Gerhart Hauptmann
Das Abenteuer meiner Jugend
Gerhart Hauptmann

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Siebenundzwanzigstes Kapitel

Im Februar erlebte ich einen Faschingsball. Im Maskengewimmel bewegte sich jemand unter einem riesigen schwarzen Dreimaster. Diese ins Gigantische gesteigerte Kopfbedeckung war eigentlich ein Tintenfaß, in dem eine Gänsefeder steckte. Das monströse Gebilde zog meine Augen vor allem an und erregte in mir unendliches Staunen. Und mein Staunen steigerte sich, als ich einige Tage später dieses Pappdeckel-Tintenfaß in einem Zimmer der Krone entdeckte und erfuhr, daß beim Balle der Kopf meines Vaters darunter gesteckt hatte.

 

Das Vorspiel des Balles innerhalb der Familie zeigte meine Schwester Johanna zugleich als Hauptakteurin und als Unschuldslamm. Es ist insofern merkwürdig, als es wieder Gegensätze und Unstimmigkeiten im Wesen meiner Eltern bloßlegte. Meine Mutter frönte der Tradition, wonach man eine heiratsfähige Tochter ausführte. Diese Gepflogenheit aber, die meine Mutter als schöne Pflicht auffaßte, widerte meinen Vater an. Bei der Besprechung zwischen Vater und Mutter, ob man Johanna auf den Ball bringen solle oder nicht, hörte ich meinen Vater sagen: »Tue, was du willst, ich gehe nicht mit; ich müßte mich schämen in Grund und Boden, wenn ich meine Tochter wie ein Pferd auf dem Viehmarkt ausbieten sollte.«

Tante Elisabeth wühlte aus andern Gründen, nämlich aus Eifersucht, gegen den Ball. Das alternde Mädchen war ziemlich üppig und vollblütig, die Faschingsbelustigung zog sie wie die allersüßeste Lockung der Hölle an, aber sie hätte den Ballbesuch weder vor ihrer Schwester Auguste noch vor ihren pietistischen Freunden verantworten können. Sie fing ihren Feldzug gegen den drohenden Mummenschanz mit Einwänden gegen die zu erwartende gemischte Gesellschaft, gegen die Unsittlichkeit der Maskenfreiheit und ähnliches an, bemäkelte dann die Kostüme, an denen Mutter und Tochter stichelten, und wandte sich gegen die Tanzsünde. Trotzdem sie im Endziel aber mit meinem Vater übereinstimmte, zog sie meistens vor zu verschwinden, sobald er in die Nähe kam.

Tante Elisabeth, deren impertinente Gegenwart meinen Vater allein schon aufreizte, fuhr in diesen Wochen wie eine aufgestörte Hummel zwischen Dachrödenshof und Krone hin und her, beladen mit immer neuen Einwänden, wodurch die Reizbarkeit aller Beteiligten gesteigert wurde. Eines Tages verbot mein Vater dann geradezu Tante Elisabeth das Haus, sprach aber zugleich von Mädchen- und Menschenhandel, an dem er sich keinesfalls beteiligen werde.

Auch meinem Bruder Carl und mir schien das Getue um meine Schwester vor dem Ball etwas Fremdartiges. Musterknaben waren wir nicht. Als wir sie nun von meiner Mutter, der Schneiderin, Tante Elisabeth und den Hausmädchen feierlich wie ein Opferlamm behandelt sahen, ergingen wir uns in allerhand Neckereien, auf die sie je nachdem mit Lachen, mit Erregung oder mit Entrüstung antwortete. Sogar bis zu Tränen brachte sie unsere Unbarmherzigkeit.

