Gerhart Hauptmann
Das Abenteuer meiner Jugend
Gerhart Hauptmann

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Fünfunddreißigstes Kapitel

Die großen Ferien dieses Jahres brachten viel jähen Glanz und zugleich so jähes, verzweifeltes Herzeleid. Ich habe eine für Salzbrunn besonders festliche Zeit in Erinnerung. Im Brunnenhof wohnten der russische Fürst Gagarin und der General von Boguschewski mit Frau und Tochter in unsrer Krone. Einige prominente Namen des schlesischen Adels standen in der Kurliste. Ebenfalls im Brunnenhof war der preußische Kultusminister abgestiegen, neben uns im Elisenhof ein Prinz von Kurland einlogiert. Wie immer hatten Bremer und Hamburger Reeder und sonstige Kaufleute ihre eleganten Frauen mit oder ohne Kinder nach Salzbrunn geschickt, die meistens bei uns, im ersten Hotel des Ortes, wohnten. Es lag wohl etwas in der Luft von dem scheinbaren Aufschwung der Gründerzeit, der ja doch der Vorläufer eines wirklichen war.

Mein Vater sprach zuweilen von Turgenjew, Hoffmann von Fallersleben und anderen, die Gäste der Krone gewesen waren. Ich sah eines Tages in diesen Ferien den Maler Thumann und seine erwachsenen Töchter in den Saal treten. Er war ein schöner, mit künstlerischer Freiheit und höchster Eleganz gekleideter Mann, die Töchter in meinen Augen Schönheiten. Sie trugen sich nicht modern, sondern à la Gainsborough, mit Handschuhen bis zum Ellbogen und großen Strohhüten.

Vor dem Brunnenportale, wie immer, gab sich die elegante Welt, zu der die Badeärzte gehörten, täglich zweimal ihr Rendezvous. Sanitätsrat Biefel, Doktor Valentiner und mein Onkel, Doktor Hermann Straehler, vertraten den Typus des Bonvivant. Sie waren witzig, elegant und galant.

Natürlich, daß ich in dem sommerlichen Gewimmel von Salzbrunn wieder ein ganz anderer als in Breslau war. Wäre nicht alles am Menschen wunderbar, diese Verwandlung müßte als Wunder gelten. Nichts von Kleinmut, nichts von dem bloßen Breslauer Vegetieren, nichts von Willenlosigkeit und Stillstand war mehr in mir: alles Bewegung, Wille, Bejahung des Lebens! Elegant gekleidete Söhne reicher Kurgäste waren mein Verkehr. Der Sinn für gute Kleidung, der meinen Vater auszeichnete, bewirkte, daß er sie auch mir zubilligte und ich mich also keineswegs von denen, mit denen ich umging, unterschied. Die elegante, die gebildete, sagen wir ruhig, die schönere Welt, in der viel Seife verbraucht wurde, gute Manieren, Künste und Wissenschaften zu Hause waren, gab mir erst jetzt ihre Reize preis. Ich fühlte, man brauchte die untere nicht zu verlieren, wenn man die obere Welt besaß. Aber wer die untere nicht mit Vorsicht genoß, dem konnte die obere ewig verschlossen bleiben.

Unendlich wohl tat mir bei meinen flüchtig gewonnenen hiesigen Ferienkameraden die Abwesenheit alles Rüden, ihre Wohlerzogenheit und Wohlanständigkeit, ihr feines Zuhören, ihr warmes Eingehen und bei Zweifeln, die sich ihnen etwa aufdrängten, wenn ich allzusehr ins Reden kam, ihre Zurückhaltung, aus der Furcht, mich zu verletzen. Ich war dankbar für alles das und wurde dadurch unmerklich auf all diese Tugenden hingewiesen. Vielleicht war die Strömung ganz allgemein, die mich fortspülte. Allenthalben, auch hier in Salzbrunn unter den Alteingesessenen, regte sich ein neuer Geist, der den alten nicht anders als eine drückende Last abwerfen wollte.

