Gerhart Hauptmann
Das Abenteuer meiner Jugend
Gerhart Hauptmann

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Neunundzwanzigstes Kapitel

Bevor die ernste Stunde erschien, in der Carl uns verlassen sollte, um in Breslau die Realschule zu beziehen, ereignete sich ein Vorfall, der für die Nächstbeteiligten ein niemals aufgeklärtes Mysterium geblieben ist. Darüber sind mein Vater, meine Mutter, Tante Auguste und Tante Elisabeth, ohne die Wahrheit zu erfahren, hingestorben.

Irgendwie kam es einmal in diesem Spätherbst zu einer Landpartie, die in unsrer Kutsche und einem Mietswagen unternommen wurde. Nach stundenlanger Fahrt kamen wir am Ziel, einem entlegenen Dorfe, an, in dessen Kretscham wir einkehrten. Außer meiner Mutter und meinem Vater waren Tante Auguste und Tante Elisabeth sowie Onkel Gustav und Tante Julie von der Partie. Das Ganze gewann an heiterer Lebhaftigkeit, da man Johanna, Carl und mich sowie den kleinen Georg Schubert mitgenommen hatte.

Während die Alten beim Kaffee saßen, hatten wir Jungen in Gärten, Hof und Ställen des bäurischen Anwesens herumgetollt, wobei auch Schwester Johanna wie öfter ihr steifes Pensionswesen fallen ließ. Plötzlich, im Stalle hinter den Pferden, bückte sie sich und nahm einen Gegenstand von der Erde, den sie unterm Stroh entdeckt hatte. Wir andern scharten uns um sie und mußten nun mit Erstaunen und Jubel feststellen, daß sie nichts weniger als einen goldenen Ring gefunden hatte. Er wurde im Triumph dem sich lebhaft unterhaltenden Verwandtenkreise vorgelegt.

Das Kleinod ging von Hand zu Hand, und man stellte fest, daß man einen Trauring vor sich hatte. Man lachte, beglückwünschte meine Schwester mit unschuldvoller Anzüglichkeit, bis plötzlich das verwachsene Täntchen Auguste, die das Ringelchen um und um wandte, ernst wurde. Sie hatte nämlich das Innere des Ringes entziffert und sowohl ein F und ein S wie das Hochzeitsdatum ihrer Eltern, meiner Großeltern, festgestellt. FS konnte Ferdinand Straehler bedeuten, und nach Tag und Jahreszahl wäre es möglich gewesen, den Ring vor sich zu haben, den der Geistliche vor dem Altar meiner Großmutter an den Finger gesteckt hatte.

Aber dies war, wie beide Schwestern vom Dachrödenshof beteuerten, wiederum ein Ding der Unmöglichkeit.

Den in Frage kommenden Trauring hatte der jüngst verstorbene Brunneninspektor seiner im Sarge liegenden Frau vom Finger gezogen. Er wurde von ihm in einer Kassette als Heiligtum aufbewahrt. In feierlicher Gemeinsamkeit hatten dann Elisabeth und Auguste den Trauring des Großvaters, den sie dem Toten ebenfalls abgezogen, zu dem ihrer Mutter gelegt, so gleichsam die Eltern für den Himmel vermählend. Sie hatten das Kästchen mit Sorgfalt verschlossen und bei den anderen geheiligten Werten des Hauses in einem verschlossenen Schrank untergebracht. Niemals in der Zwischenzeit war der Schrank oder gar die Kassette geöffnet worden, niemandem hatte man die Ringe auch nur gezeigt.

Es war ja nun klar, wie die Sache sich aufklären mußte. Fand man die Ringe an alter Stelle vor, so war der gefundene ein fremder Ring. Fehlte dagegen jener, den der Gatte der Gattin geschenkt hatte, so war dieser Fund meiner Schwester Johanna einem Wunder nicht unähnlich, denn dann hatte der doch wohl gestohlene Ring den Weg zu dem verlassenen gesucht und auf mystische Weise zurückgefunden: das würde einen Schluß auf die überirdische und außerirdische Unzertrennlichkeit dieser Ehe zugelassen haben.