Johanna Katharina Rosa nannten wir sie mit den Namen, die sie bei der Taufe erhalten hatte, und fügten einen wahrhaft Rabelaisschen Reim daran. Der Respekt vor der »höheren Tochter« hielt sich nun einmal im häuslichen Kreise nicht. Auch fühlten wir keinen Respekt vor Ballkleidern. Wir malten aus, wie sie ihr zartes Pensionsköpfchen beim Tanz an die Brust des betrunkenen Bauers Rudolf legen würde oder an die des schwindsuchtkranken Briefträgers oder an Glasmalermeister Gertitschkes Kopf, der sich nach Hermann des Cheruskers bei den Römern üblichem Namen Armin nannte.

 

Es scheint, daß auch Fräulein Mathilde Jaschke, das nun verwaiste von Randowsche Pflegekind, bei dieser Unternehmung abseits blieb. Auch ohne das Trauerjahr, in dem sie stand, würde es kaum anders gewesen sein. Ihr Einfluß war, wie ich glaube, sowohl durch eigenen Entschluß wie durch den meiner Mutter ausgeschaltet, die noch einmal mütterliche Gewalt über ihre Tochter mit letzter Entschiedenheit ausübte.

 

Der Abend ist schließlich herangekommen. Unser geschlossener Landauer stand vor der Tür. Meine geputzte, mit grünem Tüll drapierte Schwester wurde dem Vater vorgeführt. Er schien entsetzt. Mit einem so aufgedonnerten Frauenzimmer zu erscheinen, sei für ihn ein Ding der Unmöglichkeit. Man kann sich denken, welche Wirkung ein solches Urteil eine Viertelstunde vor Beginn des Balles bei Schwester und Mutter hatte.

Wie es in solchen Fällen üblich ist, wurde zunächst das ganze Fest in Bausch und Bogen aufgegeben. Meine Schwester schloß sich in ihrem Zimmer ein und erklärte, sie wolle zu Bette gehn. Meine Mutter, in ihren Bemühungen, mit wenig Geld etwas Kleidsames herzustellen, nach Ansicht ihres Gatten gescheitert, war außer sich. Es entspann sich ein heftiger Wortwechsel, bei dem nach und nach wieder einmal alles das zutage kam, was sie gegen ihren Mann auf dem Herzen hatte.

»Das ist es eben: du ziehst dich zurück, du bist ein einsamer Sonderling«, sagte sie. »Du magst es nicht, wenn man fröhlich ist. In unserer Familie war Fröhlichkeit und Gottesfurcht. Wir gönnten einander ein Vergnügen. Mein Vater hatte ein kleines Gehalt, er mußte mit seinen Pfennigen haushalten. Aber wenn er meiner Mutter oder uns Kindern ein Vergnügen machen konnte, so gab er mit vollen Händen. Ich habe dir doch wahrhaftig zeit meines Lebens keine Kosten gemacht. Die paar seidenen Kleider, die ich besitze, und auch das, das ich anhabe, hat meine Mutter schon getragen. Ehe ich dich um einen Groschen zu bitten wage, beiße ich mir lieber die Zunge ab. Was liegt mir denn schließlich an dem Ball? Warum aber soll Hannchen nicht einmal ihr Vergnügen haben? Warum mußt du uns denn alles und alles vergällen mit deiner Bitterkeit, deiner schlechten Laune, deiner Menschenfeindlichkeit? Da will ich doch lieber gar nicht leben, als immer und ewig unter einem solchen Drucke zu sein. Wenn ich denke, mein guter Vater . . . Wenn ich an meine liebe, gute, immer heitere Mutter denke! Aber das ist es, es herrscht hier kein Glaube, kein Gottvertrauen. In diesem Hause herrscht keine Gottesfurcht . . .« Und so ging es fort.

Mein Vater machte diesem überstürzten Redefluß auch dadurch kein Ende, daß er ihn wie eine Litanei behandelte, die er längst von Anfang bis zu Ende auswendig wisse. Es war nicht abzusehen, wie man nach einem solchen Präludium doch noch auf den Ball kommen könne.