Das Herzeleid dieser Ferien entwuchs meiner ersten wirklichen Liebesleidenschaft, die durch Anna, die Tochter des Generals und der Generalin Boguschewski, entzündet wurde. Es war ein Feuer, das, ungesehen von andern außer von meiner Mutter, in mir aufging und mich gleichsam leerbrannte. Ich habe das Sexualleben, das ja überall auch im Kinde wirksam ist, nur mit flüchtigen Strichen berührt, es dargestellt in einigen Sublimierungen. Auch diese Neigung zu Annuschka Boguschewskaja, wennschon sie mich hart angriff und im tiefsten Wesen erschütterte, ist aus der Sphäre des Lautersten nicht herausgetreten. Die Erfahrung, die ich damals durch die vierzehnjährige Russin an mir machte, war allerdings einer späteren als Wunder nicht gleich, weil der Gott in mir sich noch nicht völlig geboren hatte. Diese hätte sich nicht durch eine Vita nuova aussprechen lassen, während die darauffolgende allerdings in die Sphäre Dantes und Petrarcas fiel.

Meine Schwester Johanna stand damals in ihrer Mädchenblüte. Annuschka, einige Jahre jünger und noch Kind, schloß sich ihr leidenschaftlich an. Von beiden wurde Französisch gesprochen. Daß Annuschka kein Deutsch sprach, war für mich schon ein Hindernis. Sie sah mich aus gütigen Augen mit einem offenen Lächeln an, als meine Schwester mich ihr vorstellte. In der Anmut dieses, wie ich schon damals begriff, im herkömmlichen Sinne gar nicht schönen Geschöpfs lag etwas, das widerstandslos überwand. Wie kam das: meine Schwester stand neben ihr, sprach mit ihr und verkehrte in einem so natürlichen Ton mit ihr, als ob sie gar nicht wüßte, wer diese Annuschka sei, welche Himmelsgnade ihr zuteil wurde. Wenn sie mir aus den Augen kam, war es, als ob das ganze grell beleuchtete Sommergetriebe des Kurorts grau würde.

Leider wuchs auch hier wieder meine Schüchternheit mit den Graden meiner Leidenschaft. Ich sah mich einem höheren Wesen aus adligen Kreisen, einer Generalstochter, hoffnungslos gegenübergestellt. Denn nun mußte sich auch meine Breslauer Nichtigkeit wiederum aufdrängen. Ich drückte mich dort an der alleruntersten Stufe unter läppischen Hosenmatzen, nicht einmal von diesen beachtet und geachtet, herum und wußte natürlich, daß man dieses vornehme Kind höchstens als glänzender und beneideter Kavalier heimführen konnte.

Das Ehepaar Boguschewski war nicht zum ersten Male da, aber zum ersten Male in Begleitung der Tochter. Der General, zwei Meter hoch, mit seinem kurzen, dichten, bürstenartigen schlohweißen Haar und seinem gewaltigen, wohlgepflegten Kinnbart war imponierend als Grandseigneur, voll menschlicher Güte. Die Beziehung zu meinen Eltern war freundschaftlich. Das wurde nach russischer Sitte beim Wiedersehen und Scheiden durch Küsse besiegelt.

Meine heimliche Liebe nahm mit der Zeit verzweifelte Formen an. Ich offenbarte mich meiner Mutter. Bei verschlossenem Zimmer, allein mit ihr, zerbiß ich, mich auf das Bett werfend, heulend, schluchzend und Tränen vergießend, die Bettdecke. Meine Mutter war manches von mir gewöhnt, aber ein solcher Anfall machte sie stutzig. Allmählich brachte sie die Ursache meiner Raserei heraus.

Ich stürbe, behauptete ich, oder ich müsse Annuschka heiraten.

»Schlag dir das nur aus dem Sinn, dummer Junge«, sagte die Mutter. Ihr Ton war keineswegs schroff, sondern gutmütig. »Diese Annuschka ist nicht für dich. Erstens bist du ein Kind. Kein Standesbeamter kann euch trauen. Und überhaupt kannst du, wenn du dich verrätst, nur allgemeines Gelächter einheimsen.«

Als ob ich dies alles nicht selbst gewußt hätte!

Da sagte ich: »Mutter, ich muß berühmt werden!« Und ich drang in sie, doch nachzudenken, wie das am allerschnellsten durchzuführen sei. Wenn ich zum Beispiel ein Bild malen würde wie die Sixtinische Madonna, die im Saale hing, und alles bräche in Staunen aus: könne ich da Annuschka heiraten?