Und in der Tat, die in Gegenwart von Zeugen vorgenommene Öffnung des verschlossenen Schranks und der ebenfalls verschlossenen Kassette ergab den Verlust des mütterlichen Rings, wodurch sich für meine Mutter, deren Schwestern und Onkel Schubert das liebliche Wunder bestätigte. Mein Vater war nicht wenig erstaunt, suchte jedoch im Geiste nach irgend etwas, was den Fall natürlich erklären konnte. Ich brachte diese Episode mit der Übersiedlung Carls nach Breslau in Zusammenhang, und zwar nicht allein wegen der zeitlichen Nähe, sondern weil Carl daraus nicht wegzudenken ist. Inwiefern dies der Fall war, hat mir mein Bruder etwa in seinem sechzigsten Lebensjahre gestanden. Er hatte sich nämlich spielerischer Weise den Ring im Dachrödenshof angeeignet, was auf ihm lastete und ihn veranlaßte, den Ring im Stall wegzuwerfen und meine Schwester ihn finden zu lassen.

Wir brachten Carl auf den Bahnhof von Altwasser, als er Salzbrunn als dauernden Wohnort aufgeben mußte. Dieser damals häßliche, kleine Bahnhof des Industriegebietes war Zeuge der allertrübseligsten Augenblicke meiner frühen Jugendzeit: er sah das immer erneute Abschiednehmen von ihr, das diesmal im Entschwinden des Bruders den ersten tiefen Schatten warf. »Nun«, sagte die Mutter, als der Zug davongerollt und das Keuchen der Maschine nicht mehr zu hören war, »nun, Gerhart, bist du mit Vater und mir allein.« – Es war wirklich so, denn Johanna hatte auf Einladung von Mathilde Jaschke im Kurländischen Hof Quartier bezogen. Es dauerte einige Zeit, bis ich das Gefühl der Vereinsamung überwand und eine gewisse Trostlosigkeit, die mich damit überkommen wollte. Dann aber mündete mein wiederaufgenommener Laufschritt in das bunte und köstliche Labyrinth meines blühenden Knabendaseins wiederum ein.

Von Seiten der Eltern empfand ich deutlich eine größere Wärme und Zärtlichkeit. Freilich daß dabei der Blick meines Vaters und meiner Mutter, wenn sie, wie öfters geschah, mir die Hand auf den Kopf legten, ein sorgenvolles Nachdenken ausdrückte. Ihre Augen schienen zu sagen: Nun wirst auch du, unser Letzter, bald nicht mehr bei uns sein! – oder auch: Was soll, was wird dereinst aus dir werden?

 

Ich möchte glauben, daß die letzten beiden nun bevorstehenden Salzbrunner Kinderjahre vielleicht doch nicht mehr ganz den Unschuldsgeist der Freude geatmet haben wie die vorhergehenden. Das Alleinsein des Menschen, das ich theoretisch erfaßt hatte, war doch etwas anderes als diese praktische, neue Art der Vereinsamung, die mich zwang, gleichsam ohne Ventil zu leben und geistige Ausscheidungsstoffe innerlich zu verarbeiten.

Unter den Knaben eines Ortes kommen, wie man weiß, jedes Jahr neue Moden auf. Seit dem Erscheinen des Zwitscher-Tirolers war das Nachahmen von Singvögeln mittels eines kleinen Apparates aus Birkenrinde, den man auf die Zunge nahm, üblich geworden. Einmal kam das sogenannte Cri-cri, einmal die Kastagnette auf, dann die gefährliche Schrotkugelschleuder, die aus Gummischnur und Zigarrenkistenbrettchen gefertigt wurde. Eine Zeitlang galt nur das Blaserohr, mit dem ein zugezogener Knabe geradezu Unglaubliches leistete. Seine Lehmkugeln fehlten nie ihr Ziel, ob es ein Sperling oder nur ein Schmetterling im Fluge war, und wenn er den Lasso warf, war der, dem es galt, unfehlbar gefangen.

 

Mit Leidenschaft treiben Knaben Glücksspiele. Sie wurden bei uns mit Puffbohnen und mit Murmeln oder Marmeln ausgeübt, und besonders im Spiel mit diesen bunten Kugeln habe ich in einem durch viele Monate dauernden Hang alle Zustände eines Monte-Carlo-Spielers durchgemacht.

Das auf der Erde markierte Ziel war ein Loch und ein konzentrischer Kreis. Man setzte je nach Übereinkunft eine, zwei, auch zehn, auch zwanzig Kugeln ein, wenn einen die Leidenschaft übermannte. Hatte jemand aus einer gewissen Entfernung die überwiegende Zahl in Kreis und Loch geworfen und auch die übrigen außenstehenden Kugeln früher als der Partner nach der Regel des Spiels ins Zentrum gebracht, so konnte er alle Kugeln einheimsen.

