einer schönen Zukunft für uns alle, selbst für mich, gingen von ihr aus und weckten in uns denselben Glauben. War sie bei uns, so atmete alles heitere Beruhigung. Die kleine, rundliche, weitgereiste, anmutig-heitere Dame schien mir die sichere Bürgschaft kommender schönerer Welten zu sein und eine von guten Geistern Beauftragte.

 

In Breslau näherte sich mit sachtem die Osterzeit und der Tag meiner Konfirmation. Die Art, wie mein Vater, wenn er in Geschäften die Hauptstadt besuchte, über die Möglichkeit meines Abgangs von der Schule sprach, ließ mich ernsthaft darüber nachdenken. Beim Kaffee, etwa in der Konditorei von Brunies oder Perini, beide berühmt seit alter Zeit, lenkte er das Gespräch darauf und meinte, daß Onkel Schubert auf Dominium Lohnig mich sehr gern als Landwirtschaftseleven einstellen würde, falls ich geneigt wäre. Den Vorschlag habe er selbst gemacht, und er sei von Tante Julie unterstützt worden.

Es war nicht schwer, zu ergründen, wie dieser Plan entstanden war und welche Umstände, von allen Seiten zusammenschießend, ihn zur völligen Reife gebracht hatten. Der kleine Georg Schubert war gestorben und hatte die Eltern vereinsamt zurückgelassen. Der Verstorbene und ich waren Schwesterkinder und ich, als er lebte, sein bester Freund. Da lag es nahe, mich ins Haus zu nehmen, gleichsam als ein Stück von ihm. Als diese Idee geäußert wurde, mochte mein Vater sie aus zwei Ursachen gutheißen, wovon die eine meine unüberwindliche Abneigung gegen die Schule war, die andere der Umstand, daß ihn mein unentgeltlicher Aufenthalt bei den Schuberts pekuniär entlastete. Ein oder zwei Jahre Landleben, sagte er sich wohl außerdem, würden mich körperlich so kräftigen, daß ich dann vielleicht das auf der Schule Versäumte nachholen könne.

Ich war nach der Oberquinta aufgestiegen, ich war nach der Unterquarta versetzt. In der Magdalenenkirche, zu Ostern, nahm ich in Gegenwart meiner Eltern das Abendmahl und wurde mit dreißig, vierzig anderen kindhaften Menschen konfirmiert. Ich habe nun freie Hand, eröffnete mir mein Vater, ich könne die Schule weiter besuchen oder, falls das meiner Natur so gar nicht entspräche, als Eleve auf Rittergut Lohnig gehen.

Ich wählte sogleich mit Bestimmtheit das letztere.

Ich mußte ins Freie, ich mußte atmen, ich mußte Luft schöpfen. Das war eine Notwendigkeit. Und was hätte mir schließlich verlockender sein können als die Möglichkeit, die sich bot, in die Familie Schubert, die meiner liebsten Verwandten, einzutreten?

Kober, der Schreiblehrer, von den Schülern in Umkehrung seines Namens allgemein Rehbock genannt, trat am letzten Schultage, den ich zu bestehen hatte, in die Funktionen ein, die Dr. Jurisch am ersten ausgeübt hatte. Damals wurde ich niedergedonnert und schmachvoll an die Wand gestellt, also nur moralisch vernichtet. Heute wurde ich aus der Bank an das Katheder zitiert, und Herr Kober schlug mir mit der flachen Hand ins Gesicht. Natürlich blieb mir diese Maulschelle in Erinnerung, war sie doch die erste, letzte und einzige, die ich im Zwinger erhalten habe.

Mein Verbrechen aber, das so gesühnt wurde, bestand in einer Mitteilung, die ich dem Lehrer, nachdem ich mich dazu gemeldet, gemacht hatte. Als er die Schüler für das kommende halbe Jahr nach irgendwelchen Grundsätzen in die Bänke verteilte und bald so, bald so rücken ließ, sagte ich ihm, daß er der Einfachheit wegen mich dabei unberücksichtigt lassen und ausschalten könne, da ich den letzten Tag in der Schule sei.

Er rief mich am Schlusse der Stunde nochmals zu sich, weil er ein schlechtes Gewissen hatte, und fragte mich, ob ich mein Unrecht einsähe. Als ich nein sagte, fügte er eine zweite Frage an: ob er mir einen Klecks in die Zensur machen solle. Das möge er meinetwegen ruhig tun, antwortete ich. Es ist zu bedauern, daß Knaben in solchen Fällen fast immer nobler und klüger als diese Art gernegroßer Schultyrannen sind und, statt Anzeige zu erstatten und sich Genugtuung zu verschaffen, sich mit überlegenem Achselzucken zur Duldung entschließen.

 


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