Aber da griff der Halbbruder meines Vaters, der herzensgute, stotternde Onkel Gustav Hauptmann, ein, der einmal einen französischen Gast mit den Worten empfangen hatte: »Une chambre, une chambre, wenn ich fragen darf?« – Es gelang ihm, Johanna umzustimmen. Sie wurde von ihm stillschweigend in den Wagen und auf den Ball gebracht, was die Eltern zu ihrem Erstaunen erfuhren, als der Landauer, um auch sie abzuholen, wiederum vor der Krone stand. Und wirklich, nach alledem stak dann das Haupt meines Vaters unter dem riesigen Dreimaster-Tintenfaß, was einen recht jähen Sprung von der Tragik zur Komik bedeutete.

 

Über dem Abend stand jedoch überhaupt kein guter Stern. Ein Provisor des Apothekers Linke fühlte sich durch die grüne Farbe des Stoffes beunruhigt, den meine Schwester trug. Er stellte fest, nachdem er eine kleine Probe des Stoffes an einem Streichholz verbrannt hatte, daß er nach Knoblauch roch, also arsenikhaltig war. Der Jüngling wollte wahrscheinlich auffallen. Meine Mutter und meine Schwester lachten ihn aus. Aber er konnte nicht dafür stehen, daß meine Schwester, wenn sie tanze und transpiriere, ohne eine schwere Vergiftung davonkomme. Das war für meinen Vater zuviel. In einem Zimmer der Mendeschen Brauerei hatte er bereits ganz in der Stille sein Tintenfaß und seinen Domino abgelegt. Es war noch nicht elf. Das Vergnügen hatte eigentlich noch nicht recht angefangen, als man schon wieder die Gummischuhe in der Garderobe überzog und, in Pelze vermummt, sich in verbitterter und enttäuschter Stimmung davonmachte.

 

Um die Osterzeit etwa wurde für mich mein ältester Bruder Georg geboren. Allerlei kleine Begegnungen und Neckereien der vorhergehenden Jahre hatten mir ihn nicht eigentlich gegenwärtig und lebendig gemacht. Das geschah nun, da er als Oberprimaner in die Ferien kam.

Mir sind von da zwei Seiten seines Wesens erinnerlich: die eine war gleichsam ein letztes, knabenhaftes, körperliches Austoben, während die andere in einer sich reif und erwachsen gebenden Art bestand und einer damit verknüpften Neigung zu Diskussionen, die ja übrigens in der Familie lag. Und wiederum waren es religiöse Fragen, die er hauptsächlich zur Sprache brachte, was ebenso mit der Familientradition zusammenhing.

Das expansive körperliche Ausleben des Bruders, das sich gleich anfangs in einem Akt des Übermuts gegen mich richtete, hätte mich beinah ums Leben gebracht. Er zeigte mir Boxerkunststücke. Erst schlug er mich auf die oberen Armmuskeln, und ich kleiner Pix boxte weidlich zurück. Dann sagte er: »Stell dich vor mich hin!«, was ich sogleich gehorsam ausführte. Er ballte die Faust, er beugte und streckte den gestrafften Arm, wobei er mir spielerisch gegen den Magen zielte. Dann stieß er vor, mit der Absicht natürlich, noch vor der Berührung meines Körpers innezuhalten. Aber er hatte sich nicht in der Gewalt und die Entfernung falsch berechnet. So geschah es, daß mir die Faust in den Magen fuhr, mir den Atem raubte und mich stracks auf die Erde warf, wo ich mich, mit Erstickung ringend, lautlos umherwälzte.

 