Ich gestehe, daß ich beim Spiel einen abergläubischen Kniff hatte. Ich pflegte bei jedem Wurf insgeheim Gott anzurufen, was meinem Eindruck gemäß von beinah unfehlbarer Wirkung war. Auf diese Weise war ich zu einer bestimmten Zeit ein Krösus geworden. In kleinen Körben, wie dieser Gold in gewaltigen Amphoren seiner Schatzkeller, bewahrte ich meinen Gewinn an bunten Kugeln auf. Es sind ihrer einige Tausend gewesen. Aber dann kam der Moment, der immer dem Spieler sicher ist: der Spielteufel hatte mir alle bis auf zwei oder drei wieder abgenommen. Meine Verzweiflung war fürchterlich.

Ich habe mich niemandem anvertraut, sondern alles in mich hineinwürgen müssen. Ich bestand aus Trostlosigkeit und Ärger und Wut, die mich schrecklich anfielen. Reue, weil ich mir zuschrieb, an den Verlusten schuld zu sein, wollte mir Selbstvernichtung als einzig möglichen Ausweg anraten.

 

Zur Zeit der großen Ferien durfte ich nochmals, eingeladen von Tante Julie, einige Wochen auf Rittergut Lohnig zubringen. Mein Verhältnis zu Vetter Georg sowie zum großen Ganzen des Familienkreises und Gutsbetriebes war gesetzter geworden. Haben sich, was ich nicht weiß, damals in den Salzbrunner Lebensumständen die Flegeljahre unliebsam ausgeprägt, so war dies gewiß im Umkreis der Schuberts ausgeschlossen.

Gotthold Fuchs, dessen Vater das Dominium Gutschdorf besaß, war ebenfalls bei Georg zu Gast, ein drolliger Junge, von dem allerlei Anekdoten erzählt wurden. Er fand, daß die Teller in Lohnig zu klein seien, und erklärte das mit völligem Freimut bei Tisch. »Könnt ihr über das Scheunendach springen?« hatte er einst beim Spiel die Jungens gefragt. Natürlich erklärten sie das für unmöglich. – »Der liebe Gott springt darüber wie nischt!« belehrte er sie mit Begeisterung. Ich war mit Gotthold viel allein, da Vetter Georg, selbst nun, in den Ferien, uns durch allerlei Unterrichtsstunden entzogen wurde. Später, als Gotthold Fuchs uns verlassen hatte, habe ich Georg mit dem Eselwagen auf das benachbarte Kirchdorf gekutscht, wo er durch den Pastor in Latein, ja in Griechisch unterrichtet wurde. Während ich außerhalb des Pfarrhauses wartete, wie einst bei Apotheker Linke am Gartenzaun, wenn Alfred Musikunterricht bekam, fiel mir nun wieder mein Nichtstun auf die Seele. Auch zu Krause, Lehrer in Dromsdorf, kutschte ich Georg, wo allerhand Unterrichtsgegenstände auf ihn warteten.

 

Ein junger Baron von Liebig hatte sich um jene Zeit als landwirtschaftlicher Volontär bei den Schuberts einquartiert, Bruder jener Marie von Liebig, die mich in der Büfettstube am Begräbnistage des Fräuleins von Randow überrascht hatte und mir so bedeutsam auffällig geworden war. Der Reichtum, den man der einstigen, nun geadelten Weberfamilie zuschrieb, obgleich er durchaus kein Märchen war, machte den jungen Baron zum Märchenprinzen. Ich stellte mir allen Ernstes vor, er könne mich mit einem Griff in die Tasche dermaßen mächtig und reich machen, daß ich aller kommenden Schulsorgen enthoben sei.

Schwer zu sagen, wie der lange, vornehme junge Sonderling zu den Schuberts gekommen war, der Sproß einer überaus streng katholischen Familie in die ebenso streng protestantische. Mathilde Jaschke, die Freundin Mariens von Liebig, in der schon damals heimliche Wahlverwandtschaft zu unseren Familien tätig sein mochte, mag im stillen dahin gewirkt haben. Man hoffte wohl, eine gewisse Wunderlichkeit des jungen Mannes, die in Spleen ausarten konnte, werde in der friedsam religiösen Atmosphäre der Schuberts ausheilen.

Mir schien das Gutshaus für diesen Gast, der meine Gedanken nicht losließ, viel zu klein, nicht seiner physischen Größe wegen, vielmehr weil seinem eigentümlichen Wesen anzumerken war, daß er die umgebende Enge nicht einmal sah, geschweige denn anerkannte. Der kaum Zwanzigjährige, der die wichtigen europäischen Sprachen beherrschte, sah bei weitem älter und reifer aus. Er hatte in London gelebt, in Paris, Wien und Rom und mehrere Winter hindurch am Rande der Wüste in Ägypten, die Sphinx und die Pyramiden vor Augen. Von diesen Wundern erzählte er Georg und mir, da er sich gern und lange mit uns unterhielt, auf eine ironisch überlegene Weise: Da werdet ihr staunen, da werdet ihr Mund und Augen aufreißen!