»Dummer Junge, das könnte wohl dann in einigen Jahren möglich sein.«

»Oder wenn ich ein großes und langes Gedicht schriebe, wo, wie im Trojanischen Krieg, Kämpfe von Helden geschildert würden? Es ist doch gewiß, daß mein Ruhm, besonders weil ich so jung bin, sich über die ganze Welt verbreiten würde. Würde mir dann nicht Annuschka um den Hals fliegen?«

»Vielleicht, o ja, warum denn nicht?«

Gott sei Dank fand ich mich immer erleichtert, wenn der Paroxysmus vorüber war. Aber ich fragte mich oft: wüßte Annuschka von der schweren Krankheit, der ich um ihretwillen verfallen bin, und wie einfach es sei, mich gesund zu machen, würde sie nicht kommen, sich liebreich über mich beugen, mir übers Haar streichen, es womöglich mit einem Kuß auf die Stirne tun?

Mein Wesen um jene Zeit muß beherrscht gewesen sein von einem merkwürdig klaren Vordringen und kindhafter Rückständigkeit. Die Entwicklung blonder, nordischer Menschen vollzieht sich im allgemeinen wohl langsamer als die südlicher. Die große Maschinerie des Staates, der Schule und sonstiger Einrichtungen nahm ich als unabänderliche Gegebenheit. In dem Bilde Salzbrunns mit seiner dorischen Wandelhalle, seinem Theater, seinen Häusern und Anlagen sah ich nicht das Gewordene, sondern das Seiende. Da waren die vielen Schwindsuchtkranken, die das mitunter glänzende Gesellschaftsbild untermalten; die polnischen Juden mit ihren schwarzen Kaftans und roten Bärten, die in Quartieren mit koscherer Küche wohnten, ihre Frauen unter ihren rituellen Perücken: über alles dies habe ich kaum nachgedacht, ebensowenig wie über Armut, Proletariat und Armenhaus, Tatsachen, die ich als unabänderlich betrachtete.

 

Als ich diesmal Salzbrunn allein verließ, ahnte ich nicht, welcher seltsamen Zwischenepoche ich entgegenging. Doktor Straehler hatte bei Bruder Carl einen Lungenspitzenkatarrh festgestellt; er wurde, um eine Kur zu gebrauchen, daheim behalten. Doppelt schwer hätte es mich nun ankommen müssen, allein nach Breslau zurückzugehen, aber der Zufall war mir angenehm. Es war eine kleine Sensation, die mir bewies, es gebe Dinge – sie könnten auch mir eines Tages zugute kommen –, die Kraft besäßen, das eiserne Lebensprogramm zu zerbrechen, dessen Sklave ich war. Nach einigen Wochen trat das Wunderliche ein, daß meine Schwester Johanna meine Zimmergenossin wurde. Es sei darin kein Arg zu sehen, hierin waren Pastor und Vater sich einig, und man wollte die nun einmal bezahlte Pension ausnutzen.

Meine Schwester, ungefähr sieben Jahre älter als ich, verhielt sich zu mir wie eine Tante oder eine Pflegerin. Ich mußte vorschriftsgemäß um neun zu Bett liegen, während sie sich im Berliner Zimmer mit den Pensionseltern, insonderheit mit dem Pastor, der gern lange bei Tisch saß, bis elf Uhr und länger unterhielt.

Es ist von ihr öfters die Rede gewesen, von ihrer Beziehung zu Fräulein Jaschke, dem Pflegekind Fräulein von Randows im Kurländischen Hof; auch davon, wie ich dort nach dem Grundsatz Juvenals »Das größte Zartgefühl schulden wir dem Knaben!« ganz anders als in der Schule behandelt wurde. Die feine Kultur, die der Haushalt des Fräuleins von Randow atmete, der Unterricht von Mathilde Jaschke, die Französisch und Englisch beherrschte und mit dem Afrikareisenden Nachtigal in Briefwechsel stand, die Belesenheit und die Neigung der Damen zur Wissenschaft, Kunst, Musik und Poesie, alles das hatte auf Johanna erziehlich gewirkt, so daß selbst ihr ungezwungenes Gespräch eine nicht gewöhnliche Bildungshöhe behauptete. Was aber unter dem allem sich geltend machte, war ein festumrissener Charakter, den sie vom Vater geerbt hatte. Einige seiner Eigenschaften waren Freimut, Furchtlosigkeit, ja Unbeugsamkeit. Es kam hinzu ein Familiensinn, den man wohl übertrieben nennen müßte, wäre er nicht ausgeglichen worden durch ein allgemeines hilfreiches, menschliches Wohlwollen. Sonst aber freilich schien es zuzeiten, als habe sich die übrige Welt nur um unsere Familie als Mittelpunkt und Höhepunkt arrangiert.