Georg war damals übrigens ganz besonders kämpferisch aufgelegt und fand in mir den begeisterten Partner und Gegner. Mit langen, biegsamen Weidengerten schlugen wir aufeinander ein. Das Kampfspiel war nach Art einer Jagd arrangiert, bei der Georg das Wild, Bruder Carl, ich und einige bevorzugte Dorfjungen die Meute waren. Der Kraftüberschwang des vom vielen Sitzen und Büffeln übersättigten Primaners führte bei dieser Hetz über Treppen, Korridore und Dachböden, durch Säle, Küchen, Ställe und Gärten, über Zäune, Leitern und flache Dächer hinweg, wohin wir ihm überall unentwegt nachstürmten. Gnade in der Verteidigung kannte er nicht. Und ich, wie ich wahrheitsgemäß zu berichten habe, keine Furcht. Es war ein Mut, der damit rechnete, daß nur Schmerz, nicht aber der Tod in Frage kam. Und Schmerz zu erleiden schreckte mich nicht. Die Schläge der Weidengerte sausten umsonst in mein Gesicht und ließen große Schwielen darauf zurück. Keinen Augenblick hemmten sie mein entschlossenes Vorgehen. So trug auch Georg seine Schwielen davon.

Dieses Ostervergnügen war eine tolle und wilde Raserei, alles Bisherige dieser Art übersteigend.

 

Ich hatte den Eindruck, daß mein ältester Bruder mir ein besonderes Interesse zuwandte. Vielleicht war es ihm überraschend, zu erkennen, welch seltsames Früchtchen in mir herangewachsen war, von dem er so gut wie nichts wußte. Er hatte wohl anderes zu tun gehabt in den kurzen Ferienzeiten der Vergangenheit, als sich mit einem kleinen Bruder zu beschäftigen, der übrigens selbst keinen Anschluß suchte und überall eigene Wege ging. Nun aber, da Georg selber die männliche Reife erlangt hatte und ihm der für sein Alter noch kindliche Bruder ferner gerückt und fremder geworden war, schien es ihm einen Reiz zu gewähren, ihn womöglich allseitig zu ergründen.

Oder hatte er vielleicht von meinem Vater den heimlichen Auftrag dazu?

Es war nicht leicht, mich vertraulich zu machen, solange das wohlerzogene Bürgerkind dem Proletarierjungen von der Straße den Platz geräumt hatte. Denn dieser hatte in sich die Abneigung seiner Klasse gegen die höhere, ihre Verstecktheit, ihr Mißtrauen und eine Scheu, man könne in die ihm liebgewordene Sphäre individueller Freiheit eingreifen.

Der für seine zehn Jahre noch überaus zarte und kindliche Knabe, der ich gewesen sein muß, hat wohl dem erwachsenen Bruder mehr als einmal Entsetzen erregt, wenn er ihn, vertraulich gemacht, in gewisse Abgründe weniger seiner Gassen- als seiner Gossenerfahrung blicken ließ. Um mich nicht kopfscheu zu machen, stellte er sich bei meinen Eröffnungen harmlos amüsiert. In Wirklichkeit, wie er mir später sagte, sind ihm die Haare zu Berge gestiegen.

Üble und schmutzige Handlungen gab es nicht zu beichten oder sonst mitzuteilen. Dagegen hatten sich um so mehr häßliche Reimereien wandernder Straßenbarden meinem Gedächtnis eingeprägt. Sie sind von einer so ausgesucht Rabelaisschen und auch zweideutigen Art, daß ich nicht daran denken kann, sie mitzuteilen. Ich hatte sie trotz aller Roheit und Gemeinheit wie etwas ganz Selbstverständliches hingenommen, allerdings auch mit einer im Grunde unbeteiligten Sachlichkeit.

Nicht ohne deutliches Unbehagen spürte ich damals, daß ich nicht mehr allenthalben so unbeachtet und ungehemmt dahinleben konnte wie bisher. Überraschende Fragen und Mahnungen meiner Mutter, eine strengere Festlegung dessen, was ich außer dem Hause tun durfte, durch den Vater und schließlich sowohl Rügen als Unterrichtsversuche meiner Schwester Johanna belästigten mich. Besonders an meiner Schwester habe ich die Empörung über den neuen Zustand immer wieder bis zur Raserei ausgelassen.