»Wenn ihr übrigens wollt«, sagte er einst, »so werde ich euch ganz einfach mitnehmen, ich bitte euch von den Eltern aus. Alle Reiseeffekten, Hüte, Anzüge, Koffer, kaufe ich euch. Bis Genua reisen wir per Bahn, dort aber gehen wir auf ein Schiff, sehen Neapel, Messina, Syrakus, steigen im Hafen von Alexandrien aus, gehen auf eine Dahabije, die ich miete, was so viel wie ein Wohnschiff heißen will, und fahren damit den Nil hinauf. Dabei essen, trinken und schlafen wir gut, denn wir haben Köche und Diener an Bord, die uns herrlich verpflegen. Glaubt mir, Jungens, dabei lernt ihr mehr als bei der ganzen verdammten Paukerei und dem ewigen Hocken auf den Schulbänken!«

Der junge von Liebig hatte den Weg zu unseren Knabenseelen gefunden.

Man konnte aber auch sehen, daß ihn mit Tante Julie eine Art Freundschaft oder Kameradschaft verband. Sie sang ihm vor, sie spielten vierhändig, sie lasen gemeinsam Bücher und besprachen sie. Von meiner Schwester Johanna ist über diese Beziehung später bedeutsam gemunkelt worden.

Zu munkeln gab es jedoch hier nichts.

 

Aus den Erzählungen meiner Mutter wußte ich, daß ihre Schwester Julie Schubert als junges Mädchen eine Zeitlang von der Gesellschaft sowohl der Kreisstadt Waldenburg wie des Bades Salzbrunn vergöttert wurde, und zwar weil die Theaterfreudigkeit ihrer Mutter, meiner Großmutter, gegen die Neigung des Großvaters durchsetzte, daß die offensichtlich talentvolle Julie bei den Veranstaltungen der Gesellschaft ihr Licht nicht unter den Scheffel zu stellen brauchte. So wirkte sie bei Liebhabervorstellungen in verschiedenen Roderich-Benedix- und anderen Rollen mit, ja sie schreckte davor nicht zurück, in ausgesprochenen Virtuosenpartien aufzutreten.

»Eine Stunde vor dem Ball« hieß ein Stück, das sie ganz allein zu bestreiten hatte. Wenn meine Mutter von diesem Abend erzählte, konnte sie gar nicht müde werden, den Zauber Juliens auszumalen, wie sie, immer allein auf der Bühne, sich in Selbstgesprächen erging, in Erwartung des Wagens, der sie auf den Ball bringen sollte, wie sie sich im Spiegel bewunderte, dies und das an der Toilette vervollständigte, wie die ungeduldige Vorfreude aus ihr schlug – bis dann die Kutsche gemeldet wird, sie ihr Ballkleid zusammenrafft und mit einem köstlichen kleinen Schrei des Glücks durch die Tür entspringt.

Dies und eine Verlobung Juliens mit einem jungen Baron oder Grafen, die dann auseinandergegangen war – meine Mutter hatte davon erzählt –, mußte mir nun in den Sinn kommen, als ich die Kameradschaft Juliens mit dem Baron zu bemerken hatte. Ich sann über Juliens Schicksal nach, das in die Welt des Theaters, der Kunst überhaupt, und somit der Schönheit, des Glanzes, des Ruhmes hätte einbiegen können und nun diese ganz andere Wendung genommen hatte. Ausdrücklich hatte mein Großvater seiner Tochter diesen anderen Weg ins Leben versperrt. Nun beschlich mich die Ahnung, daß irgendwie durch die Gegenwart des Barons aufgegebene Möglichkeiten in meiner Tante wieder lebendig wurden.

 

Bei alledem wurden wir Knaben von ihr nicht vernachlässigt, körperlich nicht und geistig nicht. Oft kam es vor, in der Dämmerung, daß sie uns an den Flügel zog, Georg und mich zur Rechten und Linken, die Klaviatur öffnete, um dann Lied auf Lied in herrlicher Folge vorzutragen. So habe ich zuerst von ihr allerlei lustige Weisen, aber auch »Der Tod und das Mädchen« von Schubert gehört, das uns natürlich in Tränen ertränkte.

 


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