Es ging im Berliner Zimmer – ich konnte es vor dem Einschlafen durch die Wand hören – meist sehr lustig zu, seit Johanna da war. Meine Schwester war weit besser als ich finanziert, und der Pastor in seinem Übermut forderte sie mitunter auf, einen Krug Bier zu spendieren, den man, da sie natürlich ja sagte, aus einem Bierlokal im Parterre heraufholte. I-o-hanna nannte er sie.

Nach und nach aber kam meine Schwester in ein Kreuzfeuer. Johanna war sehr gut zu mir. Sie brachte mir allerlei Leckereien und nahm mich des öfteren mit sich in eine Konditorei. Aber als ich nun mehr und mehr einer wirklichen Lethargie verfiel und wieder und wieder, statt morgens mich vom Bett zu erheben, mich krank meldete, geriet sie mit mir in Konflikt und ebenso mit dem Pastor, der Simulation behauptete, was sie nicht wahrhaben wollte.

Johanna fühlte das psychische Leiden, dem ich verfallen war. Sie bedauerte es, verschwendete aber vergebens alle ihre moralisch suggestiven Heilmittel. Ich war ein störrischer Esel geworden, ob ich nun zu schwer beladen war oder nicht: ich lag wie ein überladenes Kamel und hätte mich lieber totprügeln lassen als aufzustehen.

Mein Verhalten muß widerwärtig gewesen sein. Ich muß böse und häßliche Züge offenbart haben. Außerdem hatten unsere Geschwisterdispute Tradition. Es wäre mir interessant, die raffinierte Dialektik und boshafte Schärfe unserer Wortkämpfe phonographisch fixiert zu sehen. Eine schlimme – oder war es eine gute? – Eigenschaft unserer Familie lag darin.

Es war ein deutlich schicksalhafter Charakterzug, wenn unsere bis zur Erschöpfung geführten Gesprächskämpfe erst lange nach Mitternacht endeten. Nie wurde ein Resultat erzielt. In jedem von uns blieb ein endloses, unbefriedigtes geistiges Fortwühlen.

Trotzdem verteidigte mich Johanna vor dem Pastor, bis ihr gutes Verhältnis darunter litt und sie geradezu auseinanderkamen. Meine Krankheit nannte der Pastor Pigriz. Er schickte mir sachgemäß einen Arzt, der keinerlei Krankheit feststellen konnte. Ich aber war dermaßen überreizt und verbost, daß ich einst bei hellichtem Tag meiner Schwester, die ausging, im vorderen Treppenhaus von oben wütend Bettkissen nachschleuderte.

 

Die Nachricht kam, daß mein Bruder Carl zum zweitenmal an Lungen- und Rippenfellentzündung lebensgefährlich darniederliege. Ich wurde ins Zimmer des Pastors gerufen, und er sagte: »Dein Bruder ist sehr schwer erkrankt. Man muß zu Gott um Genesung beten, aber sich auf das Schlimmste gefaßt machen.«

»Ist Carl schon gestorben?« fragte ich.

»Nein, Gott sei Dank, nein, er ist nicht gestorben. Du brauchst nicht glauben, daß ich dir vielleicht aus Rücksicht die Wahrheit verheimliche. Aber die erste Erkrankung deines Bruders vor Jahren war leichter als die, der er diesmal verfallen ist.«

Der Schreck, der mich bei der Eröffnung des Pastors traf, die Lähmung, die ich empfand, belehrte mich, wie sehr ich trotz mancher Unstimmigkeit mit meinem Bruder verbunden war. Als ich mich in der Stille ausweinte, wirkte eine jähe Erkenntnis mit, die mir zeigte, welche unheilbare Wunde der Tod Carls unserem Familienleben reißen müßte. Schon seine erste Erkrankung hatte allerlei bestürzte Fragen chaotisch in mir aufgeregt. Damals hatte ich meine Mutter einmal gefragt, ob sie, falls ich stürbe, fortleben könne. Hätte sie mir mit Ja geantwortet, es würden viele Fäden meiner Verbindung mit ihr zerrissen sein. Sie wußte der Frage auszuweichen. Auch andere stellte ich ihr sadistisch-spielerisch: wen von uns beiden sie lieber habe, ob Carl oder mich? »Ihr seid mir alle gleich lieb«, sagte sie. Mir steht heute fest, daß sie dieser Behauptung gemäß immer gehandelt hat und keines ihrer Kinder sichtbar bevorzugte. Trotzdem wußte ich, welchen Posten Carl im Familienhaushalt bedeutete. Gewiß, der Älteste, Georg, würde die Kosten lohnen, die man an ihn gewandt hatte. Er diente augenblicklich in Schweidnitz sein Militärjahr ab. Er war klug, feurig, humorig, ohne daß seine Begabung zunächst entschieden über den Kreis des Normalmenschen hervortrat. Geniale Züge, blendende Eigenschaften, Geist, der mit Anerzogenem und Erlebtem nicht zu erklären war, verrieten in Carl den höheren Menschen. Zugleich bemächtigte er sich aller Fächer des Schulwissens mit Leichtigkeit.