 

Im übrigen war durch Bruder Georg, der von der Familie mehr und mehr als Erwachsener behandelt wurde, ein frischer Luftzug ins Haus gekommen. Nicht nur hatte er allerlei lustige Schulgeschichten mitgebracht, er war auch erfüllt von Erlebnissen der Tanzstunde, einem Kursus, den mitzumachen ihm der Vater erlaubt hatte. Mit meiner Schwester als Dame tanzte Georg uns Polka und Wiener Walzer vor und den schweren Masurek, dessen schwierige Pas wir mit Mühe nachahmten. Der Tanzmeister mit seinen komischen Kommandos, seinen Anweisungen, die hübschen jungen Damen resolut anzufassen, wurde gleichsam leibhaftig durch seine Schilderung, und endlich wurde durch ihn unter Billigung und Genugtuung meines Vaters die Diskussion von allerlei Fragen am Familientisch in Gang gebracht.

Mein Vater schien seinen Söhnen schweigend entgegenzuleben. Er wartete gleichsam darauf, sie erwachsen zu sehen, um Stützen und Freunde an ihnen zu haben. Mit meiner Mutter gab es Meinungsverschiedenheiten, wir kannten sie gleichsam als tägliches Brot.

Mit dem Auftreten des Primaners Georg fing die Erörterung allgemeiner Fragen an, in die sich mein Vater, als ob ihn danach gehungert hätte, gern verwickelte. Sie enthoben ihn einer Isolierung, wie mir scheint, zu der er sich selbst für Jahrzehnte verurteilt hatte. Sein Wesen während dieser Zeit war wie das gegen jedermann: Schweigsamkeit, ja Unnahbarkeit. Seine Äußerungen gingen nirgend über das im sozialen Verkehr unbedingt Erforderliche hinaus; selbst meine Mutter ist vergebens immer wieder gegen die Burgmauern seiner Verschlossenheit Sturm gelaufen. Nun aber, Georg gegenüber, und somit auch Carl und mir gegenüber, trat er offen aus sich heraus.

Es gab in unserer Familie »Auftritte«. Mein und besonders Carls Temperament konnte ohne dergleichen Höhepunkte nicht auskommen. Schwester Johanna reizte uns durch geheuchelte Kälte. Sie verarbeitete ihre Auftritte innerlich. Beispiele, welche das Temperament meiner Mutter und meines Vaters durch heftige Auftritte bestätigten, sind in diesen Blättern schon angeführt. Spätere Vorfälle werden beweisen, daß mein Bruder Georg in dieser Beziehung vielleicht am stärksten belastet war und gelegentlich von einem maßlosen, höchst gefährlichen Jähzorn übermannt wurde.

Um jene Ostern trug sich dieser tragikomische Auftritt zu: Das neugebackene Denken Georgs hatte für sich die Frage entschieden, ob Jesus von Nazareth ein Mensch oder ein Gott gewesen sei. Georg hatte behauptet, er sei zwar der edelste und reinste der Menschen, die je gelebt hätten, aber doch nur ein Mensch. Wäre Jesus ein Gott gewesen und hätte er sich als eingeborener einziger Sohn Gottes gefühlt, so wäre sein Opfer kein Opfer gewesen. Wie solle auch ein Mensch den Tod erleiden, der selber von sich wisse, daß er ein Gott und daß er unsterblich sei. Und so war denn das A und O der Darlegung meines Bruders Georg am Familientisch, der auch Carl beiwohnte, daß Jesus ein Mensch und nicht Gottes Sohn wäre.

Niemand versah sich des Eindrucks, den diese Eröffnung auf den damals wohl dreizehnjährigen Bruder Carl machte. Er sprang vom Stuhl, er weinte fast vor Entrüstung und Wut. Aus seinem Munde sprudelten einige Minuten lang die heftigsten Vorwürfe: »Du wirst es büßen! Du wirst es zu büßen haben!« schrie er seinen älteren Bruder an. Was er sage, sei Blasphemie, sei Gotteslästerung, sei verbrecherischer Unglaube. Die Mutter, der Vater waren verdutzt. Dem Vertreter aufgeklärter Ideen blieb die Sprache weg. Schwester Johanna war verzückt wie bei allem, was Carl in den Augenblicken seiner idealistischen Aufschwünge äußerte. Dieser aber schloß, sich in weinender Heftigkeit überschlagend, indem er vor Georg aufstampfte, in einer Wiederholung, die nicht seine Überzeugung, sondern sein heiligstes Wissen verriet: »Ich sage dir, Jesus ist Gottes Sohn!«

Carl wurde allseitig besänftigt und durch die übliche Unwahrhaftigkeit beruhigt, es sei nicht so gemeint.