Carl war in dem ganzen Straehler-Hauptmannschen Verwandtenkreis Gegenstand der Bewunderung, ein Knabe, nun fast schon Jüngling, von dem man mit Spannung Gutes erwartete.

Nun, während des Schluchzens, wurde mir klar, daß die Eltern und schließlich auch ich ihn im gleichen Sinne gesehen haben. Wäre Carl dahingegangen, so war der alten »Krone« der schönste Edelstein ausgebrochen.

Weil ich das fühlte, und daß Carls Tod meiner Mutter und meinem Vater den Sinn ihres Lebens genommen hätte und damit auch mir, konnte ich mit Weinen nicht aufhören. Denn schließlich war meine Liebe zu ihnen beiden so, daß ich mich, hätte ihr Wohl es erfordert, heiteren Sinnes durch meinen Vater, wie Isaak durch Abraham, hätte opfern lassen.

 

Bruder Carl wurde wieder gesund. Wir hatten uns wieder in den Herbstferien.

Georg war reitender Artillerist. Als er um diese Zeit einen kurzen Urlaub zu Hause verlebte, war das Gefühl des Stolzes auf den jungen Soldaten des Kaisers in der Familie allgemein. Wer meinen Vater kannte, spürte die ihm, bei scheinbar unbeweglichem Ernst, aus den Augen durch die Brillengläser sprühende Genugtuung. Wir hatten im Stall unter anderem ein ziemlich junges, feuriges Pferd, das mein Vater selbst eine Zeitlang geritten hatte. Es wurde gesattelt. Es half nichts, der reitende Artillerist mußte sich wohl oder übel hinaufschwingen. Mein ältester Bruder hatte bis zu seinem Militärdienst eine Neigung zur Reitkunst niemals gezeigt und trieb sie auch jetzt nur notgedrungen.

Als er mit leidlichem Anstand den Sitz im Sattel genommen hatte, wollte das Pferd in den Stall zurück, wobei es den Reiter vom Rücken gestreift hätte, wenn nichts Ärgeres passiert wäre. Ich schloß, die Lage erkennend, im letzten Augenblick noch die Tür, wodurch das Unglück vermieden wurde.

Meine Mutter war außer sich.

Der Schwarzbraune stieg, der Hafer stach ihn, er hatte wohl lange im Stall gestanden, hatte vergessen, was ein Sattel, was ein Reiter ist. Aber mein Vater verstand keinen Spaß. Mit der langen Peitsche mußte der Kutscher das Pferd in Gang bringen, so daß es sich sogleich in Galopp und Karriere setzte. Eine Zeitlang schwankte der Reiter bedenklich hin und her, aber dann sah man, bevor er den Blicken entschwand, auf der Dorfstraße, er war seines Tieres Herr geworden.

 

Selbstverständlich vergingen keine Ferien, ohne daß die Tanten im Dachrödenshof besucht wurden, natürlich auch Fräulein Jaschke im Kurländischen Hof, wie denn überhaupt das Gesamte des Salzbrunner Lebenskreises neu überblickt, nach Möglichkeit persönlich berührt und vergegenwärtigt wurde. Von meinem Vorbild, Georg Schubert, erzählte Tante Elisabeth wieder wunder was. Es sollte mich demütigen und auch anspornen. Man hatte den Vetter auf das Gymnasium in Jauer gebracht, er war in die Tertia aufgenommen. Wie man weiß, war er jünger als ich. Nicht genug aber, daß es sich so verhielt; während ich, der ältere Freund, in der Sexta saß, hieß es, er sei sogar für sekundareif erklärt und nur seiner Jugend wegen in diese Klasse nicht aufgenommen worden.

 


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