Was mich betraf, so existierte die Frage damals für mich noch nicht. Ich wußte von ihr sowie auch davon, daß es ein protestantisches und ein katholisches Glaubensbekenntnis gab, aber ich nahm alle diese Tatsachen als das und nichts anderes hin. Alles, was mit Kirche und Religion zusammenhing, ließ mich gleichgültig, außer in einem abergläubischen Sinne. In diesem quälte mich, wie ich schon berichtet, manchmal Furcht vor irdischen Strafen und Höllenfurcht. Meine heimlich summierten Sünden, besonders was Unwahrhaftigkeit betraf, waren zu unübersehbaren Mengen angewachsen. Ich hatte aber die Gewißheit durch das Wort meiner Schwester Johanna, daß sie alle mit einem Male am Tage der Konfirmation mit dem Genuß des Abendmahles hinweggenommen würden.

Ich nahm also in der Frage selbst zwischen Georg und Carl nicht Partei. Persönlich dagegen fand ich mich von dem erwachsenen und denkerischen Wesen Georgs mehr als von Carls Betroffenheit und Entrüstung angezogen. Carls verzweifelte Wehleidigkeit konnte gegen die gesunde, angriffslustige Frische des Bruders Georg nicht aufkommen. Carl rührte mich irgendwie, Georg bewunderte ich.

 

Es scheint mir, daß nach dem Abzug Georgs Johanna mit der Aufsicht über mich in Schuldingen betraut worden ist. Das war eine undankbare Aufgabe, der sie außerdem nicht gewachsen war. Nicht nur hat sie hier auf lange hinaus meine Neigung verscherzt, sondern sie hatte auch allerlei üble Eigenschaften meiner Natur kennenzulernen, mit denen ich mich zur Wehr setzte. Meine Mutter wagte sich nicht an mich, weil ich das Nesthäkchen war, mein Vater schien sich versteckt zu haben oder war von eigenen wachsenden Sorgen um den Bestand des Hauses in Anspruch genommen.

Ich schwanke nicht, mir für diese Zeit alle häßlichen Eigenschaften der werdenden Flegeljahre zuzuschreiben. In dem Bestreben, mich aus der autoritativen Umklammerung meiner zähen Schwester frei zu machen, war mir jedes Mittel willkommen. Manchmal muß ich ein Unhold gewesen sein, was niemand, der mich von ungefähr erblickte, meinem sanften und zarten Wesen zutraute. Ich warf Bücher und Tintenfaß an die Wand, sprang vom Stuhl und lief davon, gleich nachdem meine Schwester mich durch ein Gemisch von Drohungen und Überredungen zur Erledigung meiner Schularbeiten willig gemacht hatte. »Was willst du mich lehren«, schrie ich ihr ins Gesicht, »du bist dümmer als ich!« Mehr als einmal bedrohte ich sie, ging gegen sie vor und drängte die Lehrerin aus dem Zimmer.

Es war mein Dasein, das ich gut fand, mit dem ich so lange zufrieden gewesen und das ich im Grunde bis an mein Lebensende beizubehalten wünschte, das ich mit dem Mut der Verzweiflung verteidigte. Es war die Wut gegen den Zaum, die Kandare, das Kumt, die Zugstricke und den Wagen, die mich zu einem um sich beißenden, bäumenden, ausschlagenden jungen Pferde machte.

Es waren mir noch zwei Jahre bestimmt, bis sich die völlige Zähmung durchsetzen konnte.

 


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